Für die Erörterung des Themas kann die Erinnerung an einige scheinbar unwichtige Details nützlich sein. Bismarck erlebte 1859 als Botschafter in St. Petersburg, wie Zar Alexander II. auffiel, daß in einer Wiese stets ein Posten stand, aber sogar der die Wache führende Offizier nicht wußte, was dort bewacht wurde. Nach viel Forschen ergab sich: Zarin Katharina d. Gr. hatte in jener Wiese ein Schneeglöckchen gesehen und wollte, daß es nicht gleich gepflückt wird. So bewachten sommers und winters, tags und nachts Posten eine seit vielleicht hundert Jahren verwelkte Blume. Ähnliches findet sich in der Geschichte anderer Staaten1 und meist wird es kritisiert. Aber Bismarck bewertete die Blumenwache als „Ausdruck der elementaren Kraft und Beharrlichkeit, auf denen die Stärke der Russen beruht.“2
Während Bismarck also Rußland mit Respekt und Achtung gegenüberstand, hat Karl Marx Preußen als „Vorderrußland“, als russischen Satelliten bezeichnet.3 Doch schon Napoleon urteilte, die geographische Lage bestimme das Schicksal der Völker. Preußen und Deutschland lagen und liegen in der Mitte Europas, hatten in Ost und West starke Nachbarn und mußten an einer Seite Freunde haben, sonst waren sie tödlich gefährdet. Das hat sich 1914 und 1941 furchtbar gezeigt.
Nicht nur Thomas Mann vertrat die Auffassung, „deutsche und russische Menschlichkeit sind einander näher“ als andere, und Deutsche könnten sich mit Russen eher verständigen „als mit der Mentalität der Franzosen“.4 Ähnlich auch Großadmiral von Tirpitz, der Baumeister der deutschen Flotte5, und Ludendorff, der bedeutendste deutsche Heerführer des Ersten Weltkrieges.6
Diese Details zeigen, daß früher viele Deutsche eher Rußland als dem „Westen“ zuneigten, und auch viele Russen waren lange und gern in Deutschland.
Zurück zu Bismarck: Er urteilte 1892, daß es nie einen Grund für einen deutsch-russischen Krieg geben könne.7 Dennoch kam es bald zu schweren Spannungen. Die Ursachen liegen in beiden Ländern. Panslawisten träumten von der Befreiung der Slawen in Österreich-Ungarn. Das stellte Deutschland vor eine schwierige Wahl, denn Österreich war sein einziger sicherer Verbündeter. Vor allem orthodoxe Russen träumten zudem von Konstantinopel. In dieser Lage haben die deutschen Politiker nicht nur Österreich, sondern auch die Türkei fast bedingungslos gestützt. Ein weiterer Fehler: Getreu der Englandliebe des deutschen Bürgertums, aus dem er stammte, ist ab 1909 Reichskanzler v. Bethmann Hollweg blind und unbelehrbar England hinterhergelaufen.8 Mithin hieß es bald in Petersburg, der Weg nach Konstantinopel führe durch das Brandenburger Tor.9 Das hat über das russisch-französische Bündnis 1892 und die englisch-französische Entente 1904 zum englisch-russischen Ausgleich 1907 geführt. Damit war unter britischer Führung das Pulverfaß geladen, das bei der geringsten Erschütterung detonieren konnte – wie 1914 geschehen.
Der Krieg hat dann den Deutschen und den Russen nichts Gutes gebracht. Doch es ist erwähnenswert, daß beide Seiten den Krieg zuweilen mit einer Ritterlichkeit geführt haben, über die viel zu berichten der Raum verbietet. Wenigstens zwei Beispiele: Ludendorff urteilte, viele russische Truppen hätten sich 1914 in Ostpreußen „musterhaft“ verhalten und die 1. russische Armee habe „strenge Zucht“ gewahrt.10 Bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk 1917/18 aßen beide Delegationen gemeinsam und verbrachten so auch die arbeitsfreie Zeit.11
Anders behandelten 1918 in Compiégne und 1919 in Versailles die Westalliierten die deutsche Delegation. Bei ihnen herrschte eine Stimmung wie in einem Kreuzzug. Schon 1915 befanden der Lordbischof von London und der Erzbischof von Canterbury, Primas der anglikanischen Kirche, der Krieg gegen Deutschland sei der größte Kampf, „der je für das Christentum“ geführt worden sei, es sei ein wahrhaft „Heiliger Krieg“ (holy war). „Wir sind auf der Seite der Christenheit gegen den Antichrist“, so daß der Christ nur zu wählen hat „zwischen den nailed (durchnagelten) Händen Christi und der mailed (gepanzerten) Faust der Deutschen.“12 Das gemeinsame Gebet des amerikanischen Parlaments am 10. Januar 1918 schlägt sogar noch bedenklichere Töne an.13
Nach dem Ersten Weltkrieg folgte Deutschland mit dem Vertrag von Rapallo sowie der Versailles umgehenden militärischen Zusammenarbeit mit Rußland seinen Interessen.14 Auch für die Sowjetunion war die Zusammenarbeit beim Aufbau ihrer Armee nützlich, zumal sie fast nur blutende Grenzen hatte, weil überall Völker sich aus Rußland gelöst hatten oder lösen wollten.
Doch 1930 beginnt der Umbau dieser Armee zu einer Offensivarmee mit der Aufstellung der ersten Panzerbrigade der Welt. 1932 werden die 11. und 45. Schützendivision zu den zwei weltweit ersten Mechanisierten Armeekorps mit jeweils 500 Panzern umgegliedert.15 Parallel hierzu läßt Stalin die erste Luftlandetruppe der Welt aufbauen; schon 1936 springen bei einem Manöver 1000 Fallschirmjäger ab, und in dem so gewonnenen Raum landen Transportflieger weitere 5000 Soldaten.16 Zur gleichen Zeit werden die Bestimmungen für Eisenbahnmaterial geändert. Fortan dürfen nur Waggons beschafft werden, die leicht von der russischen Breitspur auf die mitteleuropäische Spur umgebaut werden können, und die Bahnhöfe erhalten Anweisung, wie breit und wie hoch sie Waggons beladen dürfen, die auf mitteleuropäischen Gleisen fahren werden.17 Das läßt nur einen Schluß zu: Stalin rüstet für einen Krieg bis nach Mittel- und Westeuropa hinein.
Aber zum Krieg ist es noch weit, denn im Sommer 1939 reist eine britisch-französische Delegation nach Rußland, um Stalin für ein antideutsches Militärbündnis zu gewinnen. Marschall Woroschilow bietet 10.000 Panzer, 136 Infanterie- bzw. Kavalleriedivisionen sowie 5.000 Flugzeuge an. Dann fragt er, was England bietet. Doch die Briten weichen aus. Aber Woroschilow beharrt. Die Briten müssen schließlich bekennen: sie haben sechs Divisionen zu bieten. Sogar der französische Hauptmann Beaufre, später als General berühmt, fand das britische Angebot „lächerlich“.18
Damit steht der Hitler-Stalin Pakt vor der Tür. Keine deutsche Regierung, Diktatur oder sonstwas, konnte dem Entstehen eines zweiten englisch-russisch-französischen Paktes tatenlos zuschauen. Folglich schickt nun auch Hitler eine Delegation nach Moskau. Von zwei Seiten umworben, hat Stalin mit Hitler abgeschlossen, der mehr bot, als Englands Festlandsdegen zu werden. Vor allem bot er die von acht Millionen Weißrussen und Ukrainern19 bewohnten Räume, die Polen entgegen dem Willen des Völkerbundes (Curzon-Linie) 1920/21 erobert hatte und mit allen Mitteln polonisierte. Und als es 1941 doch zum Krieg kommt, braucht Stalin nicht zu fürchten, daß ihn die Westmächte so allein lassen wie zuvor die Tschechen und Polen.
Damit zum deutsch-russischen Krieg 1941. Zuerst ein Hinweis auf die Quellen. Über die deutschen Quellen braucht man nicht lange zu sprechen, da sie jahrzehntelang in der Hand vor allem Englands waren. Die Briten aber haben ihre eigenen Archive schon bei drittklassigen Fragen beider Weltkriege von Dokumenten gesäubert, die das gewünschte Urteil nicht stützten.20 Ebenso haben sie die deutschen Dokumente behandelt.21 Zeitzeugen können kaum befragt werden, denn von den Entscheidungsträgern hat keiner den Krieg oder die folgenden Prozesse überlebt.
In Rußland wurde das überaus wichtige Präsidialarchiv Stalins erst Anfang des 21. Jahrhunderts nur für einen Historiker geöffnet – und zwar mit Besymenski für einen Verfechter der These eines deutschen Überfalls auf ein Rußland, das nur den Frieden wollte.22 Zudem stellt sogar Valentin Falin, ebenfalls Verfechter der These eines deutschen Überfalls, fest, daß die sowjetischen Archive gelegentlich gründlich gesäubert worden sind.23 Man kann also nur an die Vollständigkeit der russischen Archive glauben, wenn man annimmt, Stalin sei mit unbequemen, aber wichtigen Dokumenten ehrlicher umgegangen als die Briten sogar mit unwichtigen. Viele Entscheidende haben zwar den Krieg überlebt, aber unter Stalin und dessen Nachfolgern mußten sie wohl vorsichtig sein.
Die Quellenlage für die Ursachen des Krieges 1941 ist demnach schlechter als wohl für jeden Krieg der Neuzeit. Man kann deshalb nur aufzeigen, was wahrscheinlich ist und keinen gesicherten Tatsachen widerspricht.
Zuerst zu Hitler. Er war fanatisch antibolschewistisch. Zudem war er, wohl auch wegen der 763.000 Hungertoten als Folge der Blockade im 1. Weltkrieg24, überzeugt, Deutschland brauche mehr Lebensraum. Zwar hielt er noch Ende 1937 die Eingliederung von Österreich und der Tschechei für die nächsten ein bis drei Generationen als ausreichend. Doch die Quelle, das Hoßbach-Protokoll, ist etwas fragwürdig. Deshalb ist wichtig, daß Hitler nach seinem Pakt mit Stalin jede Spionage gegen Rußland verbot25, obwohl die russische Spionage weiterlief;26 nicht einmal das wertvolle rumänische Material durfte gekauft werden.27 Zudem wurden ab dem Winter 1939/40 750.000 Volksdeutsche aus der Sowjetunion in das Reich umgesiedelt. Das alles ist kaum mit der These zu vereinbaren, Hitler habe schon 1939/1940 einen Lebensraumkrieg gegen die Sowjetunion geplant.
Nach dem Frankreichfeldzug beauftragt Hitler das OKW zu untersuchen, wie ein Krieg gegen die Sowjetunion zu führen sei. Dem Auftrag folgen aber keine Maßnahmen oder Taten und keine ausgearbeiteten Pläne; zu einem Entschluß ist es demnach noch weit. Doch für Hitler muß entscheidend sein, daß er den Krieg im Westen nur kraftvoll führen kann, wenn er seinen Rücken sicher weiß. Hier bringt der Molotow-Besuch im November 1940 die Wende. Was Molotow fordert, ist praktisch Unterwerfung in einen durch wirtschaftliche Abhängigkeit noch verschärften Satellitenstatus.28 Zudem ist offensichtlich, daß die Zeit gegen Deutschland arbeitet. Die USA waren nur noch theoretisch neutral; ihr baldiger Kriegseintritt schien wahrscheinlich. Nach Erfüllung von Molotows Forderungen würde Stalin Schiedsrichter Europas sein. Er konnte Deutschland weiter erpressen oder aber weiter kämpfen lassen, um als lachender Dritter mit unverbrauchter Kraft in die Schlußphase eines Krieges einzugreifen. In dieser Lage hat der Generalstab Hitler überzeugt, binnen weniger Monate könne die Wehrmacht die Linie Astrachan–Archangelsk gewinnen – eine kaum begreifliche Unterschätzung der Tapferkeit der russischen Soldaten, des Könnens der Generale und der Leistungsfähigkeit der Industrie.29
Für Stalins Lagebeurteilung 1940/41 mußte entscheidend sein, wie die Lage nach einem deutschen Sieg oder Remis im Westen sein werde. Die Antwort war einfach – und unheildrohend. Die Sowjetunion würde dann allein Hitlers Imperium gegenüberstehen. Das war keine erfreuliche Aussicht, zumal auch Rußlands Rücken nicht sicher war, denn erst kürzlich hatten russische und japanische Truppen in der Mongolei gegeneinander gekämpft.30 Zudem hatten die Deutschen erbeutete französische Akten publiziert, die belegten, daß der deutsche Angriff auf Norwegen dem britischen Angriff nur um Haaresbreite zuvorgekommen war und daß nur der deutsche Sieg 1940 Franzosen und Briten gehindert hatte, die russischen Ölfelder im Kaukasus und die Öltanker im Schwarzen Meer anzugreifen.31 Stalin wußte mithin, wie die Alliierten mit der russischen Neutralität umgehen würden, wenn sie ihnen im Wege stand. Und sie würden wohl, falls Hitler nach einem Remis oder Sieg die Sowjetunion angreifen würde, nicht erneut zum Schwert greifen.
Folglich verbessert Stalin Rußlands Lage. Als der Frankreichfeldzug im Mai 1940 beginnt, sind die deutschen Truppen in Frankreich gebunden; im Osten stehen nur sechs Divisionen.32 Sofort rüttelt Stalin an vielen Grenzpfählen. Karelien und Polens ukrainische Gebiete hat er schon. Nun stellt er neue Forderungen an Finnland und im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes besetzt er die baltischen Staaten. Er fordert von Rumänien die Bukowina, stachelt Bulgarien auf, die 1919 an Rumänien sowie Griechenland verlorenen Provinzen zurückzufordern und nimmt diplomatische Beziehungen zu Jugoslawien auf.33 Was Stalin getan hätte, wenn, wie weithin erwartet, der Frankreichfeldzug gescheitert wäre, weiß niemand.
Parallel hierzu wird der Aufbau einer panzerschweren Armee verstärkt fortgesetzt.34 Stalin und seine Berater hatten aus dem Spanischen Bürgerkrieg geschlossen, große Panzerverbände seien nicht zu führen. Also hatten sie die inzwischen vier (oder sieben?) MechKorps im November 1939 aufgelöst; an ihre Stelle traten 15 Panzerdivisionen. Doch der Frankreichfeldzug zeigt den Fehler. Sogleich befiehlt Stalin die Neuformierung von 9 MechArmeekorps, deren jedes mit nun über 1.000 Panzern unerhört panzerschwer ist.35 Die Aufstellung weiterer (11?, 21?) Korps wird 1941 befohlen, kann aber bis zum deutschen Angriff wegen Mangels an Panzern und Fachpersonal nicht abgeschlossen werden.36 Zudem verwendet die Rote Armee zahlreiche Panzer in selbständigen Truppenteilen, 1940 (zusätzlich zu den damaligen 15 Panzerdivisionen von je 275 Panzern) 35 PzBrigaden zu je 258, 4 PzBrigaden zu 156 Panzern, 20 PzRegimenter bei Kavallerie- und 98 PzBataillone bei Infanteriedivisionen. Parallel hierzu werden die Industrie und die Armee durch Einberufung von 800.000 Reservisten hochgefahren.37
Für den Juni 1941 schwanken die russischen Angaben zwischen 21.000 und 24.000 Panzern, dabei 1.850 T 34 und KW 1,38 denen kein deutscher Panzer gewachsen ist.39 Zum Vergleich: Die Wehrmacht hat die Sowjetunion mit 2.650 Panzern und 1.000 MG-Trägern (Pz I und Pz II) angegriffen.40 Zudem läßt Stalin 1940 zwei weitere Luftlande-Armeekorps aufstellen,41 im Frühsommer 1941 noch einmal fünf.42 Schließlich läßt er 1941 in der Ukraine vier Schützen- zu Gebirgsdivisionen umgliedern und verlegt die 192. Gebirgsdivision vom Kaukasus in die Ukraine.43 Dabei kann er nur die Karpaten im Visier gehabt haben – doch die liegen in Ungarn und in Rumänien.
Diese Armee war Mitte 1941 aufmarschiert. In den vier westlichen Militärbezirken stehen längst 170, nach anderen Quellen 191 Divisionen.44 Im Juni 1941 marschiert die 2. strategische Staffel von 50, nach anderen Darstellungen 66 Divisionen auf, die aus Fernost und aus dem Kaukasus herangeführt werden. Dahinter werden vier Reservearmeen herangeführt. Mithin spricht sogar Gorodetsky von insgesamt 240 Divisionen, die, ihm zufolge, die Westgrenze der Sowjetunion „sichern“ sollen.45 Wie eilig es Stalin hat, zeigt sich daran, daß er im Winter 1940/41 zahlreiche Offiziere (4.000?) aus dem GULAG entläßt und wieder in ihre alten Funktionen einsetzt.46
Alledem muß hinzugesetzt werden, daß der deutsche Aufmarsch dem russischen zeitlich mit großem Abstand folgt.
Während des Frankreichfeldzugs stehen im Osten sechs Divisionen 100 russischen Divisionen gegenüber
Im Juli 1940 wird die 18. Armee – 26 Divisionen – in den Osten verlegt
Im Oktober 1940 folgt die 12. Armee. Sie wird zusammen mit der 18. Armee der Heeresgruppe B unterstellt, die nun über 33 Divisionen verfügt
Im März 1941 stehen 47 Divisionen im Osten des Reiches – und nun beginnt der Aufmarsch für den Feldzug gegen die Sowjetunion.
Erst im Juni wird das deutsche Ostheer mit der Zuführung von 12 Panzer- und 12 motorisierten Infanteriedivisionen angriffsfähig
Schließlich hat die Wehrmacht mit etwa 150 Divisionen angegriffen.47 Der russische Aufmarsch war zudem ein Offensivaufmarsch. Die stärksten Panzerverbände liegen weit vorn, in den Räumen um Bialystok sowie Lemberg/Lwow. Ersatzteil- und Munitionsdepots liegen näher an der Grenze als die Truppenteile, die sich hieraus versorgen sollen. Flugplätze liegen nur 25 oder 15 Kilometer von der Grenze entfernt.48 Zudem hat Stalin keine tiefgestaffelten Verteidigungsanlagen wie 1943 bei Kursk anlegen lassen.
Zur Frage eines sowjetischen Angriffstermins: Fast alles, was hierzu gesagt wird, läßt sich je nach Wunsch auslegen. Beispiel: der spätere Marschall Bagramian berichtet, daß die Divisionen der 2. Staffel Mitte Juni in grenznahe Räume vorgeführt wurden.49 Man kann das als Zeichen werten, der Angriff der Sowjetarmee habe bald beginnen sollen. Man kann ebenso schließen, Stalin habe die Verteidigung stärken wollen, denn die Russen hatten den deutschen Aufmarsch längst erkannt.50
Als Antwort auf die Frage nach den Ursachen des deutsch-russischen Krieges ergibt sich folgende Vermutung:
Hitler war (erst) seit dem Molotow-Besuch zum Krieg entschlossen. Nicht um einem Angriff Stalins zuvorzukommen, sondern weil er erkannt hatte, daß Stalin einen deutschen Sieg im Westen nicht zulassen konnte und deshalb sogar auf Seiten Englands in den Krieg eingreifen könnte51
Folglich sah er den Angriff auf die Sowjetunion als Befreiung aus einer aussichtslosen Zwangslage. Stalin hatte eine Armee von atemberaubender Stärke aufgebaut
Diese Armee war aufmarschiert
Es war ein Offensivaufmarsch. Für einen baldigen Angriffsbeginn spricht, daß der Aufmarsch auch einen Diktator unter Druck setzte; er würde die Kampfkraft der Truppen ruinieren, wenn er sie noch im Winter in den Wäldern kampieren ließ. Gegen einen baldigen Angriffsbeginn sprechen die erst im Frühjahr 1941 ergangenen Befehle für neue Panzer- und Luftlandedivisionen.
So weit Tatsachen. Aber wir wissen nicht,
-ob Stalin und seine Berater die Reorganisation der Panzer- Großverbände als abgeschlossen beurteilten
-ob sie im Juni 1941 den Aufmarsch als abgeschlossen ansahen
-am wichtigsten: wir wissen nicht, wie Stalin die politische Lage beurteilte
-mithin wissen wir nicht, ob Stalin warten wollte, bis Deutsche und Briten sowie die USA wieder gegeneinander kämpften, was vielleicht seinen Interessen am besten gedient hätte.
Zur deutschen Besetzung Rußlands und zur russischen Besetzung Deutschlands nur wenige Bemerkungen, denn die Tatsachen sind weithin bekannt. Es sind für beide Völker dunkle Kapitel, die aber zuweilen noch dunkler gezeichnet werden, als gerechtfertigt ist.
Bei der deutschen Besetzung ist Schlimmes geschehen, vor allem für den jüdischen Bevölkerungsteil. Aber nicht nur Schlimmes. Nach einer Untersuchung des Verhaltens der russischen Bevölkerung im befreiten Raum um Stalingrad urteilte 1943 sogar der NKWD, die deutschen Truppen hätten sich so mustergültig verhalten, daß die Bevölkerung weithin mit den Deutschen paktiert habe.52
Zur russischen Besetzung: Vieles deutet darauf, daß die Truppe als Folge der Kriegspropaganda der Führung aus der Hand geglitten ist und die Führung bald ein anderes Verhalten durchgesetzt hat, das zudem ihren Interessen auch besser diente. Das zeigt die öffentliche Exekution russischer Mörder oder Vergewaltiger durch Standgerichte des NKWD in besetzten deutschen Städten.53 Zudem sah der Verfasser 1946 in Libau und Leningrad über Kriegsgefangenenlagern Banner mit der Aufschrift: „Die Hitlers kommen und gehen. Das deutsche Volk aber bleibt bestehen. Stalin“ und von diesem Banner wird auch aus anderen Lagern berichtet.54 Zur gleichen Zeit überboten sich die Staaten dessen, was die Deutschen heute „westliche Wertegemeinschaft“ nennen (sollen) in Plänen, den deutschen Staat für immer zu vernichten;55 zum Glück für die Deutschen wurden sie sich nie einig, wer die besten Beutestücke, etwa das Ruhrgebiet, nehmen dürfe56 und was sie mit dem Rest machen sollten. Bald trat die Furcht vor der Sowjetunion hinzu, gegen die sie die Unterstützung einer Bundesrepublik brauchten.
Zudem meinten die Westalliierten, das deutsche Volk sei seit Luther, mindestens aber seit Bismarck, so verkommen, daß sie die Deutschen umerziehen müßten, obwohl sie doch ebenfalls Grund hatten und haben, eigene Taten nachdenklich zu betrachten. Bezeichnend für ihr Denken ist eine Arabeske: Als Churchill im März 1945 erstmals deutschen Boden betrat, öffnete er seine Hose und urinierte demonstrativ vor seinem ganzen Gefolge – und mit diesem Benehmen war er nicht der Einzige.57
Anders dachten die Russen und dabei vermutlich sogar die Stalinisten. Bezeichnend: Als 1943 die deutsch-italienischen Truppen in Nordafrika kapitulierten, weigerte sich der alliierte Oberbefehlshaber Eisenhower, den deutschen Generalobersten v. Armin und den italienischen General Messe zu empfangen, denn er führe einen „Kreuzzug“.58 Aber nach der Kapitulation von Stalingrad 1943 empfingen russische Generale Feldmarschall Paulus und 1945 nach der Kapitulation 1945 mehrfach Stab und Kommandeur der gegenüber-liegenden deutschen Division.59 Sie achteten so eine bis zum 1. und 2. Weltkrieg überall selbstverständliche ritterliche Geste.
Dennoch haben wir Deutschen Grund, uns mit Anklagen gegen Verbrechen der ehemaligen Kriegsgegner zurückhalten. Auch wir haben Blut an den Händen, und schon Goethe reimte: Ein jeder kehre vor seiner Tür /Und rein ist jedes Stadtquartier. Wohl aber ergibt sich ein Urteil über diejenigen, die fragwürdige Taten der Westalliierten herunterspielen oder gar verschweigen und sich bei Kritik an ihren eigenen Vätern kaum genug tun können.
Nach 1945 errichteten die Sieger in den Resten Deutschlands zwei Staaten, die ihren jeweiligen Grundsätzen entsprachen. Die Bundesrepublik entsprach mit einer bemerkenswerten Ausnahme den deutschen Wünschen; Frankreich, ein Zentralstaat, brachte entgegen dem Entwurf der deutschen Herrenchiemsee-Konferenz einen deutlichen (überstarken?) Föderalismus ins Grundgesetz; das Motiv ist leicht zu erraten. Hingegen errichtete die Sowjetunion in ihrer Besatzungszone mit der DDR einen Staat, dessen am Marxismus-Leninismus-Stalinismus orientierte Struktur und Realität dem Wunsch vieler, wenn nicht fast aller Bewohner widersprach.
Eine gute Stunde des deutsch-russischen Verhältnisses kam erneut 1989/1990. Von den Westalliierten unterstützten nur die USA die Wiedervereinigung. Anders die französische und die britische Regierung, die doch stets das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Freiheit sowie Demokratie auf ihre Fahnen schrieben und schreiben; sie taten alles ihnen Mögliche, die DDR zu stabilisieren und die Sowjetunion von einer Zustimmung zur Wiedervereinigung zurückzuhalten. Der Schlüssel lag also bei der Sowjetunion, die zudem den Preis der Wiedervereinigung zu zahlen hatte, nämlich, wie sich bald herausstellte, Aufnahme auch des DDR-Gebietes in die NATO und Rückzug der russischen Truppen aus der DDR. Doch die Russen haben diesen Preis gezahlt. Dem Regierungschef Gorbatschow haben die Deutschen gedankt und danken ihm noch heute. Aber die Frage bleibt, ob sich die russische Zustimmung zur Wiedervereinigung auch auf das Verhältnis Deutschlands zu „den“ Russen ausgewirkt hat.
Damit zur heutigen Zeit. In den deutschen Medien werden russische Politiker wie Putin und Medwedjew oft negativ beurteilt. Dabei fällt auf, daß Rußland meist nur defensiv auf diese Kritik reagiert. Immerhin mischen sich die USA im Zuge der Monroe-Doktrin seit bald 200 Jahren ununterbrochen und oft militärisch in ihrem Vorfeld ein60 und, typisch für das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, haben sie die Monroe-Doktrin über ganz Südamerika ausgedehnt. Aber wenn Rußland sich gegen Aktivitäten der USA und der NATO in seinem viel bescheidener definierten Vorfeld wehrt, wird Rußland kritisiert und der Opponent unterstützt. Das wurde besonders deutlich 2006 und 2008 beim Konflikt Rußlands mit Georgien.61 Es wiederholte sich, als Rußland von der Ukraine Preise für Öl und Gas forderte, die sich Weltmarktpreisen wenigstens vorsichtig annäherten. Die Ukraine gebärdete sich als von Rußland erpreßte Demokratie, fand im Westen sofort weithin Unterstützung und dabei sogar durch Herrn Barroso, Präsident der EU-Kommission.62
Hieran zeigt sich, daß die „westlichen“ Werte, die westlich definierten Menschenrechte und die angloamerikanische Form der Demokratie im Westen religiösen Rang zu gewinnen drohen. Ihnen gegenüber spielen Tatsachen eine nachgeordnete Rolle und oft werden sie unterdrückt. Zudem können so Maßnahmen, die dem Eigeninteresse dienen, als Maßnahmen zum Schutz von Demokratie sowie Menschenrechten drapiert werden.
Insgesamt kann das zu einer Kopie der im Westen seinerzeit kritisierten Breschnew-Doktrin führen, der zufolge die weltweite Unterstützung sozialistischer Gruppen Pflicht aller sozialistischen Staaten war. Schon Churchill argumentierte, die angloamerikanische Einheit werde „unaufhaltsam dahinrollen, segenspendend und majestätisch wie der Mississippi.“63 Ähnlich mehrere amerikanische Präsidenten und ausführlich begründend Brzezinski.64 Bei kreuzfahrerisch-ideologischer Aufladung sind die Folgen
vorhersehbar: Einmischung in die innersten Angelegenheit fremder Staaten weltweit, notfalls Krieg und sogar Folterkammern.
Rußland ist den Deutschen heute geographisch ferner gerückt. Dennoch gilt weiterhin, was schon Napoleon wußte: die Geographie bestimmt das Schicksal der Völker. Folglich wird wohl weiterhin gelten, was schon Bismarck erkannte: Die glücklichen Zeiten für die Deutschen und die Russen sind diejenigen gewesen, in denen sie einander mit Achtung begegneten und nicht Ideologen und Kreuzfahrern gefolgt sind. Wohl dem, der begründet annehmen kann, hierfür seien alle Voraussetzungen gegeben.
1 Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, zit. nach Ausgabe Stuttgart, Cotta, 1905, Band 1, S. 252 f. – Besuchern wurde nach dem 2. Weltkrieg an der britischen Artillerieschule öfters das Beziehen einer Stellung durch eine Batterie vorgeführt. Das lief stets vorbildlich ab, doch schließlich fiel auf, daß bei jedem Geschütz ein Kanonier steif wie ein Stock stand und nichts zu tun hatte. Lange Suche zeigte: Als die Artillerie noch Pferde hatte, gehörten zu jedem Geschütz sechs Mann, von denen einer die Pferde zu halten hatte. Inzwischen war die Artillerie motorisiert worden., doch den Pferdehalter gab es noch immer, und da er nichts zu tun hatte, stand er stramm da und versuchte, so einen guten Eindruck zu machen. (A. Jay: Management and Machiavelli. Penguin Books, London 1970, S. 99). – 2. Beispiel: Bismarck hatte aus nur kurzfristig gültigen politischen Gründen 1866 angeordnet, ein Kanonenboot an einer bestimmten Stelle der Elbe nahe Hamburg zu verankern. Das Boot lag kriegsbereit und mit Besatzung noch 1872 dort, schlief still vor sich hin und illustrierte so, was wohl öfters geschieht: Der Befehl kam von höchster Stelle – er war also wichtig – es war schon „immer“ so gewesen – also sollte man nicht viel fragen – und schließlich wird der Grund vergessen : F. Uhle-Wettler: Alfred von Tirpitz in seiner Zeit, 2. Auflage Graz, Ares Verlag, 2008, S. 44 f.
2 Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Stuttgart, Cotta, 1905, Band I, S. 295.
3 E. Engelberg, Bismarck, Band II, Berlin 1990, S. 178.
4 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Fischer TB 1988,, S. 430.
5 F. Uhle-Wettler, Tirpitz, S. 360 ff.
6 F. Uhle-Wettler: Erich Ludendorff, 2. Aufl. Berg, Vohwinckel-Verlag, 1996, S. 169 f.
7 Bismarck, a. a. O., S. 250.
8 F. Uhle-Wettler, Tirpitz, S. 360 ff., 392 f., 400 f.
9 Ausführlich hierzu Gregor Schöllgen: Imperialismus und Gleichgewicht 1871–1914. München, Oldenbourg, 1984, bes. S. 202 ff. (Kapitel E); D. Lieven: Russia and the Origins of the First World War, London, 1983..
10 F. Uhle-Wettler: Ludendorff, S. 150. Ähnlich die amtliche deutsche Darstellung: Reichsarchiv, Der Weltkrieg 1914– 1918, 14 Bände, Berlin 1925 ff., Band II, S. 326 ff. – Ebenfalls erwähnenswert: Nach der Schlacht von Tannenberg 1914 gestatten die Deutschen der Witwe des Oberbefehlshabers der 2. russischen Armee, General Samsonow, dicht hinter der Front wochenlang nach der Leiche ihres gefallenen Mannes zu suchen und sie schließlich durch die Front nach Rußland zu überführen: A. Noskoff: Der Mann, der Tannenberg verlor, Berlin 1938, S. 96 ff.
11 Gemeinsamkeit nur, bis Trotzki die Leitung der russischen Delegation übernahm, s. hierzu sowie allgemein zu Brest-Litowsk: F. Uhle-Wettler: Erich Ludendorff, S. 306 ff.; auch: Die Aufzeichnungen des Generalmajors Hoffmann, Berlin 1929, S. 207, 293; vor allem die Dokumente: Brest-Litowsk – Ausgewählt und eingeleitet von Winfried Baumgart und K. Repgen. Göttingen, Vandenhoek 1969.
12 M. Veale: Advance to Barbarism – The development of total warfare from Serajevo to Hiroshima, London 1968, S. 132; A. Hoover: God, Germany and Britain – A study in clerical nationalism, New York 1989, S. 24 f., 51 ff.
13 Congressional Record of the second session of the sixty-fifth Congress of the United States of America, Vol. LVI, part 1, S. 761, Washington D. C. 1918. – Das Gebet ist zu lang und vielleicht inhaltlich auch zu bedenklich, in einem Aufsatz zitiert zu werden; ungekürzt zitiert bei F. Uhle-Wettler: Erich Ludendorff in seiner Zeit, 2. Aufl. Berg S. 206, sowie in ders.: Alfred von Tirpitz in seiner Zeit, 2. Aufl. Graz, Ares Verlag 2008, Fußnote 892. In Werken deutscher Berufshistoriker ist das Gebet nicht zu finden.
14 M. Zeidler: Reichswehr und Rote Armee 1920–1933, Beiträge zur Militärgeschichte, hrsg. vom MGFA, Band 36
15 J. Milsom: Die russischen Panzer, Stuttgart 1974, S. 45; R. Poirier und A. Conner: The Red Army Order of Battle, Presidio (USA), 1985, S. 156, 265 f., 280.
16 R. Böhmler: Fallschirmjäger, Bad Nauheim, 1961, S. 10.
17 W. Post: Unternehmen Barbarossa – Deutsche und russische Angriffspläne 1940/41, Hamburg 1995, S. 38 ff., 366 ff.
18 F. Uhle-Wettler: Höhepunkte und Wendepunkte der deutschen Militärgeschichte, 3. Auflage Graz 2006, S. 259 f.; aus französischer Sicht und als Teilnehmer an den Verhandlungen: R. Beaufre: Le drame de 1940, Paris 1965, S. 148 f. Auch V. Falin, Die Zweite Front – Die Interessenkonflikte in der Anti-Hitler Koalition, München 1995, S. 90 ff. Ebenso G. Shukow: Erinnerungen und Gedanken, dt. Berlin 1969, S. 220 ff. Aus den Protokollen der Besprechungen zitiert ausführlich Lew Besymenski: Sonderakte Barbarossa, Stuttgart 1968.
19 Auszug aus der Geschichte, hrsg. von Karl Ploetz, 26. Auflage, Ploetz-Verlag, Würzburg 1960, S. 1079.
20 Hierbei auch Dokumente, die gezeigt hätten, wie es zur Auslieferung der Wlassow-Soldaten, zusätzlich auch des deutschen Rahmenpersonals (u. a. General v. Pannwitz) und sogar jener uralten Russen gekommen ist, die nie Bürger der Sowjetunion gewesen und längst Bürger anderer Staaten geworden waren (Krasnow): N. Tolstoy: Victims of Yalta, London 1978, hierzu auch die Rezension von R. – D. Müller in Militärgeschichtl. Mitteilungen (fortan zitiert als MGM), hrsg. vom Milgeschichtl. Forschungsamt (fortan MGFA) 2/1978.
21 Zahlreiche Beispiele mit Quellenbelegen in F. Uhle-Wettler: Die Ursachen des Rußlandfeldzuges – Präventivkrieg oder unprovozierter Überfall? in: Otto Scrinzi (Hrsg.): Nationale Zukunft und Verantwortung, Graz 2001 sowie in Theologisches – Katholische Monatszeitschrift, Jahrgang 31, Nr. 7/8, Juli/August 2001.
22 Lew Besymenski: Stalin und Hitler – Das Pokerspiel der Diktatoren, dt. Berlin 2002; auch ders.: Sonderakte Barbarossa, Stuttgart 1968 (rezensiert MGM 1/69, S. 208).
23 V. Falin, a. a. O., München 1995, S. 10 ff.
24 Zahlen des Reichsamtes des Inneren, zitiert bei G. Michaelis (Reichskanzler a. D.): Für Staat und Volk, 2 Bände, Berlin 1921, S. 269; Th. Nipperdey: Deutsche Geschichte, II, Frankfurt 1985, S. 885; A. Harvey: Collision of Empires –Britain in three World Wars, London 1992, S. 299.
25 W. Post, a. a. O., S. 227; H. Höhne: Canaris – Patriot im Zwielicht, München 1976, S. 430 ff.
26 Gorodetsky 1999, S. 81 ff.; W. Korowin: War die faschistische Aggression ein Überraschungsüberfall?, dt. in: Sowjetunion heute – Nowosti: Kommentare, Berichte, Informationen, Köln 1990 Nr. 9, S. 1 ff.
27 Höhne, a. a. O., S. 431.
28 Ph. Fabry: Die Sowjetunion und das Dritte Reich 1933–1941, Stuttgart 1971, S. 230 ff.; L. Besymenski: W. Molotows Berlin-Besuch 1940 im Licht neuer Dokumente, in: MGM 57/1 (1998). Was Stalin glaubte, fordern zu können, zeigt ein fast unglaubliches Detail: Nach dem Besuch Molotows, am 25. 11. 1940, fixierte Stalin seine Forderungen noch einmal schriftlich. Hier forderte er eine vertragliche Verpflichtung, Rußland bei der Errichtung von Militärbasen an den türkischen Meerengen zu unterstützen. Falls, wie doch anzunehmen, die Türken sich wehrten, müßten „Deutschland, Italien und die Sowjetunion übereinkommen, die erforderlichen militärischen (…) Maßnahmen durchzuführen.“ Fabry, a. a. O., S. 264; kurz erwähnt bei Gorodetsky (Übersetzung): Die große Täuschung -Hitler, Stalin und das Unternehmen Barbarossa, Berlin 2001, S. 118; Faksimile-Abdruck bei A. Naumann: Freispruch für die Wehrmacht, Tübingen, Grabert, 2005, S. 28.
29 MGFA: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg (die amtliche deutsche Darstellung), IV: Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart 1983, S. 56 ff., 191 ff. – Noch am 12. Tag des Feldzugs notierte der Chef des Generalstabs Halder in seinem Tagebuch, der Feldzug sei gewonnen, er müsse nur noch beendet werden: Post, a. a. O., S. 311 ff.
30 Alvin D. Cox: Nomonhan, 2 Bände, Stanford (USA), 1985; Edward Shea: Nomonhan: Japanese-Soviet Tactical combat, Leavenworth (USA), 1981; G. Shukow, a. a. O., S. 183 ff.
31 G. Kahle: Das Kaukasusprojekt der Alliierten 1940, Opladen 1973; H.-J. Lorbeer: Westmächte gegen die Sowjetunion 1939–1941, Freiburg 1975; H. Bartel: Frankreich und die Sowjetunion 1939–1940, Stuttgart 1986, S. 320 ff..; Günther Deschner: Bomben auf Baku – Kriegspläne der Alliierten gegen die Sowjetunion 1939/1940, Schnellroda, Edition Antaios, 2009; Günter Kahle: Transkaukasien 1939/40, in: MGM 2/74, S. 97 ff.
32 V. Heydorn: Der sowjetische Aufmarsch im Bialystoker Balkon bis zum 22. Juni 1941, München 1989, S. 71; MGFA, S. 201 ff.
33 Hierzu G. Ueberschär: Hitler und Finnland 1939–1941, Wiesbaden 1978, S. 179 ff.; A. Hillgruber: Sowjetische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg, 1979.
34 Den 1932 aufgestellten zwei MechArmeekorps folgten bis 1939 zwei, nach anderen Autoren fünf weitere. A. Moldenhauer: Die Reorganisation der Roten Armee, in: MGM 55 (1996), S. 131 ff., rechnet für 1939 nur mit vier MechArmeekorps. Einem Befehl Stalins folgend, wurden dann 1940 neun und bis 1941 insgesamt 29 MechAKs aufgestellt. Diese neuen Korps hatten eine Planstärke von 1000 Panzern – eine Stärke, die bis 1941 bei vielen nicht erreicht werden konnte. – M. Parrish (Formation and leadership of the Soviet mechanized corps in 1941, In: Military Affairs, April 1983, S. 63 ff.) rechnet bis 1940 nur mit vier MechAKs. Conner/Poirier, a. a. O., hingegen führen auf: 1. MechAK 1936 in Kiew, 11. 1932 in Leningrad, 16. 1939 im ehemaligen Polen, 20. 1938 im Transbaikal. 25. 1938 im Raum um Kiew, 25. 1932 ebendort aufgestellt bzw. eingesetzt – also insgesamt sechs MechAKs. Für den 22. Juni 1941 geben sie 31 MechAKs an Nr. 1–28, 30, 39 und 45. Shukow (a. a. O.) gibt für 1936 an: vier MechAKs zu je zwei MechBrigaden, einer Schützen und einer MG-Brigade sowie Flaktruppen, dazu weitere sechs selbständige MechBrigaden, weitere 15 MechRegimenter der Kavalleriedivisionen sowie 80 weitere Panzerbataillone bei der Schützendivisionen. – Die Unterschiede der Angaben ergeben sich vermutlich aus der zeitweiligen Auflösung von MechAKs und der damit verbundenen Zuweisung ihrer Panzer an andere Truppenteile und der Wiederherstellung der aufgelösten Korps 1940. Detaillierte Angaben über „Sowjetische Mechanisierte Korps zu Beginn des Russlandfeldzuges“(29 AK) und der Wiederherstellung der MechAKs nach dem deutschen Frankreichfeldzug, zudem Gliederungsbilder aller Typen von Großverbänden bei Heydorn, a. a. O., Anlagen. – Viel Material zur Entwicklung der Roten Armee bei K. Mehner und J. Stanek: Die Armee unter dem Roten Stern – Die mil. Kräfte der UdSSR, Osnabrück 1999. Sie geben für 1941 insgesamt 29 MechAKs an (Nummer 1–28 und 30, Seite 188 ff.). Wichtig zuletzt auch H. Magenheimer: Entscheidungskampf 1941 – Sowjetische Kriegsvorbereitungen, Aufmarsch, Zusammenstoß, Bielefeld 2000.
35 Einzelheiten bei B. Fugate: Operation Barbarossa – Strategy and tactics on the eastern front, 1941, Presidio (USA) 1984, S. 36, sowie Appendix A; auch Fugate rechnet für den Juni 1941 mit 29 MechKorps.
36 Parrish, a. a. O.; MGFA, S. 56 ff.; Shukow, a. a. O., S. 244.
37 Einführung der dreijährigen Wehrpflicht, Dreischichtenbetrieb und Siebentagewoche in den Rüstungsbetrieben (D. Wolkogonow: Stalin – Triumph und Tragödie, Düsseldorf 1989, S. 503); Teilmobilmachung: Schukow, S. 242 f. – Shukow zufolge war die Masse der 800.000 Reservisten für die Truppen in den grenznahe Bezirken bestimmt. Dennoch sollen die dort bereits stationierten 170 Divisionen trotz einer Personalverstärkung von etwa 4000 Mann pro Division nur eine Stärke von 8000 bis 9000 Mann erreicht haben, also nicht kriegsbereit gewesen sein. Dann müßten allerdings diese Divisionen vor der Teilmobilmachung kaum Personal gehabt haben, und es bleibt rätselhaft, wie sie überhaupt in die westlichen Militärbezirke verlegt werden konnten (Planstärke einer Schützendivision 14 700 Mann. Die deutschen InfDivisionen hatten etwas mehr Personal (17 600), weil sie mehr Versorgungs- und Nachschubtruppenteile hatten („Abholprinzip“) als die russischen Divisionen, denen Nachschub von der Armee oder vom Korps durch deren Truppenteile zugeführt wurde.). Weiteres läßt an der angegebenen Zahl zweifeln: Die Gesamtstärke dieser (personell noch immer unterbesetzten) 170 Divisionen von 6.000 bis 9.000 Mann ergibt maximal 1,4 Millionen Soldaten. Andererseits sollen aber in den Westlichen Militärbezirken bei Kriegsausbruch 2,7 Millionen Soldaten stationiert gewesen sein (s. die DDR-amtliche Darstellung des 2. Weltkriegs: Deutschland im Zweiten Weltkrieg, (Ost)Berlin, Akademie-Verlag, 1976, II, S. 35). Das läßt sich mit den aus Shukow zu ermittelnden Zahlen von 1,4 Millionen Soldaten in den Divisionen nicht vereinbaren, sogar wenn man für Korpstruppen und Luftwaffe außerordentlich hohe Zahlen annimmt. Damit wird eine wichtige These der Verfechter eines Überfalls auf eine nicht kampfbereite, weil personell weit unterbesetzte Armee fragwürdig. S .a. MGFA, S. 72.
38 MGFA, S. 62. J. Kirshin, Generalmajor und Stv. Leiter des Instituts für Militärgeschichte des russischen Verteidigungsministeriums gibt 1991 23.000 Panzer an: Die sowjetischen Streitkräfte am Vorabend des Großen Vaterländischen Krieges, in B. Wegner (Hrsg.): Zwei Wege nach Moskau – Vom Hitler-Stalin-Pakt zum Unternehmen Barbarossa, München 1991, S. 406 ff. Die deutschen Pz 1 trugen nur 2 MG, die Pz 2 eine 2 cm-Kanone, waren also beim Kampf gegen Feindpanzer wertlos.
39 Militärakademie Frunse, Lehrstuhl für Geschichte der Kriegskunst: Die Entwicklung der Taktik der Sowjetarmee im Großen Vaterländischen Krieg, dt. Berlin 1961, S. 61 ff.
40 Das DDR-amtliche „Deutschland im 2. Weltkrieg“ nennt (S. 25) 4300 Panzer, aber ohne Quellenangabe. MGFA, a. a. O., nennt 3650 Panzer und Sturmgeschütze (S. 74), detailliert nach Typen S. 185.
41 Shukow, a. a. O., S. 250 f.
42 Suworow, Eisbrecher, S. 132 ff.
43 Suworow, a. a. O., S. 188; für die 58., 96. und 192. Gebirgsdivision bestätigt durch Poirier/Conner, a. a. O.; auch Ph. Fabry: Die Sowjetunion und das Dritte Reich, Stuttgart 1971, S. 359, aus den Erinnerungen Bagramians zitierend
44 Dabei mehr als 13.000 Panzer und 8700 Flugzeuge: MGFA, S. 68, dabei 112 Divisionen innerhalb von 150 km von der Grenze: MGFA, S. 62; V. Gobarev: Krieg an der sowjetisch-deutschen Front – Fakten und Zahlen, zit. nach Sowjetunion heute (Hrsg.): Kommentare, Berichte, Informationen – Informationen der Presseagentur Nowosti, Köln, 1990, Nr. 9, S. 6 ff.
45 Gorodetsky, a. a. O., S. 301; vorzügliche Darstellung des Aufmarsches bei Post, a. a. O., S. 289 ff.; auch MGFA, S. 71 ff. sowie die Rezension in MGZ 60 (2001), S. 558 ff.
46 Gorodetsky, a. a. O., S. 165
47 Zusammengestellt nach Fabry, a. a. O., S. 386; MGFA, S. 206, 217 f., 266 ff.; H. Magenheimer: Zum dt. – sowjet. Krieg 1941 – Neue Quellen und Erkenntnisse, in: Österr. Militärische Zschr. 1/1994; ders.: Präventivschlag? in Deutsche Militärzeitschrift 12/1998; W. Post, a. a. O., S. 244 ff.
48 V. Heydorn, a. a. O., S. 79 ff., 113 f.; 213 ff.
49 V. Heydorn, S. 127 f.
50 Chruschtschows Urteil: „Wurden wir überrascht? (…) Zu behaupten, daß wir einen deutschen Angriff nicht erwartet hätten, ist einfach dumm (…) Niemand, der auch nur eine Unze politischen Verstand hat, sollte glauben, daß wir hineingelegt wurden, daß wir von einem verräterischen Überfall überrascht wurden.“ (Khrushchev Remembers, Boston, London 1990, zit. nach W. Post: Unternehmen Barbarossa, Hamburg 1996, S. 14). Wenig bekannt ist, daß die doch nur für den internen Gebrauch, nicht für die Propaganda bestimmten Kriegstagebücher der deutschen Großverbände sehr, sehr häufig von Grenzverletzungen durch russische Luft- und Erdaufklärung berichten . Beispiel PzGr 1, Abt. Ia, Nr. 260/41 geh. Kdos, nur für Chefs.
51 W. Shirer zitiert Hitler aus einer Besprechung mit dem Oberbefehlshaber der Marine: „Ein deutscher Sieg ist untragbar für Rußland.“ (The rise and the fall of the Third Reich, TB London 1964, S. 968). W. Post zitiert Hitler mit der Äußerung, ihm sei „völlig“ klar, daß nach einem Sieg Deutschlands (im Westen) die Lage Rußlands „sehr schwierig“ sein werde. Das müsse zu der Überlegung führen, Rußland zu beseitigen, „ehe es sich mit England zusammentun kann“ (Post, a. a. O., S. 187, 199). Auch MGFA, S. 203.
52 „Sonderbericht über das Verhalten der Jugendlichen in den besetzten Bezirken des Stalingrader Gebietes“ des Leiters der NKWD des Stalingrader Gebiets vom 15. 4. 1943, in: A. Epifanow/H. Mayer: Die Tragödie der deutschen Kriegsgefangenen in Stalingrad von 1942–1956 – nach russischen Archivunterlagen, Osnabrück, Biblio, 1996, S. 149 ff.
Der Bericht legt dar, daß „die konterrevolutionären Elemente von der Wehrmacht massenhaft zur aktiven verräterischen Tätigkeit herangezogen worden sind“ – „Die meisten Jugendlichen zeigten sich (…) als nicht standhaft und feige; sie gingen einfach auf die Seite des Feindes über (…), und es gab sogar offizielle Eheschließungen.“ Als Ursache nennt der NKWD-Bericht die „mustergültige“ Disziplin der Wehrmacht.
53 Heinz Höhne: Der Krieg im Dunkeln. Macht und Einfluß des dt. und russ. Geheimdienstes. München, Bertelsmann, 1985, besonders S. 519.
54 C. v. Witzendorff: Erinnerungen, Selbstverlag 1993, S. 117.
55 Churchill unterrichtet im Januar 1944 das Kabinett über das, was unter „unconditional surrender“ zu verstehen sei, dabei „daß Deutschland endgültig in eine Anzahl verschiedener Staaten aufgebrochen werden müsse. Ostpreußen und das Deutschland ostwärts der Oder müßten für immer abgetrennt und die Bevölkerung abgeschoben (shifted) werden“ (Churchill, The Second World War, Band 4, The Hinge of Fate, Boston 1950, S. 690). Aber das russische Angebot einer neutralen Wiedervereinigung 1952/53 ging von einem aus den Resten des Reiches gebildeten Gesamtstaat aus.
56 Documents Diplomatiques Français 1945, hrsg. vom frz. Außenministerium, Paris 1998. de Gaulle forderte (Document Nr. 73) Abtrennung des gesamten linksrheinischen Deutschlands sowie eines rechtsrheinischen Streifens von Deutschland und dessen Besetzung sowie Kontrolle durch Frankreich, Abtrennung, Internationalisierung sowie Besetzung des Ruhrgebietes und weiterer deutscher Gebiete.
57 Churchill: A. Bryant: Triumph in the West, London 1959, S. 423; Generalleutnant Browning: A. Bryant: A bridge too far, dt. Die Brücke von Arnheim, Frankfurt 1975, S. 173; US General Patton: M. Blumenson (Hrsg.): The Patton Papers, Tagebucheintrag Pattons vom 24. 3. 1945.
58 D. Eisenhower: Crusade in Europe, New York 1948, S. 156 f.
59 H. v. Puttkamer: Kapitulation in Kurland am 8. und 9. Mai 1945, in: Deutsches Soldatenjahrbuch 1990, München, Schild-Verlag, S. 425 f.; ebenso bei der Kapitulation von Königsberg (Kaliningrad): Oberst Freiherr v. Süsskind-Schwendi ebendort, S. 198 ff.; C. v. Witzendorff, a. a. O., S. 112.
60 Beispiele für militärisches Eingreifen: Kolumbien
1903, Kuba mehrfach, Panama 1980,
Haiti 1994 und Grenada 1994.
61 Chr. Wipperfürth: Russland und seine
GUS-Staaten, Stuttgart 2007, S. 94–113.
62 Wipperfürth, a. a. O.
63 A. Haffner: Churchill, Frankfurt, 1967,
S. 127.
64 Brzezinski: The grand chessboard, dt. Die
einzige Weltmacht, TB Fischer, Frankfurt 1999,
S. 16, 65, 92, 203 ff.
Die USA verfolgen mit ihrer Außenpolitik eine Art umgekehrte
Breschnew-Doktrin. Doch bei ideologischer Aufladung der
Politik sind die Folgen vorhersehbar: Einmischen in die innersten
Angelegenheiten anderer Staaten weltweit, notfalls Krieg
und sogar Folterkammern. – Leonid Breschnew mit dem amerikanischen
Präsidenten Gerald Ford.
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