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Zwischen den Zeiten

Von Wolfgang Saur

Zur religiösen Situation der Gegenwart

1931 publizierte Karl Jaspers den Göschenband „Die geistige Situation der Zeit“, in dem Kulturkritik mit der existenziellen Befindlichkeit des modernen, „unbehausten“ Menschen verband. Dort äußert er sich auch zur Religion: „In der Scheinheiligkeit, die das Bewußtsein von Technik und Massendasein als Bewußtheit des Machens aller Dinge erzeugt, ist das Innesein des unbefragten Unbedingten verloren. Religion als der geschichtliche Grund menschlicher Existenz ist wie unsichtbar geworden; die Religion besteht zwar fort, verwaltet von Kirchen und Konfessionen, aber […] nur selten noch als wirksame Lebensenergie.“ Für den „ungeborgenen Mensch“ jenseits der „Substanz stabiler Zustände“ gelte: „Wenn Transzendenz sich verbirgt, so kann der Mensch nur zu ihr kommen durch sich selbst.“1

Solch reflexiver Ernst geht unserer Absicht voraus, die religiöse Lage fragend einzuholen. Freilich: Um die unübersichtliche Lage empirisch beschreiben und metaphysisch verstehen zu können, bedarf es eines Standpunktes, der nicht der streitend konfessionelle sein kann. Religionskunde ist nicht Theologie.

Vormittag beim Buchhändler

Schaut man sich nun nach aktuellen Themen und Perspektiven um, so mag man das buchhändlerische Angebot spielerisch durchmustern. Beim großen Band „Religionsstifter der Moderne“ verblüfft gleich der Untertitel: „Von Karl Marx bis Johannes Paul II.“.2 Treffen wir hier doch nicht bloß auf die Mormonen oder Osho, sondern auch auf Sigmund Freud und Stefan George.
Vertiefen wir uns ins Kapitel über den verstorbenen Papst, klärt sich das Rätsel. Einmal habe Johannes Paul II. den Leidensaspekt zur neuen Grundlage kirchlichen Selbstverständnisses gemacht. Zum anderen lautet die These, habe er die Bedeutung der modernen Medien als erster erkannt und erfolgreich genutzt.
Harmonieverheißend will uns das neue Buch von Willigis Jäger, „Ewige Weisheit“, das „Geheimnis hinter allen spirituellen Wegen“ mitteilen.3 Jäger, Benediktiner und Begründer der „Würzburger Schule der Meditation“, gilt seit langem als Guru im Feld christlicher Spiritualität. Im Dissens mit dem Lehramt und attackiert von konservativen Theologen beider Konfessionen, erhofft er die ‚große Veränderung‘ durch mystische Praxis, weil das „Erwachen“ von Mensch, Gesellschaft und Kosmos eine evolutionäre Dimension habe.4 Seine „sophia perennis“ verbindet christliche Weisheit mit dem japanischen Zen.
Eben ist Olivier Roys jüngstes Werk erschienen. In ihm5 geht der Islamexperte über Europa hinaus. Via Globalisierung und Individualisierung, so seine These, erfolge eine weitgehende Deterritorialisierung und Dekulturation der Religionen im weltweiten Markt der Weltanschauungen. Die bewußte Wahl in einer „multioptionalen“, entgrenzten Situation wird nun Prinzip. Das bestätigt die ältere Auffassung Peter Bergers vom „häretischen Imperativ“6 und spitzt sie aktuell zu.

Religion in der Neuen Ordnung

Instruktiv auch ein Durchblättern der letzten Jahrgänge der Neuen Ordnung. Zahlreiche Beiträge haben Einzelaspekte von Glauben, Theologie, Kirche, Religion und Kultur traktiert. Neben Abhandlungen zum katholischen Christentum manches zum Islam, in kritischer Absicht. Daneben gab es Artikel: über den Geist des Judentums, zu Rudolf Steiner, den Hermetisten der Tradition, über Zivilreligion, altrussische Frömmigkeit, die alte Reichs- und Kaiseridee, zur Säkularisierung; das Prinzip Charisma wurde thematisiert, Mythen Europas gedeutet, der Neue Atheismus, der Religionsforscher Eliade porträtiert und auch die eurasische Weltanschauung, schließlich die PC-korrekte Bibel aufs Korn genommen – also eine ziemliche Bandbreite. Themen, die das links-rechts-Schema meist konterkarieren.

Hegel – Philosoph der Moderne

In seiner Religionsphilosophie hat Hegel die Mensch-Gott-Relation, also Religion, bestimmt und auf die Zeitkrise bezogen: Alle „menschlichen Verhältnisse, Tätigkeiten, Genüsse, alles, was Wert und Achtung für den Menschen hat […] findet seinen letzten Mittelpunkt in der Religion, in dem Gedanken, Bewußtsein, Gefühl Gottes. Gott ist daher der Anfang von allem und das Ende von allem; wie alles aus diesem Punkt hervorgeht, so geht alles in ihn zurück; und ebenso ist er die Mitte, die alles belebt, begeistert und alle jene Gestaltungen in ihrer Existenz , sie erhaltend, beseelt.
In der Religion setzt sich der Mensch in Verhältnis zu dieser Mitte, in welche alle seine sonstigen Verhältnisse zusammengehen, und er erhebt sich damit auf die höchste Stufe des Bewußtseins und in die Region, die frei von der Beziehung auf anderes […] und Endzweck für sich selber ist.“
Dann zeichnet Hegel den epochalen Horizont der Moderne; er kritisiert sie metaphysisch: „Je mehr sich die Erkenntnis der endlichen Dinge ausgebreitet hat, indem die Ausdehnung der Wissenschaften fast grenzenlos geworden ist und alle Gebiete des Wissens zum Unübersehbaren erweitert sind, um so mehr hat sich der Kreis des Wissens von Gott verengt. Es hat eine Zeit gegeben, wo alles Wissen Wissenschaft von Gott gewesen ist. Unsere Zeit hat dagegen das Ausgezeichnete, von allem und jedem, von einer unendlichen Menge von Gegenständen, zu wissen, nur nichts von Gott. […] Diesen Standpunkt muß man dem Inhalte nach für die letzte Stufe der Erniedrigung des Menschen achten“.7

Religion – Was ist das?

Wovon ist überhaupt die Rede? Nun, als es galt, Religion vor dem Tribunal der Aufklärer zu verteidigen, die meinten, jene verschwinde fortschrittsbedingt aus der Welt, hat sich zugleich eine sachliche Erforschung der Religionen etabliert. Die hat mit wechselnden Definitionen gearbeitet. Hier eine kleine Auswahl8 davon:
Friedrich Schleiermacher: Dem Menschen ist die Religion nicht Sache des Verstandes, sondern eine Provinz im Gemüt, ist Anschauung und Gefühl, die Anschauung des Universums. Die Glaubenslehre spricht vom Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Dort heißt es: Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion.
Nachdem Rudolf Otto in seinem Werk „Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“ (1917) das Numinose ins Zentrum gestellt, das mysterium tremendum und das mysterium fascinans aber als Grundkategorien bestimmt hatte, prägte Gustav Mensching die wirkungsmächtige Definition: Religion ist erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen.
Karl Barth hingegen sagte aller „Religion“ den Kampf an. In seiner „Kirchlichen Dogmatik“ (I, 2) wettert er: Religion ist Unglaube; Religion ist eine Angelegenheit, man muß geradezu sagen: die Angelegenheit des gottlosen Menschen. Dagegen setzte er biblisch das Urteil der göttlichen Offenbarung über alle Religion.
Paul Tillich: Religion ist im weitesten und tiefsten Sinne das, was uns unbedingt angeht.
Arnold Toynbee: Religion ist die Antwort des Menschen – seines Fühlens, Denkens und Tuns – auf die Weise, wie er seine Stellung im Kosmos […] erfährt.
Harvey Cox: Was die Religion auch sei, sie verleiht dem Leben Zusammenhang, sie liefert einen Schatz an Sinngebung, verleiht den menschlichen Ereignissen Einheit und leitet Menschen bei ihren Entscheidungen.
Jakobus Wössner formuliert bündig den funktionalen Religionsbegriff:
Religion ist die Thematisierung menschlicher Kontingenz.
Thomas Luckmann: Religion ist das, was den Menschen zum Menschen werden läßt, nicht im Einzelfall, sondern in seiner Sozietät zum Menschen. Der Organismus ‚Mensch‘ transzendiert seine biologische Verfassung.
Entgegen der aktuellen Wendung zu reduktionistischen Konzepten – weg vom Verstehen, hin zur Funktion – sollten wir ausgehen von einem religiösen Apriori im Menschen; von einer religiöser Grundveranlagung, einer irreduziblen Dimension und Struktur seines Bewußtseins. Die wird im Aufwerfen der Sinnfrage offenkundig. Doch ist es im Unterschied zu den anderen Erfahrungs- und Wissenssystemen nur die Religion, die „die Wirklichkeit nicht in abstrakte Einzelaspekte zerlegt, die lediglich ein heterogenes Bild ergeben, in dem der Mensch sich nicht wiedererkennt“. Religion sucht dagegen „die Gesamtheit der Wirklichkeit auf jenen Fluchtpunkt hin transparent werden zu lassen, wo sie ihre Einheit in einem (göttlichen) Grund gewinnt, dem sie sich zugleich verdankt“9.
Auch aus diesem Grund auch stellt sich Religion symbolisch dar. Die Symbole als vorbegriffliche Universalsprache sind ihrer inneren Struktur nach, logisch und ontologisch, tief und weit und elastisch genug, zugleich dem Individuum, der Gemeinschaft und der Institution zu genügen. Der organische, multiple und synthetische Charakter der Symbole, kurz ihre Dialektik, ermöglicht die Verbindung von Seinsstufen, Übersetzung des Innen ins Außen und Reziprozität des Persönlichen und Kosmischen sowie die Vernetzung des Einzelnen mit sozialer Mitwelt.

Zur religiösen Situation der Zeit

Fragen wir nun nach ihr im Ganzen, ergibt sich kein schlüssiges Bild. Unsere Lage ist heterogen, diskontinuierlich, ja widersprüchlich. Wie im konfusen Multikulti lassen sich allenfalls Tendenzen angeben, markante Positionen und Kräfte benennen. „Religion“ ist heute ein unruhiges Feld mit dynamischen Verwerfungen. Schlagen wir eingangs drei neuere Gesamtdeutungen auf. Norbert Scholl, „Religiös ohne Gott. Warum wir heute anders glauben“10, hat die deutsche Alltagswelt als typisch industriegesellschaftliche im Blick. Anschließend an den Befund der außerinstitutionellen, individuell-privaten Frömmigkeit des modernen Menschen, analysiert er dessen religiöse Spuren als Suchbewegungen im Alltag: in der Erfahrung von Literatur, Musik, Kunst.
Umfassender angelegt ist Reiner Preul, der die „Religion in der modernen Gesellschaft“ systematisch zu erfassen sucht.11 Er kennzeichnet (post)moderne Gesellschaften 6-dimensional durch Mobilität, Leistung und Konkurrenz, Erlebnisorientierung, Medialisierung, Individualisierung und Pluralisierung als Risikogesellschaft. Der religiöse Impuls nun äußert sich ganz verschieden: in Kirchenzugehörigkeit, fundamentalistisch, individualisiert und privat, in der Jugendkultur, in Neoreligionen und Sekten oder greift Religiöses in den Medien auf.
Bedeutsam als globale Konflikttheorie dagegen Benjamin Barbers „Dschihad gegen McWorld“.12 In ihm schildert der amerikanische Kommunitarist die Gefahr eines verantwortungslosen Kapitalismus und seiner zynisch enthemmten Konsumkultur. Dieser jetzt globale Hedonismus fordert kulturell-nationale Widerstände und spirituelle Reaktionen, so des Islam, heraus. Jede herrschende Kultur erzeugt ihre eigenen Dissidenten.

Aspekte und Tendenzen: Das Problem der Säkularisierung

In den letzten Jahren hörte man oft, der Säkularisierungsprozess sei beendet, nun komme die „Rückkehr der Religionen“. Tatsächlich hat die profane Alltagswüste der Industriegesellschaft nicht zum Absterben der Religion geführt, sie nicht einmal vollständig privatisiert. Nicht nur kulturell, auch politisch sind Religionen wieder präsent. Doch gleichzeitig laufen die Konsequenzen der Säkularisierung weiter. Es gibt sogar einen Neuen Atheismus, der lautstark die Diskussion dominiert. Wir haben es also mit einer Überlagerung von Tendenzen zu tun, mit einer ungemütlichen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.
Die vielschichtige Säkularisierungsdebatte seit den 1920ern, zu der sich jüngst auch Jost Bauch geäußert hat (NO 3/10), kann hier nicht nachgezeichnet werden. Erinnert sei nur an die Teilnehmer: vor allem Theologen und Soziologen, aber auch Philosophen und Historiker. Positionell entscheidend sind dabei nicht zuletzt konfessionelle Zugehörigkeiten. Evangelische Theologen verhalten sich selten ablehnend. Oft machten sie sich gar zu Anwälten der Profanisierung, die sie biblisch als gottgewollt begründeten13 oder als geschichtliches Ergebnis akzeptierten, das zu einer „religionslosen“ Interpretation des christlichen Glaubens führe.14 Wird Säkularisierung als umfassende Profanierung aufgefaßt, als symbolische Entleerung, Verdrängung nicht nur kirchlicher Instanzen, sondern religiöser Prinzipien überhaupt, als Auflösung der in Gott gebundenen Welteinheit in eine Vielzahl autonomer Segmente, Funktionen und Individuen, so lassen sich im wesentlichen drei Sichtweisen unterscheiden:
1. Eine „linke“, antiautoritäre, die den altjüdischen Ikonoklasmus radikalisiert zur allseitigen Desakralisierung, Zerstörung von Pietät und Aura. Eine politisierte biblische Theologie (Metz) wirkt mit dem antimetaphysischen Impuls zusammen und propagiert eine radikale Diesseitigkeit, Körperlichkeit, Zeitlichkeit, will Aktivität. Weit über den Säkularisierungsdiskurs hinaus sind diese Motive aktuell.
2. Die soziologische Perspektive ist mehr (struktur)analytisch, verdankt sich der Systemtheorie. Säkularisierung ist hier nur eine Funktion des Übergangs zum modernen Organisationsprinzip funktioneller Differenzierung. Deren Dynamik partialisiert und professionalisiert alles und jedes. Sie degradiert die Kirchen zu bloßen Sozialteilnehmern, die Religion aber zur „Funktion“ (Luhmann). Die aber wird so zerstört. Denn allein die Religion ist nicht ausdifferenzierbar, steht sie doch für das Ganze. Das verschwindet nun im Nirwana de-zentrierter Subsysteme.
3. Die dritte Sicht nun wertet und spricht vom Verfall. In der Säkularisierung erleiden wir die „kritische Zersetzung des abendländischen Ordo-Gedankens, der die Vielheit des Seienden in seinem Bezug zueinander wie zum letzten Grund und Ziel des Universums sehen lehrt“.15 Auch diese pessimistische Deutung ist weit verbreitet. Seit der Romantik findet sie sich bei vielen Gruppen, so auch den Integralisten der Tradition.
In einer multizentrischen und multiperspektivischen Welt, die „keine allgemeingültigen kognitiven und normativen Orientierungen als fremdreferentielles Sinnfundament individueller Existenz mehr“16 kennt, kann der einzelne keine stabile Ich-Identität aufbauen. Gott wird selber fraglich.
Tiefer als die politischen Theologen sahen diejenigen, die den analytischen Befund theologisch weiterverarbeitet und auf die existenzielle Verfassung des Menschen angewandt haben. Der vielgerühmte Pluralismus, ins Innere übersetzt, wird nun zum Problem. Seine (Zer-)Streuung chiffriert die gefallende menschliche Natur (ihre „Konkupiszenz“), wie Karl Rahner richtig erkannte.17 So gerät der mental desintegrierte Mensch selbst zum ernsten Hindernis seiner notwendigen Sammlung auf Gott. Seine Existenz wird tief fragwürdig.
Gegenüber der partikularen, subjektiven, differenten Moderne und ihrem instrumentellen Vernunftverständnis plädieren hellsichtige Theologen deshalb wieder für ein holistisches Welt- und Menschenbild und einen integralen Wahrheitsbegriff. Papst Benedikt hat dies oftmals thematisiert; der Protestant Pannenberg hält es in der Sache nicht anders. „Die Chance des Christentums und seiner Theologie ist vielmehr, das reduzierte Wirklichkeitsverständnis der säkularen Kultur und ihres Menschenbildes in ein größeres Ganzes zu integrieren, der reduzierten Rationalität der säkularen Kultur gegenüber eine größere Weite der Vernunft selbst offenzuhalten, zu der auch der Horizont der Gottesbindung des Menschen gehört.“18

Sakralität des Profanen?

Die Religion ist zurückgekehrt, doch die metaphysische Verwüstung hält an. Desto paradoxer, daß nun der umgekehrte Vorgang einer Sakralisierung des Profanen beobachtbar wird. Alltägliche Ereignisse, Situationen, Personen des öffentlichen Lebens werden auratisch gesehen, magisch erlebt und ins „Überirdische“ entrückt. „Religionsförmig“ werden dann Gestalten, Handlungen, Ansprüche.19 Exemplarisch dafür: Konzerne und ihre Produkte, Sport, Fernsehen, Tourismus, Prominente.
Jil Sander etwa beansprucht für sich ein „Credo“, die Leitsätze der Firma gelten als „Bibel“, ihre Kreativabteilung bezeichnet sich als „Kloster“, dessen Mitarbeiter „Apostel“ sind, die in „strenger Askese“ leben usw.20
Offensichtlich sind die Parallelen von Religion und Sport, besonders beim Fußball! „Wallfahrtsähnlich reisen die Fans in Gruppen an. Die Gemeinde“ kleidet sich in „liturgische Gewänder, bevor auf heiligem Rasen im Stadiontempel die alles entscheidende Zeit […] beginnt“. Die Fans erleben „eine Kommunion“, sie leiden und triumphieren mit, „,erleben‘ das ‚Sterben‘ und das ‚Auferstehen‘ der Mannschaft oder jugendlichen Götter“. Selbst die Muster mythischen Erzählens bemächtigen sich des Fußballs: Es gibt Heilsereignisse wie das „Wunder von Bern“ oder Abstürze wie die „Schande von Wembley“.21
Das Fernsehen ist ein „Forum für Schuldbewältigung, Neuanfang, Wunscherfüllung und Lebenssteigerung“. Seine Serien konterkarieren die „Zerrissenheit des Alltags; die Spiel- und Unterhaltungsshows „lassen eine ‚andere‘ Welt“ erfahren. Schließlich haben sie eine identitätsgenerierende Funktion: „Aus Randexistenzen werden Menschen im Scheinwerferlicht.“22
Am greifbarsten schließt der Tourismus an die alten Traditionen religiösen Reisens, nämlich an die der Pilger und Wallfahrer. Stets liegt ein Schema zugrunde: Bruch mit der Alltagswelt, Erreichen eines Ziels und innere Erneuerung.23
Die Transformation einer Prominentenvita zur Heiligenlegende haben wir bei Diana erlebt, der „Prinzessin der Herzen“, deren Tod zu einem Fanal ekstatischer Trauer für Millionen Menschen rund um die Welt wurde. Hat sie ihr Tod doch „erhoben“. Ganz im Sinne Elton Johns, der damals in Westminster Abbey sang: „Nun gehörst du dem Himmel, / und die Sterne buchstabieren deinen Namen.“

Individualisierung

Während die ältere Religionssoziologie mehr den Institutionen galt24, hat sie seit den 1960ern die Individuen selbst, ihre Identitätsbildung und Kulturverhältnisse in den Blick genommen. Thomas Luckmann umschrieb das mit der „unsichtbaren Religion“.25 Dieser Wandel reflektiert nun wichtige Trends der letzten 50 Jahre: Individualisierung, Pluralisierung, Privatisierung und auch Entgrenzung von Religion.
So lassen sich vier Epochen religionskundlicher Reflexion angeben, die den sozialen Wandel seit 1960 beleuchten: 1) Es war vor allem Peter L. Berger, der stets auf die Reziprozität von Pluralisierung/Individualisierung und Säkularisierung hingewiesen hat. Je rasanter der Pluralismus, desto kontingenter jede Position und fragwürdiger jede Option.26 Denn in der sozialen Fragmentierung lösen sich die früher quasi natürlichen Umwelten auf, jene „Plausiblitätsstrukturen“, die unsere Orientierung stützten. In dieser Lage, so Berger, wird der einzelne zur Wahl genötigt, es entsteht ein „Zwang zur Häresie“. 2) Entsprechend der postmodernen Veränderungen im Kulturbereich spricht man seit den 1980er von Hybridformen, so auch im religiösen Sinn. Es waren und sind Reizwörter wie Polyvalenz, Patchwork, Bricolage etc.27 Sie zeigen an, wie notwendig synkretistisch in der stets schiefen Situation des einzelnen Identitätsformierung und private Sinnausstattung geraten, je mehr sie traditionelle Orientierungen entbehren. 3) So spricht man zunehmend von multiplen Identitäten. Eine Berliner Religionskonferenz hat vor wenigen Jahren diesen Begriff ins Zentrum gestellt28 und – wie nicht anders zu erwarten – emphatisch bejaht, so der damalige deutsche Bundespräsident: „Wir merken dabei, wie sehr wir Gemischte sind.“29. 4) Erst neuerdings nun komplettiert Olivier Roy die Beziehung des Individuellen zum Religiösen globalistisch mit den Aspekten der „Dekulturation“ und der „Deterritorialisierung“. War bislang die umgekehrte Frage katholischerseits bedeutsam – wie sich der Glaube bei den außereuropäischen, teils jungen Teilkirchen einwurzeln könne, ob das zu Transformationen führe usw. –, wird nun die Frage umgedreht. „Die Deterritorialisierung hat nicht nur mit der zunehmenden Mobilität von Personen zu tun, sondern vielmehr mit dem Zirkulieren von Ideen, von Objekten der Kultur, von Informationen und allgemein von Konsumgewohnheiten in einem nicht territorialen Raum. Aber damit das religiöse Objekt zirkulieren kann, muß es universal erscheinen, nicht an eine bestimmte Kultur gebunden sein.“ 30 Die kulturelle Entbettung, Medialisierung und Produktformatierung auf dem Markt bedeuten also einen weiteren Entkoppelungsschub seit den 1960ern. Der übersetzt das Problem ins Globale.

Christliches Abendland?

Vor diesem Hintergrund wird die derzeitige Rede vom „christlichen Abendland“ schwierig. Man vernimmt sie wieder verstärkt seit 20 Jahren – seitdem eben die Probleme des Multikulturalismus, der Einwanderung, der Globalisierung und die Sicht auf einen streitbaren Islam sich verstärkt haben. Dabei erschallt der Ruf nach der „abendländischen Christenheit“, nach fester Identität und Geschlossenheit um so bedenkenloser, je mehr die geistige Grundlage erodiert! Doch was implizierte sie? Wohl doch drei Komponenten: das christliche Heil- und Erlösungsversprechen, griechisches Schönheitsideal und hellenistisches Philosophieren, schließlich römische Auffassungen von Recht und Institutionen sowie die Reichs- und Kaiseridee. All dies hat die Kirche geerbt und geschichtlich zur Entfaltung gebracht, dabei als relative Einheit im hohen Mittelalter, was erstmals die deutschen Romantiker erkannten.31 Hoch im Kurs stand die abendländische Einheit in der Zwischenkriegszeit bei Katholiken, als man vor dem Hintergrund sozialer und politischer Zerrüttung besonders den Ordo-Gedanken beschwor.32 Christopher Dawson hat in seinen gehaltvollen Studien die Elemente dieser abendländischen Einheit historisch nachgezeichnet.33 Ein letztes Hoch hatte der substanzielle Einheitsgedanke nach 1945 in diversen Medien und „abendländischen Akademien“. Verbindend wirkten platonische und thomistische Motive. Hierher gehört auch Romano Guardinis einst vieldiskutiertes „Ende der Neuzeit“34, dessen einfühlsame Partien über das Mittelalter plastisch die kosmologische Seins- und Sozialordnung schildern und dabei den theozentrischen Charakter wie den Symbolismus der Kultur hervorheben. Großartig dann seine kulturkritisch gefärbten Abschnitte über den neuzeitlichen Autonomismus, wo vom „Verlust der Mitte“ und der Ortlosigkeit der Existenz die Rede ist.35
Dieser ideelle Rahmen ist uns abhanden gekommen. Der EU-Prozeß, wo er über Bürokratisierung und bloßen Markt hinausgeht, fokussiert allenfalls die Aufklärung für seine ohnehin globalisierten „westlichen Werte“. Mit einem Wort: der Abendlandgedanke ist ruiniert. Woran auch die Wissenschaft kräftig mitbeteiligt ist. Typisch die aktuelle „Religionsgeschichte Europas“ von Christoph Elsas.36 Gleich einleitend unterstreicht der Autor schroff: „Europa existiert ausschließlich als konstruierter Begriff.“37 So sinnig Struktur und Anlage der älteren Europahistoriker, so unübersichtlich hier die Themenfolge. Den Grund findet das in der konzeptionellen Öffnung des Blicks nach außen und innen, zurück wie vorwärts. Ausufernden prähistorische Seiten stehen im neuzeitlichen Teil Kapitel gegenüber wie: „Ausweitung der Ambivalenz gegenüber ‚Zigeunern‘ auf ‚Dunkelhäutige‘“. Dazwischen gibt es kein christliches Mittelalter mehr.

Pluralismus

Uferloser Pluralismus38, soziale Fragmentierung und gnadenlose Relativierung aller kulturellen und religiösen Ansprüche sind uns täglich vertraut. So umfaßt das Handbuch „Religion in Berlin“39 360 religiöse Gemeinschaften! Das öffentliche Vielfaltgerede vom „Reichtum“ ist reiner Nonsens, der nur die Hilflosigkeit verdeckt. Der heutige Pluralismus ist nicht integrierbar. Klappt es nun mit der politischen Neutralisierung nicht, wird der soziale Wettbewerb konfliktträchtig; Identität und Sinn stehen auf dem Spiel.
Eine radikale Antwort hat Norbert Bolz gegeben. „Unsere moderne Welt hat nur einen Funktionssinn zu bieten: Es läuft – ohne ‚Wozu‘ und ohne Ziel. Und ich vermute, unserer Gesellschaft funktioniert gerade deshalb so unwiderstehlich, weil sie sich die Frage nach einem höheren Sinn nicht stellt. Daraus folgt aber: Die Sinnfrage ist eine Fluchtbewegung. Wer ‚Sinnlosigkeit‘ empfindet, leidet […] an der eigenen Freiheit. […] Nach dem Sinn zu fragen heißt, die moderne Gesellschaft nicht zu wollen. So zeigt unsere scheinbar atheistische, hedonistische Konsumgesellschaft deutliche Züge einer neuen Religiosität, die eigentlich eine Flucht aus der Komplexität ist.“40 Seine Thesen verschärfte er im „Kon
sumistischen Manifest“.41 Unverhohlen plädiert er dort für die Betäubung durch Konsum und meint, „daß der Kapitalismus als Exorzismus des ‚ganzen Menschen‘ die großartige Kulturleistung erbracht hat, die Leidenschaften und ihre Ungewißheiten in den Griff zu bekommen.“42
Die instrumentelle Vernunft verdampft also die Werte und symbolischen Potentiale und ersetzt sie durch den bloßen Marktmechanismus. „Was sich im Umlauf befindet, darf nicht mehr durch symbolischen Gehalt beschwert sein, und das gilt als erstes für die Anerkennung von Identität. […] Die kapitalistische Ordnung“, so Alain de Benoist, „ist nihilistisch, insofern als sie mit der Vernichtung des Symbolischen die Welt endgültig entzaubert und somit in der Negierung sämtlicher Bedeutungshorizonte mündet.“43
Also überlagern sich heute das multikulturelle Problem (die Relativierung kultureller Inhalte und religiöser Wahrheiten) und die generelle Neutralisierung von Bedeutungsgehalten im vollständig funktionellen Marktsystem. Diese Ordnung stellt den Menschen als „symbolisches Wesen“ (Ernst Cassirer) radikal in Frage. Das wird eklatant im Fall der Religion, weil der Glaube Wahrheitsansprüche geltend macht; er kann sich mit einer subjektiven Funktion nicht begnügen. So ist der Konflikt mit der liberalen Ordnung programmiert: „Für den Frommen sind die westlichen Werte schon deshalb unattraktiv, weil sie sich, inhaltlich völlig unbestimmt […] bei näherem Hinsehen ganz in Verfahrensfragen auflösen: Variabilität, Offenheit, Andersheit, Dialogizität. […] Mit anderen Worten: Die neutralen Prinzipien des Liberalismus können nur operieren, wenn sie zuvor geopfert haben, was die Leute wirklich interessiert. Vor allem der liberale Spitzenwert der Diversität entwertet alle anderen Werte.“44 Diese Entwertungslogik jedoch ruft den Fundamentalismus auf den Plan.

Fundamentalismus

1991 war er noch „ein neues Wort in aller Munde“.45 Für die liberalen Autoren, für die Gesellschaften stets „offen“ und Wissen rein „hypothetisch“ ist, war das Urteil klar: „Fundamentalismus ist Flucht ins Radikale, oft verbunden mit Gewalt, unter Verweigerung von hinreichender Realitätswahrnehmung, von Rationalität und Freiheitsentfaltung für Individuum und Gesellschaft […] eine Regression aufgrund hintergründiger Ängste.“46 Für sie war nach dem Verschwinden der Religion eine Rückkehr nicht vorgesehen. Also suchten sie „Dämme gegen die fundamentalistische Flut gegen die Aufklärung zu errichten“, gegen „alle Geltungsansprüche, die keine überzeugenden Gründe ins Feld führen können“, gegen die „neu belebte Versuchung der Regression in die Geborgenheit und Unmündigkeit“.47 „Fundamentalistisch“ gilt dieser linksliberalen Fraktion nun alles, „was sich kulturell als ‚absolute Gewißheit, fester Halt, verläßliche Geborgenheit und unbezweifelbare Orientierung‘ artikuliert“.48
Wir sehen: Modernisierung wird nicht einfach als „Emanzipation“, „Autonomie“, „Freiheitsgewinn“, „Chance“ etc. erfahren werden – oft genug wird sie erlebt als kulturelle Enteignung, weltanschauliche Kolonialsierung, rationale Dominanz und pseudomoralischer Zwang. Entsprechend den Formen äußerer, direkter politischer Kolonisierung, gibt es solche des Inneren. Überall erleben Menschen die Moderne auch als aggressiven Überfall. Die große Vertreterin der verstehenden Methode in der heutigen Religionswissenschaft, Karen Armstrong, hat von dieser Grundeinsicht aus ihre Studie, die vielleicht beste zum Thema, über die fundamentalistischen Bewegungen verfaßt.49 Ihre These lautet, daß alle Fundamentalismen einem „bestimmten Muster“ folgen: „Sie sind kampfbereite Formen von Spiritualität, die als Reaktion auf eine als krisenhaft erlebte Situation entstanden sind. Sie führen Krieg gegen Feinde, deren säkularistische Überzeugungen und Strategien der Religion als solcher feindlich gesinnt sind.“ Sie fürchten die Vernichtung ihrer bedrohten Identität und schaffen sich eine Gegenkultur. „Schließlich holen sie zum Gegenschlag aus und versuchen dem Heiligen […] wieder zu seinem Recht zu verhelfen.“50
Die Neigung des Fundamentalismus zu dualistischen Lösungen erscheint apokalyptisch gesteigert, wenn zwei mondiale Parteien zum Weltkampf gegeneinander antreten. Das ist der Fall bei chiliastischen Sekten und Freikirchen, im gnostischen Weltbild des italienischen Magiers Julius Evola51 oder auch einer christlichen dualistischen Geschichtsphilosophie52, in der Gott und Antichrist miteinander um die Herrschaft ringen.
Was nun die ganze Esoszene anlangt, das subkulturelle System von west-östlichen Weisheitslehren, Okkultkitsch und Wellnessangeboten, so bleibt sie als „sanfte Verschwörung“ ihres privaten Charakters wegen sozial gut angepaßt und diesseits öffentlicher Auseinandersetzung. Ganz im Unterschied zu den konfliktfreudigen Fundamentalisten, die Wahrheitsansprüche offensiv vertreten und auch den institutionellen Rahmen der Realität kritisch in Frage stellen.
Für sie alle ist die Entzweiung der Wirklichkeit problematisch. Das betrifft zumal die Muslime, weil der Islam grundsätzlich die Einheit von Glaube und Politik/Gesellschaft verlangt. Gott soll in allem herrschen, er gibt den zentralen Letztbezug. Dieses theokratische Prinzip wirkt auch auf Nicht-Muslime anziehend.

Der Mensch:
das transzendierende Wesen

Das moderne System der Trennungen, der unendlichen Aufsplitterung, die Differenz von technischem Verfügungswissens und Sinnproduktion, macht wohl das westliche Mobilmachungsmodell so erfolgreich. Seine Dezentrierungsdynamik wirkt bildlich gesprochen als Zentrifuge. Man kann das mit Othmar Spann als ein konsequent liberales System auffassen. Individualismus in diesem Sinn faßt das abstrakt einzelne als konstitutive Grundform von allem auf. Gott, Religion oder Kirche, früher zentrales Regulativ der Gesellschaft, sind in diesem System ausgeblendet. So entsteht eine Polarisierung von synthetischem und analytischem Lebensmodell oder auch zweier Freiheitsbegriffe: Autonomie versus Bindung.
Da der Rationalismus historisch gesiegt hat, steht für den Frommen die Welt auf dem Kopf. Die ihm angebotene Realitätsveranstaltung verhüllt die wahre Wirklichkeit. Ihm ist gleichsam, als sei im herrschenden System das Licht Gottes regelrecht eingeschlossen. Diese Welt symbolisiert das Göttliche nicht mehr, sondern steht rein für sich. Das ist der Transzendenzverlust. Er verflacht alle Dinge, nimmt den Erscheinungen ihre Tiefe.
Die systemisch nicht vollziehbare Integration fällt nun als psychosoziale dem einzelnen zu. Der wird, im Schnittpunkt zahlloser Funktionskreise und systemischer Codes, überfordert. Das ist die moderne Hamlet-Situation, über die vor 200 Jahren Friedrich Schlegel seinem Bruder schrieb.53 Der moderne Mensch sei auf die Realität gespannt wie auf eine Folterbank, in alle vier Richtungen gezogen und gerissen.
Genau aber die Überfüllung oder Zerreißung der multiplen Identitäten im allgemeinen Tohuwabohu bringt das Einheits-Motiv zum Durchbruch. Der Mensch verlangt den absoluten Punkt, den Fokus schlechthin. Dieser müßte gleichsam als Goldfaden durch alle Erscheinungen gehen, als Prinzip freilich sich jeder inhaltlichen Bestimmung verweigern, da es sie alle unendlich übersteigt. Einer heillos überfüllten Welt gegenüber muß die umfassende Einheit ganz leer sein.
Sie fragt nichts anderes als Gott. Das ist die Wiederentdeckung der Transzendenz. Doch wo sie aufsuchen, wenn die Realität uns mit Inhalten überschüttet?
Einer Realität, in der die einzelnen (Sub-)Systeme, die sich vermehren wie der Brei im Märchen, ganz autokratisch regieren, sich willkürlich vernetztend (was zu Katastrophen wie dem Finanz-Tsunami führt!), anstatt sich theokratisch einer höheren Vernunft einzufügen.
Das Corpus Hermeticum gibt den Hinweis: „Nachdem die Einheit denn der Anfang und Wurzel von allen Dingen ist, so ist dieselbe auch in allen Dingen als eine Wurzel und Anfang: Ohne den Anfang ist nichts, der Anfang aber ist auch niemals anders als aus sich selbst. Denn der Anfang gebiert die anderen Dinge, und dieser Anfang ist von keinem anderen Anfang geboren.“54 Hier ist also das mystische Prinzip entdeckt, der philosophische Gottesgedanke, der doch zugleich ganz praktisch ist. Das Transzendente ist eine Dimension; sie tut nicht sich nicht erst auf am Ende der Zeiten, sondern hier und jetzt. Eschatologie ist immer.
Diese Einsicht bringt den Menschen, an und für sich ein Nichts, in seine Bestimmung zurück: Der Mensch ist ein zur Transzendenz berufenes Wesen, das transzendierende Wesen. Aber nicht im modernen Überbietungswahn, auf dem Schlachtfeld der Horizontalen. Vielmehr tritt er wieder in die Vertikale ein.
Die historisch verdrängte und von der modernen Gesellschaft systematisch ausgeschlossene Theokratie soll als inneres, als ubiquitäres Prinzip neu aufgerichtet werden!
Ein Religionsforscher hat dem Rechnung getragen. Es war Thomas Luckmann, der unter „Menschwerdung“ „die grundlegende Religiosität als eines Transzendierens der biologischen Natur des Menschen“ versteht.55
Im Rahmen seiner metaphysischen Anthropologie kommt Karl Rahner zur gleichen Einsicht. „Der Mensch ist die absolute Offenheit für Sein überhaupt, […] der Mensch ist Geist. Die Transzendenz auf Sein überhaupt ist die Grundverfassung des Menschen. […] Er ist dadurch allein Mensch, daß er immer schon auf dem Weg zu Gott ist […] denn er ist immer die unendliche Geöffnetheit des Endlichen zu Gott.“56 Dann aber wandelt sich auch unser Bild der Wirklichkeit: „Das Ewige ist nicht außerhalb, sondern im Zeitlichen. Das Zeitliche hat deshalb keine Existenz in sich selbst. Dies nicht zu erkennen, ist der Grundirrtum des Menschen. Wenn die Welt als das gesehen wird, was sie wirklich ist – nämlich abhängige Wirklichkeit –, ist sie keine Illusion. Die Illusion besteht vielmehr darin, daß wir einen unrealen Begriff von der Wirklichkeit haben“ und nur die Hülle für real halten.57

Anmerkungen

1 Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit. (1931) Berlin 1979. S. 130 ff.
2 Alf Christophersen/Friedemann Voigt (Hrg.): Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II. München 2009.
3 Willigis Jäger: Ewige Weisheit. Das Geheimnis hinter allen spirituellen Wegen. München 2010.
4 Ders.: Westöstliche Weisheit. Visionen einer integralen Spiritualität. Stuttgart 2007; S. 107.
5 Olivier Roy: Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen. München 2010.
6 Peter L. Berger: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1980.
7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. Frankfurt 1995; S. 11–44.
8 Entnommen: Otto Betz: Religiöse Erfahrung. München 1977; V. Drehsen/W. Gräb/
B. Weyel (Hg.): Kompendium Religionstheorie. Göttingen 2005.
9 Gerhold Becker: Die Ursymbole in den Religionen. Graz 1987; S. 36.
10 Darmstadt 2010.
11 Reiner Preul: So wahr mir Gott helfe! Religion in der modernen Gesellschaft. Darmstadt 2003.
12 Benjamin Barber: Coca Cola und Heiliger Krieg. Wie Kapitalismus und Fundamentalismus Freiheit und Demokratie abschaffen. München 2000.
13 Friedrich Gogarten: Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem. Stuttgart 1953.
14 Das klassische Dokument ist der Brief Bonhoeffers an Eberhard Bethge vom 30. April 1944: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. (1951) München 1965; S. 131 ff.
15 Franz Xaver Arnold: Der neuzeitliche Säkularismus. In: Heinz-Horst Schrey: Säkularisierung. Darmstadt 1981; 139–148.
16 Uwe Schimank: Funktionale Differenzierung und reflexiver Subjektivismus. Zum Entsprechungsverhältnis von Gesellschaft- und Identitätsform. In: Soziale Welt 1985/4. Göttingen 1985; S. 447–465.
17 Karl Rahner: Theologische Reflexionen zum Problem der Säkularisation (1967). In: Schrey, Säkularisierung; S. 255–285.
18 Wolfhart Pannenberg: Christentum in einer säkularisierten Welt. Freiburg/Brg. 1988; S. 75.
19 Michael Nüchtern: Die Weihe des Profanen – Formen säkularer Religiosität. In: Panorama der neuen Religiosität. Gütersloh 2001; S. 21–95.
20 Ebd.; S. 36.
21 Ebd.; S. 39.
22 Ebd.; S. 40.
23 Ebd.; S. 41. Vgl. besonders: Udo Tworuschka: Sucher, Pilger, Himmelsstürmer: Reisen im Diesseits und Jenseits. Stuttgart 1991.
24 Klassisch: Gustav Mensching: Soziologie der Religion. Bonn 1947.
25 Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion (1967). Frankfurt/M. 1991.
26 Peter Gross: Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt a. M. 1994.
27 Heinz-Günter Vester: Soziologie der Postmoderne. München 1993.
28 Wolfgang Schultheiß (Hrsg.): Zukunft der Religionen. Religion, Kultur, Nation und Verfassung. Multiple Identitäten in modernen Gesellschaften. Frankfurt/M. 2003.
29 Ebd.; Johannes Rau: Eröffnungsrede. S. 25–32.
30 Olivier Roy; S. 26.
31 Theodor Steinbüchel: Christliches Mittelalter. (1935) Darmstadt 1968.
32 Paul Ludwig Landsberg: Die Welt des Mittelalters und wir. Bonn 1923.
33 Christoph Dawson: Die Gestaltung des Abendlandes. Eine Einführung in die Geschichte der abendländischen Einheit. Leipzig 1935.
34 Romano Guardini: Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung. Würzburg 1951.
35 Besonders gefährdet ist heute das hellenische Erbe, besonders Platons Geist. Seit dem 19. Jahrhundert dauert dieser dämonische Kampf gegen Ideenlehre, gegen das metaphysische Projekt überhaupt. Gegen Enthellinisierung des Christentums auf katholischer Seite steht vor allem der Papst selber. Als leicht nachvollziehbarer Text sei hier genannt: Benedikt XVI.: Glaube, Vernunft und Universität. Ansprache in Regensburg vom 12. September 2006 auf: www.vatican/va/.
36 Christoph Elsas: Religionsgeschichte Europas. Religiöses Leben von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart. Darmstadt 2002.
37 Ebd.; S. 11.
38 Eine bündige Systematisierung und Zusammenschau bietet das ausgezeichnete, leider nicht neue Standardwerk von Reinhart Hummel, das die äußeren und inneren Pluralisierungsvorgänge in Europa verschränkt:
Religiöser Pluralismus oder christliches Abendland? Herausforderung an Kirche und Gesellschaft. Darmstadt 1994.
39 Nils Grübel/Stefan Rademacher: Religion in Berlin. Ein Handbuch. Berlin 2003.
40 Norbert Bolz: Die Sinngesellschaft. Düsseldorf 1997; S. 45.
41 Norbert Bolz: Das konsumistische Manifest. München 2002.
42 Ebd; S. 13.
43 Alain de Benoist: Identität als Opfer der Entsymbolisierung im Zeichen des Marktes. In: Ders.: Wir und die anderen. Berlin 2008; S. 110–118.
44 Bolz; a. a. O.; S. 31.
45 Stephan H. Pfürtner: Fundamentalismus. Die Flucht ins Radikale. Freiburg/Brg. 1991.
46 Ebd.; S. 105.
47 Gottfried Küenzlen: Religiöser Fundamentalismus
– Aufstand gegen die Moderne?
In: Hans-Joachim Höhn (Hrg.): Krise
der Immanenz – Religion an den Grenzen
der Moderne. Frankfurt/M. 1996; S. 50–72.
48 Ebd.; S. 62.
49 Karen Armstrong: Im Kampf um
Gott. Fundamentalismus in Christentum,
Judentum und Islam. München 2004.
50 Ebd.; S. 11 f.
51 Julius Evola: Revolte gegen die moderne
Welt (1934). Stuttgart 1935/Interlaken
1982.
52 Friedrich Romig: Der Sinn der Geschichte.
Regin 2011.
53 Willi Koch (Hrsg.): Briefe deutscher
Romantiker. Leipzig 1938; S. 382.
54 Hermestis Trismegisti: Erkenntnis der
Natur und des darin sich offenbarenden
Gottes (Ed. 1789). Haar 1995; S. 36 (Hervorhebungen
von mir; W. S.).
55 Hubert Knoblauch: Thomas Luckmann:
Die Privatisierung der modernen unsichtbaren
Religion. In: Drehsen, Kompendium;
S. 242.
56 Karl Rahner: Hörer des Wortes. München
1963; S. 63 ff.
57 Michael von Brück: Mystik im Hinduismus.
In: Die Religionen der Welt. Leipzig
2007; S. 217–39.

 

 
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