Der Begriff Mythos stammt aus dem Griechischen und bedeutet sinngemäß etwa Wort, Rede oder Erzählung. Will man die Kultur und das Wesen eines Volkes richtig kennenlernen oder vielleicht besser verstehen, kommt man um seine Mythen nicht umhin.
Als ein wichtiger Bestandteil des Kulturgutes eines Volkes drückt der Mythos seine Gefühle und Vorstellungen auf spezifische Art und Weise aus und stellt eine Erzählung von für dieses Volk als wichtig geltenden Ereignissen dar, in der Symbolik und Phantasie keine Seltenheit sind. Eine mythische Erzählung erhebt oft den Anspruch, die Situation der Gegenwart durch die ausgewählten Ereignisse, die in der Vergangenheit stattfanden, zu begründen. Der Ursprung des im Mythos erzählten Ereignisses liegt zeitlich weit zurück. Das in der weiten Vergangenheit wahrlich oder angeblich Geschehene wird in der Erzählung „mythologisiert“, mit dem Anspruch auf ewige Gültigkeit.
Es soll auch nicht übersehen werden, daß zu den wichtigen Eigenschaften des Mythos Zweideutigkeit und unklare Semantik gehören. Im Gegensatz zu Aussagen der positiven Religionen steht im Mittelpunkt des Mythos nicht das Ethische, sondern ein Paradigma, dessen Sachverhalt gezielt gedeutet wird. Obwohl der Mythos eine narratio ist, strebt er keine gedichtete Wirklichkeit an. Er besteht implizit darauf, jene Erzählung zu sein, in welcher eine im Grunde metaphysische Wirklichkeit eine verbindliche Realität darstellt. Da der Mensch das Erzählende unmittelbar und im Jetzt erleben soll, ist ein Mythos überzeitlich oder zeitlos. Als eine bildhafte und mit Symbolen versehene Auslegung der Anschauung und Lebensdeutung ist er unserer anthropologischen Substanz wesentlich näher als der Ethik der positiven Religionen, was manche Kritiker zur Auffassung gebracht hat, daß Kritik der Mythen im Sinne eines zivilisatorischen Aktes grundsätzlich zu rechtfertigen sei.
Trotz aller erwähnter Mängel sind die Mythen aber bereichernd und nötig. Es wäre ein Irrglaube zu glauben, daß eine vollumfängliche Entmythisierung des Lebens einen „aufklärerischen“ Wegweiser für die „heile Zukunft“ darstellt. Es ist zwar unbestreitbar wahr, daß der Mythos keinen Diskurs zuläßt; eine Tatsache, die ihn in der heutigen wissenschaftlich-technischen Welt in den Verruf bringt, ein archaisches, ja ein primitives Fabelwesen zu sein. Der Mythos wird jedoch auch solche Angriffe überleben, da die beklemmende Öde der modernen rationalistischen Welt seiner Identitätsstiftungsgabe und dem poetischen Wohlklang auf Dauer nichts Höherwertiges entgegensetzen kann.
In der Mythologie der Südslawen gibt es viele literarisch prächtige Legenden und Erzählungen, in welchen schwerpunktmäßig über die Heldentaten ihrer Völker und Helden erzählt wird. Diese Heldenmythen haben als gemeinsames Thema den Widerstand gegen die osmanische Eroberung.
Eine im serbischen Volk sehr begehrte mythische Erzählung ist der Mythos von Marko Kraljević („Königssohn Marko“), dem Sohn des serbischen Herrscher Vukašin aus dem 14. Jahrhundert. Es handelt sich dabei um einen Heldenmythos, in dem Marko, der serbische König von 1371 bis 1395, den großen Held der südslawischen Volkspoesie darstellt. Obwohl Marko Kraljević in Wirklichkeit ein türkischer Vasall war, also ein Mann, der sich freiwillig als Gefolgsmann in den Dienst der türkischen Eroberer gestellt und sich dem Osmanischen Reich für bestimmte, meistens militärische Dienstleistungen verpflichtet hat, galt und gilt er im Gedächtnis des serbischen Volkes als ein Beschützer der Serben vor türkischen Besatzern. Der Erzählung nach muß der kleine Lehnsherr Marko Kraljević ein außergewöhnlicher Mensch gewesen sein; ein äußerst mutiger und kräftiger Mann, der sogar 300 Jahre alt geworden sein soll. Er ist sowohl in der serbischen Mythologie als auch in der Geschichte des serbischen Volkes so berühmt und wichtig, daß der große serbische Dichter und der Vater der modernen serbischen Sprache, Vuk Stefanović Karadžić, ihm ganze 25 Balladen gewidmet hat. Der serbische Dichter Karadžić war bei vielen angesehenen europäischen Gelehrten ein begehrter Mann. Der deutsche Sprachwissenschaftler Jacob Grimm schätzte seine Werke, im Gegensatz zum größten deutschen Dichter und Denker Johann Wolfgang von Goethe, der in den Erzählungen über Marko Kraljević viele Unmenschlichkeiten erkannte. Goethe hat zwar den serbischen Dichter Karadžić in Audienz empfangen und war von der Schönheit der serbischen Mythologie am Anfang auch begeistert. Die Begeisterung dauerte aber nicht lange. In seinem Entwurf „Serbische nationale Gedichte“ bezeichnete Goethe den Helden Marko Kraljević als einen Monsterheld.
Eine in der kroatischen Mythologie populäre Legende, in Wirklichkeit jedoch ein untypischer Fall der kroatischen Heldenmythologie, stellt die Legende über den Baron Franz (Franjo) Trenck dar, der in die Geschichte als jener Mann einging, der als erster die Blasmusikkapelle in das Militär eingeführt hat. Diese Legende ist im östlichen Teil der Republik Kroatien, in Slawonien, sehr bekannt. Die Besonderheit dieses Mythos liegt darin, daß Baron Franjo Trenck eigentlich kein Kroate war, sondern der Sohn eines preußischen Offiziers, der seinen Militärdienst in Reggio Calabria leistete, wo am 1. Jänner 1711 dessen Sohn Franjo (Franz) geboren wurde. Als Soldat hat Franjo Trenck nicht nur gegen die Türken, sondern auch gegen die Preußen gekämpft. Mit nur 39 Jahren starb er am 4. Oktober 1749 im Gefängnis der Burg Spielberg in Brno (Brünn). Laut der Legende war Baron Trenck eine kontroverse Person; manche sahen in ihm einen genialen Soldaten, andere einen impulsiven Zänker, Saufbruder und notorischen Schürzenjäger. Die berühmte, zugleich die charakteristischste Legende über ihn ist die Erzählung über den „Baron Franjo Trenck und seine Panduren“. Als er nach seiner Rückkehr aus einem russischen Gefängnis den Hajducken (hajduk) Vidak traf, wurde Trenck wieder gewalttätig und straffällig, indem er ihm während eines friedlichen Gesprächs den Kopf abschnitt. Verkleidet in einen gewöhnlichen Zagreber „Purger“ (der Ausdruck kommt aus der deutschen Sprache: Zagreber Bürger) fuhr er nach Wien, wo er um seine Begnadigung bitten wollte. Der Zarin Maria Theresia versprach er mit einer Schar von 1000 Panduren (Pandur = Wachmann, Fußsoldat) gegen ihren Erzfeind, den König Friedrich von Preußen, zu kämpfen. Wenige Monate danach kam der Baron Trenck mit seinen 1.000 Panduren nach Wien. Trenck befahl seinen Panduren, sich als verkrüppelte, blinde, hinkende und bucklige Menschen zu bewegen, was sie auch taten. Dieses Verhalten verursachte bei dem anwesenden Publikum nur Gelächter und Spott. Als die Wiener Zarin kam, schrie er zu seinen Panduren: „Meine Helden, die Zarin ist da!“ Einer von denen stand plötzlich auf und sagte laut: „Es lebe unsere Zarin!“ Alle fingen zu marschieren an, bekleidet „auf türkisch“ und begleitet von „türkischer Bande“, die laute Musik spielte, was einmalig im Militär der Zarin war. Die begeisterte Zarin holte die zwölf größten und schönsten Panduren zu sich und brachte sie zu ihrer Mutter Amalia, damit auch sie die Panduren sehen konnte. Die ganze Stadt Wien war bewegt und stand auf den Beinen, um die bis daher ungesehenen Helden aus Kroatien zu bewundern. So die Legende.
In Südosteuropa gibt es viele Mythen und Legenden mit religiösen und kirchlichen Themen. Bei den Kroaten, einem überwiegend katholischen Volk, findet man viele Mythen und Legenden mit der heiligen Maria als Hauptperson. Die Mutter Gottes wird im kroatischen Volke als „Königin der Kroaten“ genannt. Der berühmteste und begehrteste religiöse Mythos im kroatischen Volk ist Legenda Gospe Sinjske (die Legende über die „Madonna von Sinj“). Nach dem Fall Bosniens im Jahre 1463 – der plötzlich und unerwartet schnell geschah, so daß er in Legenden und Überlieferungen als Bosna šaptom pade („Bosnien fiel im Flüsterton“) beschrieben wurde – begannen die Türken auch die Reste des einst großen und ruhmreichen kroatischen Königreichs zu erobern. Am 25. September 1536 fiel auch die kroatische Stadt Sinj, womit die 150 Jahre lange türkische Herrschaft über das Zetina-Gebiet (dalmatinisches Hinterland) eingeleitet wurde. Nach den zahlreichen, aber erfolglosen Befreiungskämpfen gelang es schließlich im Jahre 1668 dem venezianischen Providur Girolamo Cornaro, die türkische Okkupation zu beenden. Die Osmanen wollten sich damit jedoch nicht abfinden und brachen im Jahr 1715 mit sechstausend Soldaten, geführt von Mehmed-Pascha Čalić, in das Zetina-Gebiet ein. Die Festung Sinj haben nur 700 kroatische Krieger verteidigt. Als der Sieg der Türken als unausweichlich erschien, brachten die katholischen Priester eine Statue der heiligen Maria auf die Stadtmauer – so die Legende –, vor der das übrig gebliebene Volk betete. Plötzlich stürzte das Pferd des Pascha, warf ihn ab und lief davon. Als die türkischen Kämpfer die Statue der heiligen Maria auf den Stadtmauern sahen, liefen auch sie alle davon. Am Tag danach, dem Feiertag Mariä Himmelfahrt (am 15. August), feierten die katholischen Kroaten diesen wichtigen Sieg. Am Jahrestag dieses Sieges findet jedes Jahr in der Stadt Sinj die „Sinjska Alka“ statt. Das Wort Alka stammt vom türkischen Wort halka und bedeutet Ring. Dieses ritterliche Spiel ist ein Wettbewerb, bei dem Reiter auf ihrem Pferd eine Rennbahn von 160 Metern Länge in höchstens 12 Sekunden bewältigen müssen. Am Ende der Rennbahn befindet sich in 3,2 Meter Höhe die Alka, der kleine Ring, den der Reiter mit seinem Speer treffen soll. Der Ring, die Alka, ist durch drei Querstreben verbunden, welche den äußeren Ring in drei gleich große Segmente unterteilen. Das Ziel dieses Ritterspieles ist, daß der Reiter in drei Versuchen möglichst die meisten Punkte erkämpft. Im 17. und 18. Jahrhundert diente die Alka als militärische Übung für die Kavallerie. Der Mythos der „Madonna von Sinj“ gehört wohl zu den berühmtesten kroatischen Mythen. Der Thematik nach ist er ein Heldenmythos; seine Botschaft ist jedoch eine durchaus religiöse: Der türkische Angriff wurde erst durch die Intervention von Mutter Gottes abgewehrt. So begann bei den Kroaten der Marienkult, und in der Stadt Sinj wurde eine größere Kirche gebaut, die der größte Marienwallfahrtsort Kroatiens geworden ist. Obwohl dieser Mythos in Kroatien als Heldenmythos gilt, gehört er mythentypologisch im wesentlichen zu den religiösen Mythen.
Ein Mythos, der bei Indianern, Germanen, Skandinaviern, alten Römern, Griechen und Ägyptern, Turkmenen, Mongolen, Türken und vielen anderen Völkern Europas und Asiens oft zu finden ist, ist der Wolfsmythos. Dieser Mythos ist eng mit der Ehrung der Stammesführer verbunden. Die griechische Göttin der Zauberkunst, Totenbeschwörung und der unheimlichen Erscheinungen, Hekate, wurde auf den Bildern stets in der Begleitung von drei Wölfen dargestellt. Als die Zwillinge Romulus und Remus in eine Kiste gelegt und in den Tiber geworfen wurden, wurden sie – so die Legende – von einer Wölfin gerettet, indem sie beide wie ihre eigenen Jungen säugte. Für die alten Ägypter war Anubis der Gott der Toten, der Wolfsgott. In der chinesischen Mythologie stellt der Wolf eine Symbolfigur der Grausamkeit und Gier dar; die Mongolen und Türken verehren ihn als den Gründer ganzer Völker. In vielen Legenden stellt der Wolf eine Verkörperung des Bösen dar. Der Wolf lebt in erstaunlich komplexen sozialen Strukturen und ist ein sowohl verehrtes als auch gefürchtetes Wesen. Nach der langen Zeit der finsteren Mythen, die zu Ausrottungsversuchen dieser Tierart geführt haben, wird dieses äußerst intelligente und soziale Lebewesen heute wieder respektiert und unter Naturschutz gestellt. Die ambivalente Haltung des Menschen gegenüber dem Wolf dominiert auch in der Mythologie. Er wird als ein starkes, mutiges und intelligentes Lebewesen respektiert, zugleich aber als ein aggressives und blutrünstiges Tier gefürchtet und gehaßt.
Auf dem Balkan ist der Wolfsmythos hauptsächlich in der serbischen Mythologie tief verankert. Der Wolfmythos der serbischen Mythologie ist vor allem ein komplexer Mythos, die Legende, in der der Wolf zwar die Hauptfigur darstellt, der durch seine Metamorphose sowohl religiöse als auch nationale Botschaften sendet. Der serbische Wissenschaftler und Gelehrte Dr. Veselin Čajkanović (1881–1946) redet in seinen Werken vom Wolf als einem mythischen Verwandten und Vorfahren des Serben („митски сродник и предак Србинов“). Vuk (serbisch: der Wolf) ist auch ein alter und begehrter serbischer Volksname, den Eltern ihrem Sohn gegeben haben, um ihn unter einen magischen Schutz zu stellen. Ein bekannter Wolf ist der aus Ost-Herzegowina stammende serbische Philologe, Dichter, Übersetzer und Ethnologe Vuk Stefanović Karadžić, der seinen Namen Wolf (Vuk) bekommen hat, um gegen Hexen geschützt zu werden, nachdem alle männlichen Kinder seiner Eltern vorher verstorben waren.
Das religiöse Element im bekanntesten serbischen Wolfmythos entstand durch die Anthropomorphisierung des Wolfes, der in diesem Mythos ein leidendes und vermittelndes Wesen geworden ist; im Gegensatz zu den Fabeln von Äsop bis zu den modernen Autoren, bei denen der Wolf als ein brutales und grausames Tier gilt. Die Göttlichkeit der Tierwelt, der Wolf, wurde an manchen Heiligen, wie z. B. an den hl. Sava, den hl. Erzengel oder den hl. Georg, gebunden. Das mythologische Bild des serbischen Volkes und seines großen Heiligen hat der Mönch Domentian (1243) so geliefert: „Heiliger Sava lebt ohne Jahre und Tod, von Seinen Wölfen umkreist.“ Wie wichtig der größte Heilige der serbischen christlichen Orthodoxie und der erste orthodoxe Erzbischof von Serbien, Rastko Nemanjić, bekannt unter dem Namen heiliger Sava, sowohl für die serbische Geschichte als auch Mythologie ist, erklärt Dr. Žarko Vidović am 15. Januar 1990 in „Pravoslavlje“, „Der heilige Sava und sein Volk“, Nr. 548: „Soviel sind wir als Christen durch die Person Christi ausgeleuchtet, genauso viel müssen wir als Serben von dem heiligen Sava geführt werden. So wie wir ohne Christus kein Gefühl für das Geheimnis des Menschseins hätten, so hätten wir ohne den heiligen Sava auch kein Gefühl für die Geschichte und in ihr für das Geheimnis des ‚Serbenseins‘ gehabt. Wir waren die Zeugen von vielen (erfolglosen) Versuchen, die Frage, was ist der Mensch und was ist die Nation, wissenschaftlich zu lösen; auch von Versuchen, daß man wissenschaftlich (ohne Seele und den Glauben) enträtselt, warum ist jemand ein Serbe und was ist denn das serbische Volk; aber egal, es ist das Volk des heiligen Sava, welches nur als Volk des heiligen Sava bestehen kann. Das ist unsere einzige Identität, demnach auch unsere einzige Kontinuität, also unsere Geschichte.“
Nach der mythologischen Überlieferung hat dieser große Heilige an seinem Namenstag am 14. Januar die Wölfe um sich gesammelt, um ihnen die Beute, das „Tajin“, für das ganze nächste Jahr zu bestimmen. Das Verhältnis zwischen dem hl. Sava und dem Wolf ist kameradschaftlich, ja sogar freundschaftlich. Nach der Auffassung mancher Autoren war der heilige Sava ein „Wolfshirte“, woraus sie schließen, daß es in der serbischen Heidenzeit einen „Wolfsgott“ geben mußte, dessen Funktionen später auf den heiligen Sava übertragen worden sind. An dieser Stelle geschieht dann die Metamorphose des Mythos: Aus dem heiligen Sava, der der Legende nach ein Invalide war, wurde ein „gelähmter Wolf“, ein Gejagter. Dem folgt das nationale Element des Mythos: Der gelähmte Wolf als Symbol des hl. Sava fungiert in vielen später verfassten Gedichten als Symbol Serbiens. In seiner Gedichtsammlung „Des Wolfes Salz“ (1975) schrieb der angesehene serbische Dichter Vasko Popa unter anderem folgende Worte „ … Vierbeinig krieche ich vor Dir und heule auf Deinen Ruhm wie auch auf Deine Grünen Zeiten … Ich bitte Dich, mein alter hinkender Gott, geh zurück in Deine Höhle.“ Der gelähmte, entwürdigte Wolf sollte nur eine vorübergehende Erscheinung sein, bis er seine neuen, stählernen Zähne bekommt, bis die Vorfahren wieder auferstehen und sein Geschlecht, die Serben, ihn … „von jener Seite des Himmels mit seinem Gejaule aufwecken …“ Er beschwört sie, die große Göttin, die gedemütigt in stählerner Falle gefangen liegt.
In dieser zum Teil auf Mythen beruhenden Poesie ist die politische Botschaft unübersehbar: Nach der Qual kommt die leuchtende ruhmreiche Zukunft. Aus einem gequälten Tierwesen erhebt sich also ein furchterregender Wolf. In diesen Mythen wie auch in vielen anderen Legenden und Gedichten, die das mythologische Thema Wolf behandeln, hat der Wolf eine doppelte Bedeutung inne: er ist Vermittler zwischen dem Diesseits und Jenseits, zwischen dem Gott und dem Menschen, und bewacht die Grenze zwischen dem Fremden und dem Eigenen, zwischen dem unmenschlichen und menschlichen Raum. Der berühmte serbische Dichter Gojko Džogo schrieb in seinem „Gedicht des Wolfes“: „… Nur eine Farbe sieht der Mensch oft, einen Gedanken hat er nur, mal schwarz, mal wieder weiß. Im Walde ist das Wolfsgejaule dieser Welt gemeinsame Sprache … Vielleicht sind ähnlich die Wolfeskehlen, jene dieses Gejaulelied singende …“ Der serbische Wolfsmythos scheint im dreifachen Sinne seinen Zweck erfüllt zu haben. Er ist nicht nur ein poetisch schöner, sondern auch ein religiöser und schließlich ein archaischer Mythos, mit klaren politischen Botschaften für die Gegenwart.
Fünfhundert Jahre türkischer Herrschaft in Südosteuropa hat erwartungsgemäß mutige Widerstandskämpfer gegen die Osmanen hervorgebracht, über welche auch viele Gedichte und Legenden geschrieben worden sind. Eine der herausragenden Gestalten in der Heldenmythologie der Südslawen auf dem Balkan stellt der Hajduk dar. Nach der Meinung vieler Wissenschaftler stammt das Wort Hajduk von dem arabischen Wort haydut ab und bedeutet sinngemäß Abweichung vom richtigen Weg; hieraus leitet sich „Räuber“ oder „Gauner“ ab. Der serbische Philologe, Kunsthistoriker und Diplomat Stojan Novaković (1842–1915) meinte dagegen, daß das Wort haydut/hajduk aus der ungarischen in die türkische Sprache gekommen sei. Die deutsche Sprache verwendet für den Begriff Hajduk das Wort Strauchdieb. Die Türken sahen im Hajduk einen ganz gewöhnlichen Räuber, für christliche Völker des Balkans war Hajduk ein Widerstandskämpfer gegen die türkische Herrschaft. Die frühesten Erwähnungen des Begriffes Hajduk findet man im Akrostichon von Konstantin des Philosophen, „Житија деспота Стефана Лазаревића“ („Das Leben von Despoten Stephan Lazarević“), in dem über den mutigen Räuber edler Abstammung berichtet wird. Während der Zeit der Schwächung des Osmanischen Reiches haben die Herrscher der serbischen Raja (mit dem Ausdruck Raja wurde im Reich der Osmanen ein armes, nichtmuslimisches Volk bezeichnet) hohe Tribute entrichtet und damit die eigene Gewaltherrschaft verstärkt, was zum Erstarken der Hajdučija (des Hajdukentums, des Hajduk-Seins) geführt hat. Der Höhepunkt dieser Entwicklung fand in der Zeit unmittelbar nach der Ermordung des Paschas Hadži-Mustafa (1801) und nach der Übernahme der Macht im Belgrader Paschaluk (pašaluk) durch die Dahis (dahije, die Anführer der Janitscharen) statt. Darüber hat in seinen Gedichten der große serbische Dichter und Linguist Vuk Stefanović Karadžić viel geschrieben. Der ewige Ruhm und die strahlenden Siege des Hajduks stellen die wichtigsten Botschaften in den Hajduk-Mythen dar. In diesen Mythen dominieren epische Motive, begleitet von starken antitürkischen Gefühlen. Man erzählt, daß die Autoren dieser Mythen oft die Hajduks selbst waren. Die reisenden Volkssänger haben durch Generationen diese Mythen im Volk verbreitet. In seinem berühmten Werk Pjesme junačke srednjeg vremena („Die Heldengedichte des Mittelalters“) hat Vuk Stefanović Karadžić die Hajduk-Mythen in einem Werk gesammelt. Nach der Einführung des staatlichen Schul- und Bildungssystems in Serbien wurden diese Gedichte in den Lehrplan aufgenommen, um die Jugend in diesem Sinne zu erziehen. Wie diese Erziehung aussieht, kann man gut am Beispiel des Gedichtes Stari Vujadin („Der alte Vujadin“) erfahren: „… Oh Söhne, meine Falken! Seht ihr die verdammte Lijevno und in ihm die weiße Burg? Dort werden sie uns quälen, Beine und Hände brechen, und unsere schwarzen Augen ausholen …“Im Hajduck-Mythos wird man auf drastische Weise oft Zeuge der fatalen Verbundenheit zwischen dem Guten und Bösen: Hajduk ist zugleich Held und Straßenräuber. Nach Auffassung der Serben, und noch mehr der Montenegriner, ist die wichtigste Eigenschaft der schon erwähnten Hajdučija die „Čojstvo“ (sinngemäß etwa wie edle Männlichkeit). Das Benehmen dieses „edlen Helden“ trug allerdings die Züge einer ganz anderen Qualität: Raubüberfall aus dem Hinterhalt, gewaltsame Wegnahme der Beute und Flucht von der Rechtsprechung. Es ist in der Literatur nicht ein einziger Vers über den Hajduk bekannt, in dem er für höhere ethische Ziele hätte kämpfen wollen.
Der berühmteste Hajduk war Stanislav Radović Sočivica (Staniša, auch Stanko genannt), ein Fahnenflüchtiger aus dem Ort Trebinje in Ost-Herzegowina, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Herzegowina, später im Dalmatinischen Bergland, die Türken die Furcht lehrte. Der Überlieferung nach hat der Hajduk Sočivica in seinem Leben über 150 Türken umgebracht. Werfen wir einen kurzen Blick auf manche „edlen“ Taten des erwähnten Hajduks Sočivica. In dem Volksgedicht Pjesma o Roši Haram
baši (Das Gedicht über Rošo Harambaša) wurde er als Blutsauger der Türken besungen, der die Türken zerhackte und auf dem Feuer briet.
Die Rituale des Blutvergießens bei den Hajduks kommen aus den atavistischen Tiefen. In seinem Buch Index der Motive in der Volkspoesie der Völker Balkans hat Branislav Krstić 1984 die wichtigsten Elemente in der serbischen Mythologie aufgezählt: Die Heiduken klauen und rauben, entführen Frauen und Mädchen; ihre Ehefrauen müssen dauernd ihre blutigen Kleider waschen; einer brachte der seinen einen Ring, welchen sie als den ihres Bruders erkannte; ein anderer band im Wald ein junges Ehepaar an einem Baum zusammen und ließ es so sterben; man könnte mit der Aufzählung noch stundenlang weitermachen. Es soll dabei jedoch auf eine bemerkenswerte Tatsache aufmerksam gemacht werden: der hier erwähnte Hajduk Sočivica bekam einen gebührenden Platz auch in der kroatischen Mythologie. In dem Buch „Legenden des kroatischen Volkes“ – Legende puka hrvatskoga (herausgegeben 2005 in Samobor, Verlagshaus „Meridiani“) – wurde die Erzählung „Hajduk Sočivica überlistete den Vilem-Beg“ veröffentlicht. Der erwähnten Erzählung nach kam Stanko Sočivica 1745 nach Imotski (süddalmatinisches Hinterland), wo er sich als Händler niederließ. Da er viel mehr die Hajdučija als den Handel mochte, ging er zu seinem alten „Beruf“ zurück. Das paßte den österreichischen Behörden, die ihn dafür auch bezahlten. Er bekam den Titel „Harambaša“, und er wurde dadurch der Führer einer Schar der Hajduken.
Ein ähnliches, politisch und geschichtlich durchaus interessantes Schicksal, welches auf dem Balkan gewiss keine Seltenheit darstellt, hat der Uskok Vuk (Vučena) Mandušić erfahren. Mit dem Begriff
Uskok werden jene christlichen Südslawen bezeichnet, die vor den Türken geflohen und in die Grenzgebiete Österreichs und die Republik Venedig ausgewandert sind, von wo aus sie dann gegen die Türken in den Grenzgebieten kämpften, Dadurch entstand auch der Begriff Uskok. (Das kroatische und serbische Substantiv „Uskok“ kommt vom Verb „uskakati“, zu deutsch: in etwas hineinspringen.)
Der berühmte Held der kroatischen Legendenerzählungen, der oben erwähnte Vuk Mandušić, kämpfte gegen die Türken; er starb von der Hand des Beg Vidimljić von Glamoč im Jahre 1648. Hinsichtlich seines Todes sind mehrere verschiedene Legenden entstanden. Sein berühmter Säbel ist noch bis heute im Franziskanerkloster Maria von der Gnade auf der Insel Visovac am Fluß Krka (Drniška Krajina, Kroatien) aufbewahrt. Sein Name und seine Heldentaten wurden in den Nachforschungen des kroatischen Franziskaners und Volksdichters Andrija Kačić-Miošić erwähnt, ebenso in der modernen kroatischen Literatur wie z. B. in der 1989 veröffentlichten Erzählung „Sablja Vuka Mandušića“ („Der Säbel von Vuk Mandušić“) des modernen kroatischen Schriftstellers Nikola Pulić (verst. im Januar 2006). Mandušić war jener Widerstandskämpfer gegen die Osmanen, der sowohl in der kroatischen als auch in der serbischen Mythologie einen gebührenden Platz einnimmt. Der Name Mandušić erscheint auch in der Handschrift von Erlangen („Erlangenski rukopis“). Es handelt sich dabei um eine Sammlung von südslawischen Volksballaden aus der Zeit der Feldzüge des Prinzen Eugen, mit Liedern, die allem Anschein nach ein Mann mit bairischer (deutscher) Muttersprache gesammelt hat: Gerhard Gesemann (Hg.), „Erlangenski rukopis starih srpskohrvatskih pesama“, Sr. Karlovci 1925. Bezüglich der Abstammung des Helden Vuk Mandušić existiert nebst der kroatischen und serbischen auch noch eine dritte Version: die montenegrinische. So fand er Platz im „Gorski vijenac“ („Der Bergkranz“), im großen Epos des montenegrinischen Fürsten und Dichters Petar Petrović Njegoš, das sowohl als ein literarisches als auch ein politisches Werk zu verstehen ist. Damit scheint der Uskok Vuk Mandušić jedermanns Held zu sein.
Angesichts der Tatsache, daß das Osmanische Reich auf seinem Weg zur Eroberung Südost- und Mitteleuropas keine Unterschiede zwischen den Völkern auf diesem Gebiet gemacht hat, zumindest keine, die politisch relevant waren, wäre es unter normalen Umständen eigentlich einerlei, welcher Abstammung ein Widerstandskämpfer gegen die türkische Eroberung war. Normale Umstände sind auf dem Balkan jedoch keine allgegenwärtige Erscheinung. Das Beispiel des Uskoks Vuk Mandušić stellt ein hervorragendes Exempel dar, wie aus einem klassischen Heldenmythos ein politisierter Nationalmythos wird. In einer Zeit, in der sich das Patchwork von Identitäten immer mehr verbreitet, ist die Politik der verstärkten nationalen Erinnerung verständlich, ja sogar ratsam. Im oben erwähnten Fall ist jedoch nicht nur die Schwäche der Argumentation heikel, bezüglich der Bestimmung der Nationalität des Helden, sondern vielmehr das politische Ziel. So wird es zunächst behauptet, daß der Held ein Angehöriger dieser oder jener Nation sei. Nachdem diese Annahme durch ständige Wiederholung als bewiesene Tatsache festgelegt worden ist, folgt ihr, ausgehend von dieser Prämisse, der Prozeß der Feststellung der Souveränität über das Gebiet, auf dem der erwähnte Held gewirkt hat. So einfach wird aus einem schönen und durchaus positiven Mythos eine politische Schimäre.
Der Balkan ist das Gebiet der Heldenmythen und des Heroenkults ohnegleichen. Unter diesen Mythen, die zweifellos politisch geprägt sind, hebt sich besonders der nationale Mythos hervor, dessen auffällige Eigenschaft die Verwischung der Grenze zwischen dem klassischen Mythos und der völkischen Legende ist. Vom Ursprung her ist er zwar ein alter, man kann wohl sagen ein archaischer Mythos; seine erstarkte Wirkmächtigkeit hat er allerdings erst in der Zeit der nationalen Romantik im 19. und 20. Jahrhundert erlebt. Als eine mythische Erzählung, die auf die Völker und Nationen identitätsstiftend wirkt, festigt der nationale Mythos das nationale Gedächtnis, holt den nationalen Gedanken aus der Vergessenheit heraus, um das nationale Gefühl in der Gegenwart zu reaktivieren; er stellt das Stigma des jeweiligen nationalen historischen Schicksals dar. In diesem Sinne ist der Nationalmythos eine durchaus verständliche Abwehrreaktion. Trotz zahlreicher Versuche, die es heute sonst in Hülle und Fülle gibt, das „kollektive Gedächtnis“ (Jan Assmann) der Völker auszulöschen, erlebt der nationale Mythos weiterhin seine Blütezeit, unabhängig von der Tatsache, daß er übermäßig stark zur Vereinfachung des Tatbestandes neigt. Der nationale Mythos stellt eine Mischung aus Wahrheiten und Unwahrheiten dar; er beansprucht, die geschichtliche Wahrheit ausgesprochen zu haben und die Zukunft der Nation gestalten zu können, ja sogar gestalten zu wissen. Als ein erzählendes Geschehen will er keinesfalls die Bürde des endgültig Vergangenen tragen, sondern vielmehr der zwar aus der Vergangenheit stammende, aber vergegenwärtigte Maßstab für die Bewältigung der Gegenwart und die Gestaltung der Zukunft werden. Im nationalen Mythos sehen die Völker ein Werkzeug der Erhaltung ihres Eigenen, also einen Kohäsionsfaktor in der Geschichte der eigenen Nation. In friedlichen Zeiten wirkt der Nationalmythos durchaus erfrischend und bereichernd. Es ist jedoch eine ganz andere Sache, wenn ein identitätsbildender und poetischer nationaler Mythos in eine der politischen Demagogie dienende Legende umgewandelt wird. Der so umgedeutete Mythos wird an die aktuellen politischen Gegebenheiten und Bedürfnisse angepaßt und gilt als Charta der Legitimation für das jeweilige Volk; sehr oft dient er als Rechtfertigung für die politischen Taten in der Gegenwart.
Die wesentliche Charakteristik dieser Mythen besteht darin, daß in ihm rein weltliche Ereignisse zu religiösen Phänomenen umgedeutet und aufgewertet werden. Die Helden in diesen Mythen sind zwar die Menschen, stehen aber weit über dem Normalsterblichen und wirken als Werkzeuge Gottes. Indem entsprechend dem politischen Bedarf das Geglaubte eine gewisse Menge von Wissenschaft eingespritzt bekommt, wird der auf diese Weise sinnlich umgedeutete und politisch verarbeitete nationale Mythos ein Religionsersatz. Angesichts der zeitgenössischen politischen Situation, in der das Antinationale die politische Oberhand über das Nationale gewonnen hat, kann es keine Überraschung sein, daß seine politischen Botschaften sich gegenwärtig eines verstärkten Echos in der Bevölkerung erfreuen können. Dieser Umstand ist nämlich auf das Bedürfnis an Nationalmythen in der Bevölkerung zurückzuführen, was als normale Folge des sich globalisierenden Prozesses der politisch korrekten und westlich-säkularen Vereinheitlichung der Weltgesellschaft angesehen werden soll. Je mehr dem nationalen Mythos der Vorwurf gemacht wird, daß er grundsätzlich zu politischen Katastrophen führen muß, desto länger wird seine Lebensdauer sein. Es muß daher betont werden, daß nicht der nationale Mythos selbst, sondern seine Unterdrückung und vor allem sein Mißbrauch primär für die erwähnten negativen Folgen verantwortlich sind. Wenn sich die Kritik auf die modernen politisch-nationalen Mythen bzw. auf die archaischen Mythen, die zum Zwecke der Politik an das Moderne angepaßt sind, bezieht, ist die Kritik dienlich, weil sie versucht, das Wilde und Destruktive in der mythischen Aktion zu verhindern. Als Beispiel werden hier ein kroatischer und ein serbischer nationaler Mythos dargestellt, nicht nur weil sie typisch für das jeweilige Volk sind und sich beim eigenen Volk eines großen Ansehens erfreuen, sondern auch, um auf die Unterschiede zwischen ihnen aufmerksam zu machen.
Der berühmteste kroatische nationale Mythos ist die Legende über den Tod des Königs Dmitar Zvonimir, bekannt auch unter dem Namen König Demetrius. Sein Regierungssitz war in Knin, in einem Städtchen im dalmatinischen Hinterland, das vom kroatischen Volk liebevoll Zvonimirov grad (Zvonimir-Stadt) genannt wird. Sein Tod (1089) gehört zu jenen kontroversen Vorgängen in der kroatischen Geschichte, aus denen zunächst ein nationaler und schließlich ein politischer Mythos geworden ist. Im Gegensatz zu der mythischen Erzählung sprechen die wissenschaftlichen Untersuchungen eher dafür, daß der König Zvonimir eines natürlichen Todes starb. In einem Schenkungsbrief an die Benediktinerinnen in Split schrieb der König Stjepan II., der Nachfolger des Königs Zvonimir, daß der „König vor kurzem verstorben sei“. König Zvonimir ist übrigens nicht der letzte kroatische König, weil nach seinem Tod zwei Jahre lang Stjepan II. regierte, der letzte aus der Stamm Trpimirović. In den kroatischen Schulbüchern wird die Legende nicht erwähnt, sondern nur die wissenschaftliche historische Version, jedoch ist sie im Volke als mündliche Erzählung weiter erhalten geblieben. Die Ausrufung der Unabhängigkeit der Republik Kroatien im Jahre 1991 wird im kroatischen Volke als das Ende der „tausendjährigen Verdammung des Königs Zvonimir“ gefeiert. Von einem natürlichen Tod des Königs Zvonimir redet auch der Chronist Thomas Archediakon aus Split im 13. Jahrhundert. Der vorhandenen Dokumentation nach starb der König Zvonimir im Jahre 1089, also später, als in der Legende erzählt wird. Zu diesem Zeitpunkt gab es auch keinen Aufruf des Papstes zum Kreuzkrieg. Es ist weiter bewiesen, daß die Aufforderung des Papstes Urban II. zum Ersten Kreuzkrieg erst im Jahre 1095 auf dem Kirchenkonzil in Clermont erfolgte. Nun die Legende:
In der „Zvonimir-Legende“ wird dieser kroatische König als ein guter Herrscher beschrieben. Den guten Menschen half der König, die bösen verfolgte er, lehrt uns die Legende. „Während seiner Herrschaft war das Land fröhlich, da es viel Gutes gab und die Städte voll von Silber und Gold waren“, wird weiter erzählt. In dieser Zeit schickte der Kaiser von Byzanz, mit dem Willen des römischen Papstes, dem König Zvonimir einen Brief, in dem er ihn um Hilfe bat. Darauf befahl er seinen Rittern und Freiherren, sich „vor den fünf Kirchen in Kosovo bei Knin“ zu versammeln. Vor den versammelten Männern las er diesen Brief und fragte sie, ob sie bereit seien mit den anderen christlichen Herren und Gottes Hilfe zu gehen, um jenes Land zu befreien, in dem der Gottessohn für unsere Liebe und Erlösung aus Kreuz litt und sein Blut vergoß; dorthin, wo Er seinen Geist dem Vater übergab, zum Grab, wo sein Körper gelegt wurde. Als die versammelten Männer diese Worte hörten, geschah der Legende nach folgendes: Schreiend und bewaffnet gingen die ungläubigen und von Gott verdammten Kroaten auf ihren König los und zerschnitten seinen Körper. Im Blut liegend, verfluchte er die treulosen Kroaten („nevirne Hrvate“), daß sie Tausende von Jahren keinen Herren der eigenen Sprache haben, sondern nur der fremden Sprache unterwürfig sein sollten. Als der ungarische König Bela diese Verdammnis hörte, nahm er seine Streitmacht und eroberte das Königreich der Kroaten. Und so hatten die Kroaten einen Ungarn als Herrscher, weil sie den eigenen, ohne seine Schuld, umgebracht haben. Soweit die Legende, die als Fluch des Königs Zvonimir (kletva Zvonimira kralja) tief in der Seele und im Gedächtnis des kroatischen Volkes verankert ist.
Es wird von seiten mancher Autoren behauptet, daß es sich bei diesem Mythos um eine modifizierte Version der tschechischen Legende über den Tod des Fürsten Wenzel handelt, wobei beiläufig bemerkt wird, daß der Fürst Wenzel kanonisiert wurde (Wenzel, der Heilige, Wenzeslaus von Böhmen), nicht jedoch der König Zvonimir. Neuerlich ist der 28. September ein Feiertag in der Tschechischen Republik, an dem an den Tod des Fürsten Wenzel (Václav) erinnert wird. Die Legende sagt, daß im Jahre 929 oder 935 der böhmische Fürst Wenzel wegen seiner Christianisierung von seinem heidnischen Bruder Boleslav ermordet wurde.
Der Mythos vom Amselfeld, der berühmte Kosovski mit, ist der wichtigste nationale Mythos der Serben, eines der größten Heiligtümer des serbischen Volkes. Der Kosovo-Mythos wird noch heute in serbischen Kindergärten und Schulen rezitiert, in Sitzgesellschaften gesungen und durch die Medien übermittelt. Als Dreh- und Angelpunkt bei der sowohl nationalistischen als auch irredentistischen Bewußtseinsbildung des serbischen Volkes stellt der Mythos vom Amselfeld zugleich den brisantesten politischen Mythos im ganzen südosteuropäischen Raum dar. Die besondere Eigenschaft dieses Mythos liegt darin, daß es sich bei der Handlung in diesem großen Nationalmythos in Wirklichkeit um eine militärische Niederlage der Serben handelt, die normalerweise von den Völkern äußerst selten gefeiert wird. Dieses in Europa ungewöhnliche Verhalten konnte erst dadurch gerechtfertigt werden, indem man die Sage über ein historisches Ereignis gezielt umdeutete. Ungeachtet der Tatsache nämlich, daß hinsichtlich der Schlacht auf dem Amselfeld selbst keine relevanten Einzelheiten vorhanden sind, werden viele Einzeltaten besungen, so als ob es sich um einwandfrei bewiesene historische Tatsache handeln würde. Es wird weiter behauptet, daß der serbische Fürst Lazar Hrebeljanović bewußt in die Schlacht gegen die Türken ging, obwohl er wußte, daß sein Heer gegen eine so hochüberlegene wie die türkische Streitmacht keinerlei Chancen hatte. Warum hat er das trotzdem getan? Nach Meinung der Überlieferer des Kosovo-Mythos liegt die Ursache dafür im Religiösen: Fürst Lazar entschied sich für das himmlische Reich, um den künftigen Generationen den Weg für das ehrenhafte Kreuz und die goldene Freiheit zu ebnen. Die Befürworter dieser Lösung beteuern, daß der Satz, die Serben feiern eine verlorene Schlacht, nur aus dem Munde der Materialisten kommen kann.
Der Mythos vom Amselfeld stellt zweifellos einen komplexen Mythos dar: Er ist ein personenbezogener Mythos, weiter ein Heldenmythos mit überaus betonten religiösen Elementen; eine historische Legende wie auch ein nationaler und politischer Mythos. Das Hauptereignis in diesem Mythos ist die Schacht auf dem Amselfeld (Kosovo polje) am St. Veitstag (15. Juni) 1389; gemäß dem alten Julianischen Kalender fand diese Schlacht am 28. Juni statt. Die Schlacht auf dem Amselfeld stellt nicht nur ein schicksalhaftes Ereignis für das serbische Volk und sein glorreiches mittelalterliches Reich dar, sondern er war auch der Ausgangspunkt für die künftige Entwicklung Südost- und Mitteleuropas. Für die Völker in Südosteuropa bedeutet diese Schlacht den Beginn der türkischen Herrschaft, die bis zum 20. Jahrhundert gedauert hat. Auf dem Kosovo polje (Amselfeld) standen sich zwei Armeen gegenüber: die türkische mit 40.000 Soldaten, geführt vom Sultan Murat, und das serbische Heer mit 25.000 Kämpfern, unter Leitung des Fürsten Lazar Hrebeljanović. Trotz des tapferen Widerstandes wurden in dieser Schlacht die christlich-orthodoxen Serben total geschlagen, womit der glorreiche mittelalterliche serbische Staat verschwand und die fünfhundert Jahre dauernde Türkenherrschaft begann.
In der erwähnten Schlacht haben beide Feldherren ihr Leben verloren, allerdings auf ganz verschiedene Weise. Der Legende nach wurde der türkische Sultan Murat von einem serbischen Ritter ermordet; der serbische Fürst Lazar fiel durch Verrat in Gefangenschaft und wurde hingerichtet. Die wissenschaftlichen Analysen der damaligen Ereignisse auf dem Amselfeld, wie zum Beispiel in den Werken von Maximilian Braun, haben jedoch festgestellt, daß weder der Tod des Sultan Murat noch das Schicksal des serbischen Fürsten Lazar genau zu bestimmen sind. Diese Tatsache ist noch ein Beweis für das Vorhandensein von Zweideutigkeiten in der politischen Mythologie. Unabhängig von diesem Schicksal gilt das Amselfeld (Kosovo) aus serbischer Sicht als Synonym für Heldentum und Opferbereitschaft. So lautet die serbische Version der Schlacht auf dem Amselfeld, obwohl diese Geschichte keineswegs so eindeutig war. Die Unabhängigkeit des großen mittelalterlichen serbischen Reiches endete erst siebzig Jahre nach der Schlacht auf dem Amselfeld, im Jahre 1459, so daß Serbien unter Lazars Sohn Stefan seine letzte kulturelle Blüte erlebte.
Aus der Legende der Schlacht auf dem Amselfeld ragen im Sinne eines personenbezogenen Mythos zwei Untermythen hervor. Der erste von ihnen behandelt das Schicksal des serbischen Fürsten Lazar. Er war Sohn eines Hofbeamten des Zaren Dušan und geriet in Gefangenschaft, wo er nach dem Befehl des neuen Sultans sofort hingerichtet wurde. Unabhängig davon, daß es sich hier um keine wissenschaftlich bewiesene Tatsache handelt, beginnt der Mythos ab diesem Moment zu arbeiten.
Das Hauptmotiv dafür besteht darin, den Fürsten Lazar und seinen Sohn Stefan als Herrscher zu legitimieren, um seinen Tod als Martyrium für sein Volk und Land darzustellen. Folgt man dem Sinn der mythologischen Erzählung, wurde der mittlerweile zum Zar emporgestiegene Fürst Lazar seitens der Muttergottes vor ein Dilemma gestellt. Besiegt sein Heer die Armee des türkischen Sultan, bleibt er Herrscher des irdischen-serbischen Reiches; verliert er aber die Schlacht, bekommt er einen Platz im himmlischen Reich. Laut Mythos entschied sich der Fürst Lazar Hrebeljanović im voraus für das Himmelreich, um in die Nachfolge Christi einzutreten. Nicht nur sein Tod, sondern auch der Tod aller in dieser Schlacht gefallenen serbischen Kämpfer wurde als Opfer für das Christentum erklärt, was sich im Laufe der Zeit auf das gesamte serbische Volk beziehen wird. So wurde Lazars Abgang in das himmlische Königreich, den der arme Fürst höchstwahrscheinlich am allerwenigsten gewünscht hat, für die Ideologen der serbischen politischen Mythologie ein ausreichender Grund, seine Tragödie als Serbenpassion zu glorifizieren. Die Epopöe vom Amselfeld stellt im politischen Sinne eine Verbildlichung des Schicksals der serbischen Nation dar: So wie Jesus auferstanden ist, so sollte auch das serbische Volk auferstehen. Diese religiöse Deutung der Schlacht auf dem Amselfeld ist unmittelbar mit der Tatsache verbunden, daß während der jahrhundertelangen Herrschaft der Osmanen gerade die serbisch-orthodoxe Kirche jene starke Kraft gewesen war, die die serbische Identität und das serbische Volkstum bewahrte.
Es mag sein, daß heutigen Westeuropäern, die mittlerweile ziemlich entnationalisiert sind und ihr Christentum durch den säkularen Humanismus ersetzt haben, eine solche Direktheit beim Ausdrücken der nationalen und religiösen Gefühle als desavouiert gilt; nicht aber so bei den ost- und südosteuropäischen Völkern der orthodoxen Religion, die in ihren Kämpfen gegen nichtchristliche Mächte, vor allem gegen die Muslime, den zentralen Punkt ihrer nationalen Identität und ihrer geistig-kulturellen Tradition sehen. Die Identifikation von Christentum und historisch-nationalem Schicksal ist bei den Serben stark gegenwärtig. Diese serbische via dolorosa, verbunden mit dem serbischen Gott im serbischen Himmel, wiederholt sich immer wieder in der serbischen Geschichte, allerdings nicht selten mit sehr verhängnisvollen Folgen.
Der nächste Untermythos ist die Erzählung vom Schicksal des Miloš Obilić, des Schwiegersohns Lazars. Miloš Obilić, der auch Miloš Kobilić oder Miloš Kobilović genannt wird, gilt in der serbischen Mythologie als jener serbische Held, der Sultan Murat getötet hat. In den serbischen Volksepen wird Miloš als ein Mann der übernatürlichen Geburt gefeiert: seine Mutter war eine Fee bzw. sein Vater war ein Drache. Seine Kraft bekam er angeblich durch das Trinken von Stutenmilch; daher sein Nachname Kobilić (Stute = kobila). Obwohl es keinen geschichtlichen Beleg dafür gibt, daß es überhaupt einen Menschen namens Miloš Obilić gab, ließen sich die Rezitatoren der serbischen Heldenmythologie nicht daran hindern, seine Taten genauestens zu beschreiben: Miloš Obilić schlich sich durch die Linie des türkischen Heeres zum Quartier des Sultans und erstach ihn. Laut türkischen Quellen wurde der Sultan nach dem Kampf ermordet, als sich ein serbischer Soldat, der sich tot gestellt hatte, erhob und den Sultan erstach. Hier ist die Verflechtung zwischen unterschiedlichen und sogar gegensätzlichen Eigenschaften unübersehbar: Heldentum und Hinterlist, Mut und Heimtücke. Miloš Obilić wurde zum eigentlichen Helden der Schlacht auf dem Amselfeld erklärt, um unter anderem als Gegenspieler des angeblichen Verräters Vuk Branković dienen zu können.
Obwohl es hinsichtlich dieser Schlacht noch immer viele Unklarheiten gibt, störte es die Autoren und Volkssänger des Kosovo-Mythos nicht im geringsten, Miloš Obilić als ein großes Vorbild für das serbische Volk zu stilisieren. Darüber schrieb der Nobelpreisträger für Literatur Ivo Andrić: „Als wir noch Kinder waren und Krieg gegen Türken spielten, wollte keiner von uns die Rolle des Sultans Murat übernehmen, sondern ihn als Miloš Obilić töten.“
Die Akzeptanz der Mythen bei den Serben beginnt schon in der Kindheit. Dieser im Grunde nicht grundsätzlich verkehrte Erziehungsweg leidet darin, daß in diesem Sinne erzogene Kinder zu leicht manipulierbaren Erwachsenen werden können. So wurde z. B. durch die epische Überlieferung der Geschehnisse auf dem Amselfeld am 28. Juni 1389 der St. Veilstag, serbisch: Vidovdan, ein magisches Datum in der Geschichte des serbischen Volkes. Genau am gleichen Tag, am Tag des heiligen Vitus, wurde fünfhundert Jahre später im bosnischen Sarajevo der österreichische Thronfolger Ferdinand von dem jungen serbischen Studenten Gavrilo Princip hinterhältig umgebracht. Die verhängnisvolle tyrannische Verfassung des serbischen Königs wurde am Sankt-Veits-Tag 1929 („Vidovdanski Ustav“) ausgerufen; am Vidovdan (nach dem alten Kalender der 15. Juni) übte der serbische Nationalist Puniša Račić ein Attentat auf den kroatischen Politiker Stjepan Radić im Belgrader Parlament; der Angriff der von den Serben kontrollierten „Jugoslawischen Volksarmee“ erfolgte auch zu dieser Zeit im Jahre 1991. Die Bedeutung des Kosovo-Mythos in der Geschichte der südosteuropäischen orthodoxen Völker beweist das berühmte Epos Gorski vijenac („Der Bergkranz“) des Fürsten und Bischofs von Montenegro, Petar II. Petrović Njegoš, in welchem nur Gott so oft erwähnt wurde wie Kosovo (Amselfeld). Um die Pflege dieses Mythos hat sich besonders die serbisch-orthodoxe Kirche bemüht. Die erste große Feier fand 1889 zum 500. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld statt. In Kruševac, Lazars Hauptstadt, hat die serbische staatliche Behörde den Grundstein für das Heldendenkmal zur Erinnerung an die Kosovo-Schlacht gelegt und den Lazar-Orden gestiftet, den nur der serbische König verliehen bekommen darf. Es wurden Feierlichkeiten zur Ehrung der Schlacht auf dem Amselfeld auch außerhalb Serbiens gehalten: in Österreich-Ungarn, in Großbritannien (1916) und in den USA (1918). Im kommunistischen Jugoslawien mußte der Kosovo-Mythos dem Mythos der Tito-Partisanen den ersten Platz überlassen. Erst im Jahre 1989 fand zum 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld die größte Feier zur Erinnerung an diese Schlacht statt, als sich in der Ortschaft Gazimestan über eine Million Serben versammelt hatten, um die berüchtigte Kampfrede von Slobodan Milošević zu hören. Seine Worte Auch bewaffnete Kämpfe sind nicht ausgeschlossen! waren die geistige Einführung in den brutalen Krieg der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, der mit dem Zerfall Jugoslawiens endete.
Die in dieser Abhandlung behandelten Mythen gehören zu jenen Werken der schreibenden und erzählenden Kunst, die das Kulturleben Südosteuropas zweifellos bereichert haben. Dem ursprünglichen Sinne nach ist das Ziel der Mythen unter anderem das Vermitteln der Grunderfahrungen von Leben und Sterben, womit sie eine entlastende Funktion erfüllen. Obwohl sie inhaltlich teils dunkel und widersprüchlich sind, stellen die mit archetypischen Elementen tief verbundenen National- und Heldenmythen zweifellos einen polyvalenten Reichtum dar. Es ist richtig, daß die heutzutage dominierende wissenschaftlich-technische Denkweise den Mythen mit Unverständnis begegnet, dies ist aber nicht ihr Mangel, weil sie durch ihre Religions- und Traditionsverbundenheit wie auch durch ihr tiefpsychologisches Wirken zur Aufarbeitung der Uremotionen erheblich beitragen. Der bildhafte und narrative Charakter der Erzählung der Volkstradition in den Nationalmythen wird stets gemäß der Kultur- und Bewußtseinsentwicklung der jeweiligen Gesellschaft umgedeutet und dem aktuellen Zeitpunkt angepaßt, um dadurch dem gewünschten Ziel dienlich zu werden. Es darf nicht vergessen werden, daß das Unbewußte des Individuums, das durch den Mythos in Bewegung gesetzt werden soll, auch ein Teil der gesellschaftlich-politischen Dynamik ist. Dabei ist nicht zu übersehen, daß trotz der Pointierung des Heldenhaften und der Hervorhebung der zur Erhabenheit emporgehobenen Selbstlosigkeit die Handlungen des mythischen Helden nicht nur der Verteidigung des Nationalstolzes und des Lebensraumes dienen, sondern auch eine heimliche, jedoch immerhin verständliche Botschaft enthalten: die Botschaft des Sieges. Dieses optimistische Lob des Mythos sollte uns jedoch nicht dazu verleiten, ihn als quasi „wissenschaftliches“ Antonym zur Wissenschaft zu betrachten, weil damit der Weg zu einem lächerlichen Kulturpessimismus geebnet werden würde, der uns letztlich in die trostlose Welt der Selbstzerstörung führen könnte.
Es ist ebenso falsch, den Mythos der Wissenschaft entgegenzusetzen und sie ihm gegenüber abzuwerten, wie es falsch ist, ihn von seiten des kritisch-aufgeklärten Zeitgeistes als bloßes Phanasiegebilde unterentwickelter Kulturstufen abzutun.
Noch schlimmer ist aber die politische Verarbeitung des Nationalmythos in Konfliktsituationen. Intoleranz und Aggressivität sind die Folge. Die Politisierung des Mythos dient dem Mißbrauch und kann in einem Massenwahn enden. Vor allem die modernen politischen Mythen sind mit Gefahren beladen, weil ihr Zweck die Schaffung einer überzeitlichen Verfassung des Gemeinwesens ist. Wenn sich die Kritik auf die modernen politisch-nationalen Mythen bzw. auf die archaischen Mythen, die zum Zwecke der Politik an die Moderne angepaßt wurden, bezieht, ist die Kritik dienlich, weil sie versucht, das Wilde und Destruktive in der mythischen Aktion zu verhindern. Der berühmte kroatische Schriftsteller Miroslav Krleža, ein radikaler Mythoskritiker, pflegte zu sagen: „Das Wort ist die Mutter der Tat.“ Und wahrlich: Die buchstäbliche Verwandlung der Mythen in Taten stellt eine große Gefahr für die Menschheit dar. Auf dem Balkan, einem Gebiet mit großer Mythentradition, hat die Bevölkerung in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts die politisierten Mythen in der vollen Entfaltung ihrer grauenvollen Seiten hautnah erleben können.
Unabhängig vom geistigen Klima in der zeitgenössischen Gesellschaft des Balkans und der überall herrschenden wissenschaftlich-technischen Denkweise ist der Verzicht oder die Beseitigung der Helden- und Nationalmythen sowieso undenkbar – und das ist auch gut so. Die Diskussion um den politischen Mißbrauch der Mythen muß aber unbedingt geführt werden. Die Weiterentwicklung der Demokratie ist sicherlich ein Weg in die richtige Richtung, allerdings kein Patentrezept, da auch die demokratischen Herrschaftssysteme keine Garantie gewähren, daß Gesellschaft nicht vom Totalitarismus befallen wird. Durch die Rückkehr der Ethik der natürlichen Ordnung und die Stärkung der erhabenen Werte der positiven Religionen in der zeitgenössischen Gesellschaft kann ein Mißbrauch der Mythen verhindert oder zumindest minimiert werden. Dabei wird an zweierlei gedacht: Erstens an die Pflege des Mythos im Sinne einer unbewußten Symboltätigkeit, einer Narratio der Tradition als Bestandteil der nationalen Kultur, und zweitens an die Verhinderung jeglicher politischer Instrumentalisierung der alten Mythen. Mit dieser edlen Arbeit muß auf dem Balkan allerdings erst begonnen werden.
Dr. Slavko Leban, geb. in Sarajevo, arbeitete von 1974–2004 als Arzt in Deutschland. Als Mitglied des Nationalrates der HDZ in Zagreb war er von 2004–2006 Ministerassistent (Staatssekretär) im kroatischen Außenamt und ist heute wieder in leitender Funktion im Gesundheitswesen tätig. Er ist Mitglied des Präsidiums der Paneuropa-Union Kroatiens.