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Neues vom Tod

Von Angelika Willig

Sterbehilfe und Billigsärge verdrängen Pietät

Spricht man vom Tod, dann ertönt sogleich die Bemerkung, daß dieser „in unserer Gesellschaft verdrängt“ werde. Damit ist das Thema schon beinahe erledigt, und man diskutiert lieber über die moderne Gesellschaft. Der Tod wird nicht nur heutzutage verdrängt, sondern schon seit jeher. Der Schrecken gehört zu seinem Wesen. So erklärte Sokrates 400 Jahre vor Christus: „Solange wir da sind, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, sind wir nicht da.“ Für den Philosophen gab es daher nichts zu fürchten. Auch seinen eigenen Tod nahm der Grieche voll Gelassenheit hin, nachdem die Regierung von Athen ihn dazu verurteilt hatte, den sprichwörtlichen Schierlingsbecher zu leeren. So hat die Wissenschaft sich der Konfrontation schon immer entledigt.

Die Religionen – nicht nur das Christentum – gehen von einem ewigen Leben aus und verjagen so die Bedrohung. Es gibt keinen Tod – also fürchtet Euch nicht.
Allerdings ist das nicht so leicht. Auch in Zeiten, wo die religiöse Bindung noch selbstverständlich war, stand es mit dem Glauben oft wacklig. Das zeigte sich vor allem angesichts des nahenden Todes. Ein beeindruckendes Beispiel zeichnet der Dichter Leo Tolstoi in seiner Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“: Ein hoher russischer Beamter lebt mit seiner Familie geehrt als Mitglieds der Petersburger Gesellschaft. Iwan Iljitsch ist mit sich und seiner Existenz vollauf zufrieden, genießt das Leben und nimmt an den Ritualen der orthodoxen Kirche selbstverständlich teil. Dann kommt eine Krebserkrankung. Ohne den Namen der Krankheit zu nennen, schildert Tolstoi minutiös die Stadien des Leidens. Die Versuche des Kranken, sich über seine Lage zu täuschen, müssen scheitern. Schließlich merkt er, wie die gesamte Wirklichkeit brüchig wird, das Verhältnis zu seiner Frau sich als verlogen herausstellt, die Beschäftigungen des Alltags als bedeutungslos, die religiösen Formen als oberflächlich. Iwan wird klar, daß ihm nicht der geringste Trost bleibt. Die nackte Angst ergreift ihn. Bis ganz die Gegenwart Gottes den Sterbenden wie eine Gnade berührt.

Den Tod leugnen

Das Beispiel Sokrates und das Beispiel Tolstoi liegen über zweitausend Jahre auseinander. Beide lehren sie, daß der Tod schon immer verdrängt wurde – doch auf unterschiedliche Weise. Und neuerdings sind wieder einige Methoden hinzugekommen. Zum Beispiel fällt auf, daß sich das Interesse vom Tod zunehmend auf das Sterben verlagert. Auch die Furcht verlagert sich auf jene Krankheit oder Krankheiten, die irgendwann den Tod bringen werden. Ein Grund dafür ist, daß die Art des Sterbens vom Menschen zu beeinflussen ist. So läßt sich der Prozeß unter Umständen verlängern oder abkürzen. Darüber kann man ausführlich diskutieren. Der Tod selbst hingegen bleibt von Wissenschaft und Technik entzogen. Warum sollte man sich darüber Gedanken machen. Es läßt sich sowieso nichts ändern.
Früher spielten Beerdigung und Grabpflege eine große Rolle. Damit einher ging die Trauerkleidung. Für eine Witwe war es selbstverständlich, mit Blumen und schwarzem Hut regelmäßig am Grab zu stehen. Heute eröffnen immer mehr Institute, die sich ohne Scham „Sarg-Discount“ oder „Billig-Beerdigung“ nennen. Am sinkenden Einkommen der Hinterbliebenen liegt das sicherlich nicht. Vielmehr besteht oftmals keine Bereitschaft mehr, für Produkte Geld auszugeben, die einem Toten zugutekommen. Jemandem also, der „nichts mehr davon hat“. Es wirkt sich hier der naturwissenschaftliche Glaube aus, wonach ein Leichnam nichts ist als abgestorbenes Gewebe. Eine Weile haben die Traditionen dem Atheismus noch stand gehalten, inzwischen ziehen die Trauernden den Verzicht vor. Ist aber daraus zu schließen, daß die Trauer verschwunden ist und der Verstorbene nicht vermißt wird? Auch die umgekehrte Sicht ist möglich: Mit einer pomphaften Beerdigung und aufwendiger Grabpflege täuschte man sich gern über die zentrale Wahrheit hinweg, daß der geliebte Mensch nicht mehr da ist. Man deckte die Trauer mit Betriebsamkeit zu. Heute setzt man sich ihr offen aus. So erlebt man neuerdings Trauerfeiern mit Tonbandaufnahmen, Fotografien und eigenen Texten des Verstorbenen. Dabei fließen viele echte Tränen – auch ohne kirchlichen Beistand. Es bleibt eine Leere, die schwer auszuhalten ist. Der Grundirrtum besteht darin, daß der Tod eines Menschen durchgehend gleichmäßiges Bedauern hervorrufe. Dieselbe Person kann von dem einen tief betrauert, von einem anderen eiskalt verabschiedet werden. Es gibt keinen Automatismus des Trauerns, auch wenn man so tun muß, als ob. Das „herzliche Beileid“, das heute durch ein lahmes „es tut mir so leid“ ersetzt ist, erfüllt nur eine Konvention. Und doch soll damit einer Katastrophe begegnet werden. Was es früher nicht gab, ist die Vielzahl von Büchern darüber, wie man trauert. Immerhin ein Zeichen, daß viele sich intensiv damit beschäftigen. Sicher enthalten die Bücher nur gut gemeinte Plattitüden. Die Form des Trauerns hängt immer von der speziellen Beziehung zum Verstorbenen ab. Letztlich kommt es darauf an, allein weiterleben zu lernen. Obwohl damit auch ein Vergessen verbunden ist. Aus diesem Dilemma kommt man nicht heraus.

Prüfung auf sich nehmen

Das Sterben ist diejenige „Grenzsituation“, die sich nicht vermeiden läßt. Sie kommt auf uns zu. Auch wenn andere Gefahren wie Krieg, Hunger, Krankheit und das Risiko der Geburt durch die Zivilisation weitgehend vermieden sind, bleibt der letzte Weg, den jeder allein und ungeschützt zu gehen hat. Jeder hofft, daß dieser Weg sich möglichst kurz und komplikationslos gestalten möge. Aber wissen kann man es nicht. Gäbe es das allgemeine Recht auf Sterbehilfe – die Todesspritze auf Rezept – , so könnte man von einem schnellen und komplikationslosen Tod ausgehen. Man könnte damit die Gefahr, eines Tages in eine Situation zu geraten, die alle Grenzen sprengt, gleichsam auf null senken. Viele – und gerade ältere – Leute halten diese Vorstellung für tröstlich, zumindest beruhigend. Sie wünschen sich die Sicherheit, ihr geruhsames Dasein auch geruhsam beenden zu können. Vielleicht mit einem abschließenden Gespräch oder einem gewünschten Musikstück. Sogar einen möglichen Mißbrauch sind sie bereit, für diese Beruhigung einzukalkulieren. Mit der Mißbrauchsgefahr argumentieren meist die Sterbehilfe-Gegner. Doch liegt vielleicht die eigentliche Gefahr in der Gefahrlosigkeit? Die Existenzphilosophie hat dem Bewußtsein des Todes eine entscheidende Bedeutung für das menschliche Leben zugesprochen. Erst dadurch bekommt es den Charakter der „Geworfenheit“, das heißt der Unverfügbarkeit und Unberechenbarkeit. Würde auch der Tod in die Verfügungsgewalt des Menschen genommen, so könnte sich unsere Hybris erst vollenden.

Was der Arzt darf

Bedenkenswert in diesem Zusammenhang ist ein relativ unbekanntes Märchen der Gebrüder Grimm: „Gevatter Tod“. Ein armer Mann bittet den Tod zum Gevatter (Paten) seines 13. Kindes, damit er ihm ein reiches Patengeschenk mache. Als der Knabe größer geworden ist, führt ihn der Pate hinaus in den Wald, zeigt ihm ein Kraut und spricht: ,,Jetzt sollst du dein Patengeschenk empfangen. Ich mache dich zu einem berühmten Arzt. Wenn du zu einem Kranken gerufen wirst, so will ich dir jedesmal erscheinen. Stehe ich am Kopfende des Kranken, so kannst du keck sprechen, du wolltest ihn wieder gesund machen, und gibst du ihm dann von jenem Kraut ein, so wird er genesen. Stehe ich aber zu Füßen des Kranken, so ist er mein, und du mußt sagen, alle Hilfe sei umsonst.“ Es dauerte nicht lange, so war der Jüngling der berühmteste Arzt auf der ganzen Welt. Nun trug es sich zu, daß die Königstochter schwer erkrankte. Der König ließ bekanntmachen, wer sie vom Tode errette, der sollte ihr Gemahl werden und die Krone erben. Der Arzt wurde gerufen. Als er aber zu dem Bette trat, so stand der Tod am Fußende der Kranken, also war für sie kein Kraut mehr gewachsen. Doch der Arzt dachte: „Wenn ich den Tod nur einmal überlisten könnte!“ Er hob also die Kranke hoch und legte sie verkehrt herum, so daß der Tod an ihrem Kopf zu stehen kam. Dann gab er ihr etwas von dem Kraut, und bald regten sich die Lebensgeister wieder.
Der Tod war wütend. Mit langen Schritten ging er auf den Arzt zu und sagte: ,,Es ist aus mit dir, die Reihe kommt nun an dich.“ Er packte ihn mit seiner eiskalten Hand und führte ihn in eine Höhle unter der Erde. Da sah der Arzt, wie Tausende Lichter in unübersehbaren Reihen brannten, einige groß, andere halbgroß, andere klein. ,,Zeige mir mein Lebenslicht“, sagte er. Der Tod deutete auf ein kleines Endchen, das eben auszugehen drohte. ,,Ach, lieber Pate“, sagte der erschrockene Arzt, ,,zündet mir ein neues an, damit ich König werde und Gemahl der schönen Königstochter.“ – ,,Ich kann nicht“, antwortete der Tod, ,,erst muß eins verlöschen, ehe ein neues anbrennt.“ Darauf sank der Arzt zu Boden und war selbst in die Hand des Todes geraten. (Gekürzt)
„Erst muß eins verlöschen, ehe ein neues anbrennt“, das ist eine harte Lehre. Doch eine Medizin, die sich mit der Unsterblichkeit zu messen versucht, verursacht nur zusätzliches Leiden. Dieser Punkt wird in Zukunft immer größere Bedeutung erhalten. In seinem Buch „Wie wollen wir sterben?“ (2010) schreibt der Intensivmediziner Michael de Ridder: „Der Radius des Machbaren in der Medizin weitet sich nicht allein am Lebensende unablässig aus. Sein Nutzen für viele Kranke dagegen ist häufig nicht nur gering, sondern obendrein auch noch risikoreich und kostspielig.“ Und dieses Geld fehlt dann in der Pflege und bei der Vorsorge. Auch diese Diskussion versachlicht jedoch ein Thema, das in erster Linie den einzelnen betrifft. Nicht „jeder“ stirbt, oder „man“ stirbt, sondern ich selbst werde sterben. Und daran kann auch die Hochleistungsmedizin nichts ändern. „Don’t try to live for ever“, bemerkte der Dichter George Bernhard Shaw. „You will not succeed.”

Tod kommt in Mode

Auf dem Münchner Nordfriedhof streift nach Einbruch der Dunkelheit neuerdings die Polizei. Grund sind Gruppen von Jugendlichen, die dort Gespenster spielen. Diese Gespenster sind nicht nur lautstark, sie halten auch die sittlichen Schranken nicht ein. Natürlich ist das eine Störung der Totenruhe. Es ist aber auch ein Zeichen, daß junge Leute von der Sehnsucht nach dem Jenseitigen getrieben werden. Das Jenseitige soll nur nicht moralistisch und bürgerlich-bieder sein wie der Religionsunterricht. Irgendetwas Metaphysisches erhoffen sie sich von der sogenannten Gruftie-Mode, die sich in schwarzen Kleidern und bleichgeschminkten Gesichtern äußert. Man will nicht oberflächlich und hedonistisch sein wie die anderen, sondern irgendwie „in die Tiefe“ gelangen. Da fällt vielen zuerst das Grab ein. Die Liedertexte sind schauerlich und morbide, das Ambiente soll möglichst düster sein. Der Tod scheint den überdrehten 16-jährigen das Interessanteste am Leben zu sein. Zeugt das nun von der mangelnden Anziehungskraft realer Perspektiven, von einer Hoffnungslosigkeit, was die Zukunft betrifft? Ist es bloß der Wunsch, aufzufallen und sich von der Masse abzuheben? Doch die Verbindung von Jugend und Tod ist nicht neu. Noch im Ersten Weltkrieg beseligte viele deutsche Jünglinge der Wunsch, möglichst bald fürs Vaterland zu fallen. In der Nachfolge von Goethes „Werther“ nahmen sich junge Leute in seinem Kostüm das Leben. Während das Alter eher auf die Vermeidung von Leiden bedacht ist, da es schon so viel gelitten hat im Leben, findet die Jugend an der Fülle der Welt kein Genügen und strebt darüber hinaus – manchmal ins Abenteuer und manchmal auch in den Tod.

Weshalb wir sterben

Neu ist auch die Begründung des Todes, ja es gibt inzwischen eine wissenschaftliche These, weshalb der Mensch alt wird und schließlich sterben muß. Demnach liegt es am Mechanismus der Evolution: Ereignisse, die sich nach der möglichen Weitergabe des Erbguts einstellen, haben keine direkte Auswirkung auf die Entwicklung des Genoms der jeweiligen Art. Folglich können sich im Erbgut negative Faktoren für das spätere Leben ansammeln, die nicht dem Selektionsdruck ausgesetzt sind.
Ob diese Erklärung zutrifft oder nicht, der Tod ist in jedem Fall konstitutiv für das Leben. Und anders würden wir es auch gar nicht ertragen.
Die französische Autorin Simone de Beauvoir hat in ihrem Roman „Alle Menschen sind sterblich“ (1946) durchgespielt, wie ein Erdendasein ohne Ende verlaufen würde. Es wäre vielleicht die größte Qual überhaupt. Nietzsche wiederum wollte die Stärke eines Geistes an der Fähigkeit messen, den Gedanken der „ewigen Wiederkehr“ alltäglicher Situationen zu ertragen. Es erträgt ihn aber kein Mensch – auch nicht der Philosoph.

 

 

 

 

 
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