Berlin, am 8. Mai 2005: Am Brandenburger Tor findet eine offizielle Feier unter dem Motto „Tag der Demokratie“ statt. Meist der SPD, den Grünen oder der PDS nahestehende Verbände verteilen Gummibärchen, Flugblätter, Luftballons und Parolen wie „Kein Sex mit Nazis“. Am Alexanderplatz ist derweil die NPD eingekesselt. Ihre behördlich genehmigte Demonstration kann nicht stattfinden, weil 3.000 „wilde“ Gegendemonstranten die Strecke zur Friedrichstraße blockieren. Diese Verhinderung des Grundrechtes auf Demonstration wird später als „Sieg der Demokratie“ gefeiert.
Linke Gruppierungen stellen gleichzeitig unter dem Motto „Danke, Rote Armee“ den Einmarsch der Sowjettruppen symbolisch nach. Sogar ein russischer Jeep ist dabei. Ein Redner verkündet bei dieser Gelegenheit, Kardinal Ratzinger sei nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Vergangenheit als Hitler-Junge zum Papst gewählt worden.
Und dann gab es noch die „Aktion Gedenkzug“, zu der junge Menschen aus ganz Deutschland, ja sogar aus Wien angereist waren. Sie finden weltweit Beachtung: Fernsehstationen bis nach Südamerika senden Bilder von diesem Aufmarsch, auch die internationale Presse berichtet, sogar Pekings größte Tageszeitung bringt einen Bildbericht.
„Sonderbefehl“, liest der englische Bildhauer Steve Hurst, der zu einer Ausstellung seiner Werke am Mittag des 8. Mai 2005 in Berlin angereist ist, „jeder Deutsche nur 20 kg Gepäck.“ Vor einem Pferdewagen geht ein junger Mann, die Füße mit Lumpen umwickelt; eine junge Frau hält das Bild eines Säuglings empor: „Wo ist Uwe? Auf der Flucht bei Frankfurt/Oder verloren.“ Ein Zug verkleideter Elendsgestalten schleppt sich durch die Innenstadt: Großmütter mit zerbeulten Lederkoffern, kleine Mädchen mit Zöpfen, Männer mit blutgetränkten Verbänden. Schweigend schieben sie alte Kinderwagen, ziehen quietschende Handkarren hinter sich her. Taxifahrer wie Touristen sind stehengeblieben, knipsen. „Wir sind die Toten“, vergegenwärtigen ihnen die rund hundert historisch Kostümierten immer wieder – „ausgebombte, verwundete, kriegsgefangene Opfer des 8. Mai 1945 im Nachkriegsberlin“.
Veranstalter ist die „Aktion Gedenkzug“, eine unabhängige Initiative von Studenten und Schauspielschülern. Das Kriegsende hat für sie zwei Gesichter: „Der 8. Mai hat uns erlöst und vernichtet in einem“, zitierten sie in ihrem Flugblatt Theodor Heuss. „Für viele beginnt das Leid erst jetzt. Osteuropa erlebt den stalinistischen Terror. Hunderttausende sterben bei ‚nationalen’ Säuberungswellen in Frankreich. Mehr Deutsche werden sterben als im gesamten Krieg.“
„Wir sind gegen die gängige Einteilung in politisch korrekte und politisch unkorrekte Opfer“, erklärt Reinhard, einer der Mitveranstalter, „wir wollen nichts ausklammern. Nur eine ganzheitliche, umfassende Erinnerung kann heilend sein.“ Dies ist nicht ihre erste Aktion: „Als mittelalterliche Gaukler verkleidet, sind wir im Sommer 2003 durch Thüringen gezogen und haben Straßentheater gespielt“, erzählt Ulrich, ein 29jähriger Schauspielschüler.
„Wir haben versucht, möglichst authentische Kostüme und Requisiten aufzutreiben – auf Flohmärkten, in Omas Kleiderkiste oder bei Ebay“, ergänzt Marie (27). „Aus unserem Fundus haben wir dann alle versorgt, die über unsere Pressemitteilung kurzfristig mitmachen wollten, aber unzureichend kostümiert waren.“ Alle wurden weiß geschminkt und mit Mehl bestäubt. „Einiges ist noch original von der Flucht“, bemerkt die Germanistikstudentin, „die Bollerwagen zum Beispiel, und auch der große Leiterwagen.“ (Der steht inzwischen im Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg.) Ihr Ziel? „Mit der ganzen Familie ein Zeichen setzen“, bekundet Thomas, Filmemacher und junger Familienvater, „vor den Augen all derer, die feiern und gar keine Ahnung haben!“
Vom Checkpoint Charlie ziehen sie über den Potsdamer Platz zum Fest des Berliner Senats am Brandenburger Tor. Hier feiert man – als Tag der Befreiung – mit Bier und Bratwurst den „Tag für Demokratie“. Zwischen gummibärchenverteilenden Parteien, Gewerkschaften mit Luftballons und Gruppierungen wie „Hände gegen Rechts“ regt der Zug zum Nachdenken an. „Seid ihr von einem Vertriebenenclub – oder ist das Kunst?!“ fragt eine Frau vom DGB irritiert. Die meisten Zuschauer zeigen sich fasziniert: „Fast wie echt“. „Es war richtig, daß die Deutschen vertrieben wurden!“ bleibt ein vereinzelter Zwischenruf. Eine Gruppe bosnischer Flüchtlingsfrauen beginnt zu weinen. Man sieht Rentner mit Tränen in den Augen. „Ich habe mich gefragt, wie es wohl wäre, eines Tages selbst einmal Flüchtling zu sein“, gesteht eine junge Frau.
„Noch Stunden später, als wir vereinzelt durch Berlin gingen, sprachen Leute uns an: sie hätten eine Gänsehaut, einen Schauder empfunden, als wir an ihnen vorbeizogen“, erinnert sich Marie. „Auch international fand unsere Aktion Beachtung“, ergänzt Reinhard, „neben vielen deutschen Zeitungen hat uns auch ‚Le Monde’ abgebildet, wir waren weltweit im Fernsehen zu sehen.“
„Als Europäer betrachte ich das schreckliche Leid des 20. Jahrhunderts als einen Bürgerkrieg oder Bruderkampf. In Europa gab es keine Sieger – nur Tod, Elend und Zerstörung. Statt Freiheit erwartete Europa die Aufteilung in zwei Machtblöcke.“ Wochen später erhält die Gruppe Post aus England – es sind Skizzen von Steve Hurst: „Ich habe die Gelegenheit, das, was mir wie ein Geisterzug erschien, zu zeichnen, sehr geschätzt.“
Weitere Aktionen sind geplant.
Kontakt:
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