Hartnäckig hält sich bis heute das Gerücht, der Kreml habe das nördliche Ostpreußen für 35 Milliarden D-Mark an Deutschland verkaufen wollen. Diese Meldung kursierte, als die kommunistische Herrschaft in Europa vor eineinhalb Jahrzehnten zusammenbrach. Moskau dementierte. Doch der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher muß die Offerte für echt gehalten haben. Denn er reagierte mit der entlarvenden Bemerkung, er wolle das Königsberger Gebiet „nicht einmal geschenkt“ bekommen.
Nordostpreußen ist für den Kreml mehr Last als Lust. Das Land ist verwüstet, die Böden versteppt und die Häuser verfallen. Der von den Kommunisten in sechs Jahrzehnten ruinierte Landstrich schien für Moskau vor allem militärischen Wert zu besitzen. Sogar nach dem Zerbersten des Sowjet-Imperiums: Solange die Russen noch glaubten, sie könnten den Beitritt der baltischen Staaten zu EU und NATO verhindern, stationierten sie große Restbestände der Roten Armee in ihrer Exklave „Oblast Kaliningrad“.
Die beabsichtigte Einschüchterung der baltischen Staaten mißlang jedoch gründlich. Die Angst vor dem russischen Bären im Osten bewirkte bloß, daß Litauen, Lettland und Estland sich umso rascher dem Westen in die Arme warfen. Für die Kräfteverhältnisse innerhalb der EU ist heute bedeutsam, daß die Balten ihre äußere Sicherheit ausschließlich durch Washington garantiert sehen. Nicht durch Brüssel. Wenn es innerhalb der EU zu politischen Meinungsverschiedenheiten kommt – wie in der Irak-Frage –, dann steht das gesamte Baltikum stramm im anglo-amerikanischen Lager.
Zur Stunde ist von einem Verkauf Königsbergs keine Rede mehr. Der Besitzstand Rußlands gilt als unantastbar. Vom Territorium der einstigen Russischen Föderativen Sowjetrepublik – in den von Stalin geschaffenen Grenzen – darf kein Quadratmeter abgezwickt werden. Erobert ist erobert. Das gilt für alle Zeiten – meint Putin. Trotzdem pocht die Geschichte an die Tore seiner Kasernen. In diesem Jahr wird Königsberg 750 Jahre alt.
Natürlich wissen auch die Russen, daß diese einstige Perle unter den Städten Europas sieben Jahrhunderte lang deutsch war. Die heutigen 435.000 überwiegend russischen Bewohner nennen ihre Stadt zumeist „Kenigsberg“ oder kurz „Kenig“. Im Alltag verblaßt der amtliche Name „Kaliningrad“. Er wird immer unbeliebter, seit sich herumgesprochen hat, wer der Mann war, nach dem Stalin die Stadt 1946 benannte: Michail Iwanowitsch Kalinin zählte zu den Bluthunden des kommunistischen Terrors. Er war für viele Massenmorde verantwortlich. Auch für die Erschießung der in sowjetische Kriegsgefangenschaft geratenen polnischen Offiziere bei Katyn. (Die Polen meiden deshalb die Bezeichnung „Kaliningrad“ wie die Pest, bringen aber auch den deutschen Stadtnamen nicht über die Lippen, sodaß Königsberg einen weiteren Namen erhielt – einen polnischen eben: Krolewiec. So gelingt es, die Verwirrung zu perfektionieren.)
Am 1. Juli 2005 beginnen die offiziellen Feiern zum Jubiläum. Der Plan der Stadtverwaltung, die Festveranstaltung „750 Jahre Kaliningrad-Königsberg“ zu titulieren, scheiterte am Moskauer Veto. Putin will, daß gleichzeitig mit dem historischen Stadtjubiläum auch der Eroberung Königsbergs durch die Rote Armee im April 1945 gedacht wird. Nur in Verbindung mit dem Zusatztitel „60 Jahre Sturm auf Königsberg“ darf der deutsche Name der Stadt im Festprogramm genannt werden.
Die wichtigeren inoffiziellen Feiern, von Deutschen organisiert, finden von 5. bis 14. August 2005 unter der Bezeichnung „Königsberger Woche – Kalinin
grader Musiksommer“ statt. Nach dem Eröffnungskonzert in dem mit deutschen Geldern wiederherstellten Königsberger Dom – unter anderem wird Beethovens Neunte erklingen – stehen Vortragsveranstaltungen, Ausstellungen und ein Ökumenischer Gottesdienst auf dem Programm. Am 10. August spielen die „Kaliningrader Symphoniker“ sinnigerweise Ein deutsches Requiem von Johannes Brahms. Höhepunkt soll die Einweihung eines Denkmals für Herzog Albrecht werden, der 1544 die Königsberger Universität gegründet hat. Sie war (nach Marburg) die zweite evangelische Universität in Deutschland und trägt wieder ihren alten Namen: Albertina.
Einen Vorgeschmack auf den deutsch-russischen Spagat gab es schon 2001, als in Berlin der 300. Jahrestag der einst in Königsberg zelebrierten ersten preußischen Königskrönung festlich begangen wurde. Der russische Gouverneur von „Kaliningrad“, Admiral Wladimir Jegorow, sagte spontan zu, an der Feier teilzunehmen. Doch er kam nicht. Aus Moskau kam das „Njet“. Die zerrissene russische Seele will nicht allzu heftig an die deutsche Vergangenheit erinnert werden. In Königsberg selbst gab es zum Jubiläum 2001 nur ein paar Vorträge im Deutsch-Russischen Haus. Dieses war jahrelang die einzige deutsche Repräsentanz, denn das Auswärtige Amt zierte sich, ein deutsches Generalkonsulat zu errichten. Nichts sollte auch nur im entferntesten den Eindruck erwecken, Berlin erhebe Gebietsansprüche. Jetzt gibt es wenigstens in Zimmern des Königsberger Hotels „Albertina“ ein deutsches Generalkonsulat im Westentaschenformat.
Seit Jahren werden Pläne erörtert, Nordostpreußen in eine europäisch verankerte Freihandelszone umzuwandeln und deutsche Investoren anzulocken. Hauptinvestor ist bislang Litauen – mit schlappen 36 Millionen Euro. Deutsche Unternehmen lassen sich kaum blicken. Zu unattraktiv erscheint ihnen der Stand
ort. Dabei sucht Rußland heute den wirtschaftlichen Schulterschluß mit dem Westen. Präsident Putin ist von Kopf bis Fuß auf deutsches Geld eingestellt. Nach fast neun Jahrzehnten Finsternis will er seinem Volk ein Licht am Ende des Tunnels zeigen. Königsberg könnte sein Schlüssel werden, mit dem er Türen zur EU öffnet. Seit Polen und Litauen im Mai 2004 der Europäischen Union beitraten, ist das nördliche Ostpreußen vollständig von EU-Territorium eingeschlossen.
Ein Drittel der Bevölkerung des „Oblast Kaliningrad“ lebt unterhalb der Armutsgrenze. Königsberg hat die höchste AIDS-Rate in Europa. Die Schattenwirtschaft blüht. Zigarettenschmuggel zählt – sehr zum Verdruß der EU – zu den wichtigsten Einnahmequellen der im Elend versunkenen Bevölkerung. Trotz niedriger Geburtenraten wächst die Zahl der Russen, denn seit dem Kollaps der Sowjetunion werden ethnische Russen in den baltischen Staaten benachteiligt, vor allem dann, wenn sie die jeweilige Staatssprache nicht erlernen können oder wollen. Viele Russen wandern deshalb aus Estland, Lettland und Litauen ab. Zum Teil nach Königsberg.
Solange die Wirtschaft am Boden liegt und der Lebensstandard auf dem Niveau eines Entwicklungslandes verharrt, bleibt die Idee, durch Ansiedlung von Rußlanddeutschen eine „Re-Germanisierung“ einleiten zu können, pure Illusion. Rußlanddeutsche, die häufig aus Deportationsgebieten der früheren Sowjetunion zuziehen (viele aus Kasachstan), haben Anspruch auf deutsche Pässe. Königsberg ist für sie nur Zwischenstation. Sobald ihre Papiere komplett sind, ziehen sie weiter nach Deutschland. Die wenigsten wollen in Ostpreußen bleiben.
Da eine Rückbenennung auf den Namen Königsberg am Veto Moskaus scheitert, wird gelegentlich die Idee propagiert, die Stadt nach ihrem größten Sohn – Immanuel Kant – zu benennen. Freilich mit russischer Endung: Kantgrad. Auch das lehnt der Kreml ab. Solange Putin russischer Präsident ist, wird es wohl bei der amtlichen Bezeichnung „Kaliningrad“ bleiben. Die russische Verwaltung, die heute über die Geschichte der Stadt offen redet und das Grab von Immanuel Kant respektvoll pflegt, will Brücken nach Deutschland bauen. Das erwähnte Herzog-Albrecht-Denkmal, dessen Enthüllung für August geplant ist, wird das dritte deutsche Denkmal in der Stadt sein. Das Friedrich-Schiller-Denkmal hatte – als einziges – alle Zeiten überdauert. Und 1992 wurde mit deutschem Geld das Immanuel-Kant-Denkmal auf dem Universitätsgelände wiedererrichtet.
Königsberg liegt in der Mitte Europas. Die Hauptstädte Deutschlands, Dänemarks und Schwedens sind je rund 550 Kilometer entfernt. Nach Moskau ist es doppelt so weit. Nach Wien, Budapest, Kiew oder Oslo sind es jeweils ungefähr 800 Kilometer. Wirtschaftlich ist die strategische Bedeutung von Königsberg – in der Zukunftsperspektive – kaum zu überschätzen. Denn die Ostsee könnte sich zum „Mittelmeer des 21. Jahrhunderts“ entwickeln. Das am Südrand unseres Kontinents gelegene altehrwürdige Mittelmeer hat, streng genommen, nur in der Zeit des Römischen Reiches der Antike seinen Namen wirklich verdient. Heute erscheint es den Europäern zunehmend als Grenzmeer, als überdimensionierter Wassergraben, der vor Gefahren aus der islamisch-arabischen Welt schützt. Die Ostsee aber wurde durch den Beitritt Schwedens und Finnlands, der baltischen Staaten und Polens zum Binnenmeer der Europäischen Union.
Zar Peter der Große, der in Königsberg ebenfalls über ein Denkmal verfügt, begann vor drei Jahrhunderten mit der europäischen Expansion des Russischen Imperiums. Unter Stalin erreichten die Eroberungen ihren Höhepunkt. Von der einst stolzen militärischen Macht ist heute freilich nicht viel mehr als ein Trümmerhaufen übriggeblieben. Auch in Königsberg. Das veraltete Gerät verrostet, der Ruhm ist verblichen. Das Hauptproblem der russischen Armee ist heute nicht die NATO, sondern der Alkoholismus. Wenn „alkoholabhängige Offiziere“, schreibt die Königsberger russische Zeitung „Nowi Kolossa“, Zugang zu schweren Waffen haben, dann „ist dies unverantwortlich und gefährlich“. Die Offiziere, so berichtet das Blatt weiter, verscherbeln quietschvergnügt Militäreigentum: „Selbst vor den Bäumen auf dem Manövergelände machen sie nicht halt und verkaufen diese an private Firmen. Es gibt dort nur Sauferei und Geschäft, sonst nichts.“
Die einzige Hoffnung für die Menschen im Königsberger Gebiet liegt in der Anlehnung an die EU-Nachbarn. Der Vorgänger von Admiral Jegorow im Gou
ver
neurs
amt, Leonid Gorbenko, erklärte offenherzig, er wolle statt der vielen Soldaten „lieber Karawanen mit Lebensmitteln sehen“. Aus dem goldenen Westen. Moskau kann der Frage, in welcher Form sein Raubgut „Kaliningrad“ in Europa integriert wird, nicht länger ausweichen. Die Optionen liegen auf der Hand: Aus Nordostpreußen könnte ein zweites Luxemburg im Rahmen der EU werden; oder ein „Hongkong an der Ostsee“, das (so wie die frühere britische Kolonie heute zu China) völkerrechtlich zu Rußland gehören würde, durch eine Sondergesetzgebung aber trotzdem wirtschaftlich ein Teil der westlichen Welt wäre. Der frühere Bundestags- und Europaratsabgeordnete Wilfried Böhm ist überzeugt, „daß sich aus dieser Stadt mit deutscher Geschichte und russischer Gegenwart eine Stadt mit europäischer Zukunft entwickeln kann“. Gerade für die Russen ist diese Perspektive attraktiv: sie wären ein Bleigewicht los; und sie besäßen mit einem „europäisierten Königsberg“ eine – vor allem für Geldboten und Goldesel begehbare – Brücke zur Europäischen Union.
Wladimir Putin, der neue Zar, will die gefühlsmäßige Bindung vieler Deutscher zu Ostpreußen für die wirtschaftliche Entwicklung seiner Kolonie an der Ostsee nutzbar machen. Den Vertriebenen bietet er jedoch nicht die geringste Gegenleistung an. Mit Deutschen, glaubt der Kreml, kann man so verfahren. Sie lassen sich alles gefallen und öffnen trotzdem das Portemonnaie. Doch die Russen haben nicht mit dem listigen Landtag von Schleswig-Holstein gerechnet, der einen Hintersinn für zivilisato
rische Hierarchien entwickelte. Die Kieler Abgeordneten schenkten ihren Kollegen im Königsberger Regionalparlament ausrangierte Computer sowie Bildschirme, die wegen zu hoher Strahlenbelastung nicht mehr den deutschen Gesundheitsnormen entsprechen. Die mit Kalaschnikow und Bettelstab ausstaffierten Russen picken so die Brotkrumen auf, die vom Tisch der betuchten Deutschen zu Boden fallen. Sieger und Besiegte.