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Papst Benedikts Visionen

Von Stephan Baier

Vertiefung, Festigung und Klarheit dürfen sich Katholiken von Benedikt XVI. erwarten


Sofort nach seiner Berufung zum Nachfolger Petri begannen die Spekulationen, ob der einst so „konservative“ Kardinal Ratzinger als Papst Benedikt XVI. nicht doch „progressiver“ sein werde. Andeutungsreich wurde behauptet, dieser Mann sei für „Überraschungen“ gut. Ein Blick in sein monumentales theologisches und philosophisches Werk gibt Aufschluß.

Man muß mehr als naiv sein, um anzunehmen, Papst Benedikt XVI. werde alle Einsichten und Erkenntnisse seines jahrzehntelangen theologischen Forschens über Bord werfen, um plötzlich jenen Zeitgeist-Medien und -Theologen zu gefallen, die seit Jahren auf ihn einprügeln. Schon das Leitwort, das er sich 1977 bei seiner Berufung zum Erzbischof von München-Freising wählte, „Cooperatores Veritatis“ (Mitarbeiter der Wahrheit), weist in eine andere Richtung: Dieser große Theologe, Kirchenfürst und nunmehrige Papst ist persönlich demütig, weil er seine Person – einschließlich seiner persönlichen Sehnsucht nach Harmonie, Ruhe und Akzeptanz – dem Anspruch der geoffenbarten und erkannten Wahrheit unterordnet. Die Menschen haben ein Recht auf die Wahrheit, und deshalb nimmt die Wahrheit in die Pflicht – ob es nun „ankommt“ oder nicht.
Hinsichtlich der Ökumene, zu der sich Kardinal Ratzinger in der Tradition des Zweiten Vatikanischen Konzils und gemäß der Linie Papst Johannes Pauls II. immer bekannte, werden nun Spekulationen laut, Papst Benedikt könne das Papstamt diminuieren, also auf ein für Nicht-Katholiken verträgliches Maß begrenzen. Doch bereits 1978 machte Kardinal Ratzinger darauf aufmerksam, daß es sich hierbei nicht um eine praktische oder rein rechtliche Frage handelt: „Die Wir-Einheit der Christen, die Gott in Christus durch den Heiligen Geist unter dem Namen Jesu Christi und von seiner in Tod und Auferstehung beglaubigten Zeugenschaft her gestiftet hat, ist ihrerseits durch persönliche Träger der Verantwortung für die Einheit zusammengehalten und stellt sich noch einmal personalisiert in Petrus dar – in Petrus, der einen neuen Namen erhält und insofern über sein bloß Eigenes hinausgehoben wird… In seinem neuen, das historische Individuum überschreitenden Namen wird Petrus zur Institution, die die Geschichte hindurchgeht“.
Auch in der Trennung gebe es „eine Einheit stiftende Funktion des Papsttums“: „Für das Papsttum und die katholische Kirche bleibt die Papsttumskritik der nicht-katholischen Christenheit ein Stachel, eine immer christus-gemäßere Verwirklichung des Petrusdienstes zu suchen; für die nicht-katholische Christenheit wiederum ist der Papst die bleibende sichtbare Herausforderung zu der konkreten Einheit, die der Kirche aufgetragen ist und ihr Kennzeichen vor der Welt sein sollte“. 1991 formulierte der damalige Präfekt der Glaubenskongregation: „Der römische Primat ist nicht eine Erfindung der Päpste, sondern ein auf den Herrn selbst zurückreichendes und in der werdenden Kirche getreulich entfaltetes Wesenselement der kirchlichen Einheit.“
Auch Spekulationen über eine Zurücknahme des im deutschen Sprachraum vielfach beklagten vermeintlichen „römischen Zentralismus“ lohnen sich nicht. Der Theologe Ratzinger wußte wohl, „daß die Kirche nicht einem zentral regierten Staat gleicht, in dem alle Provinzen nur Unterabteilungen eines einzigen Verwaltungsapparates sind“. Gegen manche Theologenmeinung, etwa geäußert von Kardinal Walter Kasper, wies Kardinal Ratzinger die These vom Vorrang der Ortskirchen vor der Universalkirche aber stets zurück. Er hielt fest, „daß die Ordnung der Einheit keine Ordnung bloß menschlichen Rechts ist, sondern daß Einheit zentrale Wesensbestimmung der Kirche ist und daß daher ihr rechtlicher Ausdruck im Amt des Petrusnachfolgers und in der Verwiesenheit der Bischöfe aufeinander wie auf ihn hin zum Kern ihrer heiligen Ordnung gehört, so daß der Verlust dieses Elements sie im Eigentlichen ihres Kircheseins verletzt“.
Bereits diese zwei Beispiele zeigen, daß es absurd ist, an den Papst oberflächliche, vom zeitgeistigen Liberalismus definierte oder politische Maßstäbe anzulegen. Dabei können zwangsläufig nur groteske Verkennungen und Verzerrungen herauskommen, wie auch viele Bewertungen Papst Johannes Pauls II. zeigen, den manche als innerkirchlich konservativ und sozialpolitisch progressiv charakterisierten. Der rechte Maßstab für das Handeln und Lehren der Päpste findet sich aber in der Kirche selbst, die – wie das jüngste Konzil wiederholte – „der geheimnisvolle Leib Christi“ und ein „Tempel“ des Heiligen Geistes ist. Im wörtlichen Sinn konservativ muß der Papst sein, weil seine Aufgabe darin besteht, den Glaubensschatz vor Irrtümern und die Gläubigen vor Irrwegen zu bewahren. Progressiv (vom lateinischen „progressus“) muß der Papst sein, weil er das „pilgernde Gottesvolk“ durch ein Stück seiner Geschichte, die nach christlicher Auffassung zugleich Heilsgeschichte ist, ihrem Ziel entgegenführt: fortschreitend, vorwärts – also dem auferstandenen und in Herrlichkeit wiederkehrenden Christus entgegen!

Kritiker des Relativismus

Die Sorge um den unversehrten und stets zu vertiefenden Glauben der Menschen beschäftigte Joseph Ratzinger als Priester, als Professor, als Erzbischof und als Kardinal. Sie bleibt wohl auch im Zentrum seiner Sorge als oberster Hirte der Christenheit. Zeitkritisch schrieb der Dogmatik-Professor Joseph Ratzinger bereits 1968: „Wer den Glauben inmitten von Menschen, die im heutigen Leben und Denken stehen, zu sagen versucht, der kann sich wirklich wie ein Clown vorkommen, oder vielleicht noch eher wie jemand, der, aus einem antiken Sarkophag aufgestiegen, in Tracht und Denken der Antike mitten in unsere heutige Welt eingetreten ist und weder sie verstehen kann noch verstanden wird von ihr.“ Zweifel und Ablehnung, Suchen und Fragen der Menschen unserer Zeit, so wußte Ratzinger längst, betreffen nicht Randgebiete der kirchlichen Verkündigung, sondern das Herz des Glaubens, nämlich die Wirklichkeit Gottes.
Die Relativierung des Christlichen durch religionsgeschichtliche Vergleiche, die Relativierung der Selbstoffenbarung Gottes durch die historisch-kritische Exegese, die Relativierung des Schöpfungsglaubens durch den Widerspruch der modernen Naturwissenschaft und schließlich die Relativierung jeglicher moralischer Verbindlichkeit durch ideologischen Subjektivismus: dies alles ist Joseph Ratzinger seit Jahrzehnten intellektuelle und – mehr noch – pastorale Herausforderung. Dabei weiß er durchaus um die anthropologischen Voraussetzungen aller Glaubenskrisen: „Der Mensch ist das schauende Wesen, dem der Raum seiner Existenz durch den Raum seines Sehens und Greifens abgesteckt scheint. Aber in diesem Raum seines Sehens und Greifens, der den Daseinsort des Menschen bestimmt, kommt Gott nicht vor und wird er nie vorkommen, wie sehr auch immer dieser Raum ausgeweitet werden mag.“ – Wo aber dann? Und was bildet den tragenden Sinngrund menschlicher Existenz, wenn doch die Erfülltheit unseres eigenen Lebens von der Sinnhaftigkeit der Wirklichkeit insgesamt abhängt?
Der von den Schriften der Kirchenväter geprägte Ratzinger machte deutlich, daß die frühe Kirche gegen „die Götter der Religionen“ und für den „Gott der Philosophen“ optiert habe, weil ja nur der Grund allen Seins Gott sein könne: eine „Option für den Logos gegen jede Art von Mythos, die definitive Entmythologisierung der Welt und der Religion“. Unter den drei großen Wegen in der Gottesfrage – Monotheismus, Polytheismus und Atheismus – relativiert sich der Polytheismus selbst, weil eine Vielzahl von Göttern nicht der letzte Grund des Seins sein kann. Ratzinger analysierte: „Wenn man behaupten darf, daß Hunger, Liebe und Macht die Kräfte sind, die die Menschheit bewegen, so kann man, dies verlängernd, feststellen, daß die drei Grundgestalten des Polytheismus die Anbetung des Brotes, die Anbetung des Eros und die Vergötzung der Macht sind. Alle diese drei Wege sind Verirrungen, Verabsolutierungen dessen, was nicht selbst das Absolute ist, und damit Verknechtungen des Menschen.“
Die „Erkenntnis der Einheit des Absoluten“ sei eine „Grundgegebenheit des menschlichen Bewußtseins, an der auch der Materialismus mit seiner Vorstellung von der Absolutheit der Materie festhält“. Ratzinger versucht demgegenüber die Vernünftigkeit des monotheistischen Gottesglaubens darzulegen, die „Durchsichtigkeit der Welt auf den Schöpfer hin“ plausibel zu machen. Konfrontiert mit der Frage nach Gott könne der Mensch die Größe und Schönheit seines Lebens als Geschenk empfinden und darin Sinn empfangen. Umgekehrt könne er auch das Offene, Unabgeschlossene seiner Existenz als Verweis darauf deuten, daß er sich eben doch nicht selbst genügt. „Sowohl die Bedürftigkeit der menschlichen Existenz wie ihre Fülle verweisen auf Gott.“

Gott handelt in der Geschichte

Im Gegensatz zu den drei monotheistischen Religionen, die sich auf eine Selbstoffenbarung Gottes berufen, steht für die asiatischen Religionen das Absolute jenseits des Personalen. Gott ist in dieser Sicht apersonal und die Person kein Letztes, weil Person immer auf dem Gegenüber von Ich und Du, also auf Trennung beruht. Als Professor Ratzinger formulierte Papst Benedikt XVI.: „Charakteristisch für solche Mystik ist die Identitätserfahrung: Der Mystiker sinkt unter im Ozean des All-Einen, gleich ob dieses in betonter theologia negativa als ,Nichts‘ oder positiv als ,Alles‘ geschildert wird. In der letzten Stufe solchen Erlebens wird der ,Mystiker‘ zu seinem Gott nicht mehr sagen ,Ich bin Dein‘, sondern seine Formel lautet ,Ich bin Du‘. Die Differenz ist zurückgelassen im Vorläufigen, das Endgültige ist die Verschmelzung, die Einheit.“
In einem unüberbrückbaren Gegensatz dazu steht die Gotteserfahrung der Propheten: „Die Erfahrung der Aktivität und Personhaftigkeit Gottes beruht auf einem gänzlich anderen Gesamtverhältnis zur Wirklichkeit als die Identitätsidee des Mystikers“. Mose, Jesus und Mohammed, und in ihrer jeweiligen Nachfolge Judentum, Christentum und Islam bekennen „das unaufhebbare Gegenüber von Schöpfer und Geschöpf“. Gott, der Schöpfer, ist vor und über aller geschaffenen Wirklichkeit, vor und über der Welt und der Zeit. Zugleich ist es bib
lischer Glaube, daß der Ewige in die Zeit hinein wirkt, daß Gott in die Geschichte seiner Schöpfung, in die Geschicke seiner Geschöpfe machtvoll eingreift.
Im Unterschied zum antiken und zu dem derzeit – vom bisherigen Kardinal Ratzinger hellsichtig diagnostizierten – wiederkehrenden „subtilen neuen Gnostizismus, der Gott die Materie wegnimmt“, zeigt die Bibel einen geschichtsmächtigen Schöpfer, der den Weg seines Volkes durch die Zeit machtvoll begleitet. Dieser Gott läßt sich nicht auf die Innerlichkeit unserer Subjektivität reduzieren, so als ob er seinen Platz im Emotional-Subjektiven hätte, während die Welt der Materie anderen Gesetzen gehorchte. Ein solcher Gott wäre ja, wie Ratzinger jüngst formulierte, „kein Gott, sondern nur noch ein Element der Psychologie und der Vertröstung“. Joseph Ratzinger zieht die christologische Konsequenz: „Deshalb ist die Empfängnis Jesu aus der Jungfrau so wichtig: Gottes Geist kann Neues schaffen, in der leibhaftigen Welt, in die Welt des Leibes eingreifen. Und deswegen ist es so wichtig, daß Auferstehung nicht zu einem Interpretament verflüchtigt wird, während man den Leib Jesu im Grab verwesen läßt. Nein, die Materie ist Gottes“.
Ratzinger widerspricht damit dem Ansatz zur aufklärerisch inspirierten Verflüchtigung des Christentums in reine Spiritualität hinein, und zugleich dessen Profanisierung zur bloßen Handlungsanleitung praktischer Weltverbesserung.
Der biblische Glaube, so betonte Ratzinger immer und immer wieder, bekennt einen „geschichtlich handelnden Gott“, der wirkmächtig in die Geschichte der Menschheit und in das Leben des einzelnen Menschen einzugreifen vermag: „Er hat Macht über den Menschen und die Welt, auch heute; der Mensch hat mit ihm zu tun, Gott kann ihn hören und Gott kann zu ihm reden. Gott kann ihn lieben, und der Mensch kann seine Liebe empfangen.“ Darum muß sich der Mensch nicht selbst – etwa durch einen Descartes´schen Vernunftschluß – aus dem „Sumpf der Ungewissheit“ emporziehen. Er muß sich den Sinn des Lebens nicht selbst erfinden oder machen – weil selbstgemachter Sinn auch keiner wäre. Dem Menschen ist vielmehr von Gott selbst gegeben und zugesagt, wovon er leben und wofür er sterben kann.

Die wahre Einheit der Menschheit

Als theologischer Lehrer und als Hirte der Kirche wehrte sich Joseph Ratzinger stets gegen eine Entrückung Gottes ins rein Spirituelle, ins Subjektive und deshalb auch gegen eine Spiritualisierung des Auferstehungsglaubens: Auferstehung bezeichnet ein „Handeln Gottes, das allem menschlichen Tun vorausgeht“ und kündet uns die Botschaft, „daß die Macht des Todes, die eigentliche Konstante der Geschichte, an einer Stelle durch Gottes Macht zerbrochen worden und damit der Geschichte eine gänzlich neue Hoffnung eingesenkt worden ist“. In der Auferweckung Jesu erweist der Gott des Lebens seine „letzte Gutheit und Mächtigkeit“. Das nicht auf rahnersche Kurzformeln reduzierbare Credo der Kirche, das Gott als „Vater“ und als „Allherrscher“ bekennt, also Familiäres und kosmische Machtfülle zugleich in Gott festmacht, bringt laut Ratzinger das Wesentliche des christlichen Gottesbildes auf den Punkt: „die Spannung von absoluter Macht und absoluter Liebe, absoluter Ferne und absoluter Nähe, von Sein schlechthin und von unmittelbarer Zugewandtheit zum Menschlichsten des Menschen“.
Damit ist keineswegs einem radikalen Individualismus in der Gottesbeziehung das Wort geredet, denn dieser wurzelt ja gerade in dem von Ratzinger abgelehnten religiösen Subjektivismus, in einer unbiblischen Spiritualisierung des Wirkens Gottes. Der Mensch ist aber keine Monade, die sich in individueller Vereinzelung ein Gottes-Bild und eine Gottes-Beziehung konstruiert. Im Gegenteil: „Gott ist die vereinigende Macht, die die Menschen aus ihren gegenseitigen Verschlossenheiten herausholt und zueinander führt“, wie Kardinal Ratzinger vor kurzem schrieb. Indem sich Gott offenbart, überwindet er das Subjektive des religiösen Strebens und Suchens: „Das innerste Ziel der Offenbarung ist die Einheit der Menschheit.“
So funktioniert auch Glaubensweitergabe nur in Gemeinschaft und durch Gemeinschaft: „Gott wird durch Menschen bekannt, die ihn kennen, sich ihm zur Verfügung halten, ihm Raum schaffen in der Welt. Der Weg zu Gott führt konkret immer wieder über den Menschen, der schon bei Gott steht. Er führt nicht durch das reine Nachdenken, sondern durch die Begegnung… Gotteserkenntnis ist ein Weg; er heißt: Nachfolge. Sie erschließt sich nicht einem Unbeteiligten…“. Entscheidend sei: „Die Rede von Gott verliert ihre einende Kraft und wird zur spaltenden und leeren Theorie, wo sie nicht mehr aus dem Erfahrungszusammenhang lebendigen Redens mit Gott hervorkommt. Ohne Gebet vertrocknet die Predigt von selbst.“ Glaube hat also keinen Bestand ohne das Gebet, und auch nicht ohne die Kirche. In einem vielkritisierten Vortrag in Frankreich sagte Ratzinger 1983: „Glaube ohne Kirche gibt es nicht… Heute sehen wir, daß es nur im Kontext des gemeinschaftlichen Glaubens der Kirche möglich ist, die Bibel wörtlich zu nehmen und das in ihr Gesagte als Wirklichkeit, als Tatsache dieser unserer Welt und als Geschichte zu glauben.“
Offensichtlich ist, daß die Krise der Theologie mitverantwortlich ist für das, was Ratzinger den „beziehungslosen Pluralismus subjektiv geprägter Auswahlchristentümer“ und einen „Pluralismus des Zerfalls“ nennt. Als Theologe mahnte er die Theologen: „Das Höchste haben wir nicht erreicht, wenn wir uns bestätigt, uns dargestellt, uns ein Monument gesetzt haben. Das Höchste haben wir erreicht, wenn wir der Wahrheit näher gekommen sind.“ In seiner „Theologischen Prinzipienlehre“ zeigte sich Ratzinger überzeugt, „daß letztlich nur die Theologie verbürgen kann, daß das metaphysische Suchen offenbleibt; wo die Theologie dies verläßt, wird auch für die Philosophie der Weg abgeschnitten, um die Frage nach dem Grund bis zu ihrer letzten Radikalität zu stellen… Theologie hat es mit Gott zu tun, und sie fragt philosophisch“. In einer solchen metaphysischen Ausrichtung der Theologie liege kein Verrat an der Heilsgeschichte. Im Gegenteil: Theologie „muß den Primat der Wahrheit aufrechterhalten“. Die Aufgabe der Bischöfe sei es hierbei, „die Stimme des einfachen Glaubens und seiner einfachen Ureinsichten zu verkörpern, die der Wissenschaft vorausliegen“.

Warner vor einer Sakralisierung des Politischen

Welche Rolle wies Kardinal Ratzinger dabei der Politik und dem Staat zu? Er warnte nicht nur in offiziellen Instruktionen, sondern auch in Interviews und Aufsätzen vor einer totalen Politisierung der menschlichen Existenz und vor einer Sakralisierung des Politischen sowie vor der „Versuchung, das Evangelium vom Heil auf ein irdisches Evangelium zu reduzieren“.
Gegen den im Marxismus, aber auch in Strömungen der Befreiungstheologie propagierten „Mythos der Revolution“, der den politischen Umsturz als Heilsereignis und Weg zum Reich Gottes erklärt, meinte der damalige Präfekt der Glaubenskongregation: „Die Einordnung der Politik in die Seinslehre und die Behandlung des Seins nach dem Muster des physikalischen Seins und seiner Montierbarkeit in der Maschine ist kennzeichnend für ein Projekt, das Freiheit in ein kollektives und prozessuales Geschehen umwandelt, in dem mit der Verläßlichkeit und Endgültigkeit einer Maschine das Produkt ,Neuer Mensch? hervorgebracht wird.“
Jesu Antwort auf die Frage nach der kaiserlichen Steuer deutete Ratzinger 1987 so: „In seinem Wort, daß dem Kaiser das Seine und Gott das Seine zu geben sei, trennt Jesus Kaisermacht und Gottesmacht. Er nimmt das ius sacrum aus dem ius publicum heraus und zerschneidet damit die Grundverfassung der antiken, ja, überhaupt der vorchristlichen Welt.“ Jesus beende damit den sakralen Anspruch der Politik: Auch der Kaiser (die Politik) hat Gott das Seine zu geben. Ratzinger analysierte einen „säkularen Messianismus … wie er im Marxismus erschienen ist“, eine „auf die Geschichte übertragene Evolutionslehre“, den naiven „Fortschrittsglauben“, in dem die Evolution „an die Stelle Gottes getreten“ ist. Die Schreckensbilanz des 20. Jahrhunderts läßt ihn nach einer „Entmythisierung“ der Politik rufen: „Der Götze Zukunft frißt die Gegenwart; der Götze Revolution ist der Gegenspieler rationalen politischen Handelns auf wirkliche Verbesserung der Welt hin.“ Kardinal Ratzinger plädierte zuletzt in seinem jüngsten Buch „Werte in Zeiten des Umbruchs“ für eine „nüchterne Sicht des Staates“, der in seiner Profanität zu achten und auch notwendig sei: „Er hat seinen Bereich, den er nicht überschreiten darf; er muß das höhere Recht Gottes respektieren.“
Gegen die Befreiungstheologie hielt Ratzinger am Vorrang der Person vor den Strukturen fest: Die vielfältigen Unterdrückungen, die aus der Knechtschaft der Sünde kommen, schänden und mißachten die Würde des Menschen, der zur Gotteskindschaft berufen ist und sich – inspiriert vom Evangelium – nach einem brüderlichen und gerechten Leben sehnt. „Diese Sehnsucht drückt eine echte, wenn auch dunkle Wahrnehmung der Würde des Menschen aus“, schrieb Kardinal Ratzinger. Die Sünde bringt also zunächst „die Beziehung zwischen Mensch und Gott in Unordnung“ und ist dann auch der Ursprung der Ungerechtigkeiten zwischen den Menschen. Weil die Wurzel des Bösen, wie Ratzinger formulierte, in den freien und verantwortlichen Personen liegt, deshalb wird der Mensch durch die Bekehrung zu Christus neu: Nicht „in einer völligen Autarkie des eigenen Ich“ verwirklicht sich der Mensch, sondern in der Bindung an Gott und an die Mitmenschen.
Als von Gott geschaffen und an ihn rückgebunden, sind der Mensch und seine Freiheit begrenzt und irrtumsanfällig: „Durch die Sünde beabsichtigt der Mensch, sich von Gott zu befreien. In Wirklichkeit aber macht er sich zum Sklaven.“ Ja, laut einer Instruktion aus Kardinal Ratzingers Feder, „entfremdet er sich von sich selbst“ und legt damit den Keim zu allen anderen Entfremdungen in menschlichen Gemeinschaften. Die Bekehrung ist also die tiefste Quelle der Befreiung des Menschen: „Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit.“

 
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