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Die Russlanddeutschen in der alten und neuen Heimat

Von Waldemar Weber

Das heutige Bewusstsein eines deutschen Bundesbürgers ist eher staatsbürgerschaftlich und sprachlich geprägt als ethnisch. Die meisten Rußlanddeutschen sind nicht in Deutschland geboren, haben die deutsche Staatsbürgerschaft nie besessen, durch die gewalttätige Assimilation der letzten 60 Jahre ist ihnen auch ihre deutsche Muttersprache abhanden gekommen. Das Deutschtum der neuen Generation erschöpft sich darin, deutsche Eltern zu haben. Es sind fast drei Millionen Menschen, die noch vor einigen Jahren in allen Ecken des riesigen russischsprachigen Raums der sogenannten GUS lebten und nun zu Bürgern Deutschlands geworden sind. Wenn man noch all diejenigen dazuzählt, die in den letzten Jahrzehnten von den rückgewanderten Rußlanddeutschen geboren wurden und in großem Maße zweisprachig aufgewachsen sind, kommt man auf eine Zahl von annähernd sechs Millionen Menschen. Sie alle schaffen Verbindungen zu ihren Herkunftsländern und könnten zu einer zuverlässigen Brücke zwischen Rußland und Europa werden.

Wir können aber nicht nur bei dieser schönen Vision bleiben, die Realität sieht nicht so rosig aus. Man erinnere sich bloß an die Aussage des ZK-Sekretärs Michail Zimjanin aus dem Jahre 1985, am Anfang der Perestrojka. Damals sagte er in Hinblick auf die Deportation: „Die Sowjetmacht hat gegenüber den Deutschen einen Humanismus höchster Probe bewiesen. Unser Gewissen ist rein. Präventivmaßnahmen waren damals im Kampf gegen den blutrünstigen Feind berechtigt.“ Doch kein Schrei der Empörung aus der Welt der Forschung, der Politik und der Medien ging damals wie später durch die Lande.
Dennoch haben die Rußlanddeutschen bis zum Jahre 1991 in der Hoffnung gelebt, ihre Rechte würden wiederhergestellt. Trotz der antideutschen Hysterie, die die kommunistische Partei und nationalistische Verbände im ehemaligen Gebiet der Wolgadeutschen Ende der 80er Jahren entfachten, weil die Rußlanddeutschen ihre Autonomie zurückhaben wollten, hofften sie weiter und verbanden ihre Hoffnungen mit dem Scheitern der Sowjetmacht. Im November 1991 unterschrieben Helmut Kohl und Boris Jelzin in Bonn eine gemeinsame Erklärung. Rußland versprach darin „die Wiederherstellung der Republik der Deutschen in den traditionellen Siedlungsgebieten ihrer Vorfahren an der Wolga sowie die Schaffung und Förderung von nationalen Bezirken für die Rußlanddeutschen in ihren gegenwärtigen Gebieten“. Zwei Monate danach, am 8. Januar 1992, nachdem der deutsche Beitrag, das heißt die Finanzierung dieser Maßnamen gesichert und das Geld auf russische Konten geflossen war, brach Jelzin sein Versprechen, das er nie vorhatte, einzuhalten. Während eines Treffens mit den Einwohnern des Gebiets Saratow schrie er ins Mikrophon: „Dort, wo es keine kompakte Ansiedelung der Wolgadeutschen gibt, das heißt, wo sie nicht die überwiegende Mehrheit haben, wird es keine Autonomie geben! Das garantiere ich Euch als Präsident. Eine andere Sache, sagen wir im Gebiet Wolgograd gibt es militärisches Versuchsgelände von 300.000 Hektar… dort, sagen wir, können sie sich niederlassen. Und das Land, das von Artilleriegeschossen vollgestopft ist, können sie bearbeiten. Und Deutschland wird ihnen helfen…“
Jetzt verstanden die Rußlanddeutschen endlich, daß sie nichts mehr zu suchen hatten in diesem Land. Der Präsident hatte sie als Volksgruppe für rechtlos erklärt. Für jene Hälfte von ihnen, die nun in den neuen mittelasiatischen Staaten lebte, trug er sowieso keine Verantwortung mehr, ebensowenig für die russische Bevölkerung dieser Länder. In den Jahren 1991 und 1992 übersiedelten 34.300 Rußlanddeutsche nach Deutschland, 801.000 stellten einen Ausreiseantrag. Die Russen und die anderen Völker schauten diesem Prozeß ruhig zu, es gab keine Stimmen, die dazu aufriefen, ihm etwas entgegenzusetzen. Der Exodus beendete die 400jährige Geschichte der städtischen und bäuerlichen Deutschen in Rußland, die so vieles zur eigentlichen russischen Geschichte beigetragen hatten.
Einer der Gründe dafür, warum die Russen ganz gleichgültig dem Exodus der Rußlanddeutschen zugeschaut haben, ist jener, daß Vertreibungen durch die Grausamkeiten der sowjetischen Geschichte mittlerweile als etwas Selbstverständliches empfunden wurden und psychologisch nicht mehr als Verbrechen galten. Und die westlichen Demokratien haben mächtig dazu beigetragen. In meinem kleinen Verlag habe ich ein Buch mit dem Titel „Die Zone der totalen Ruhe“ herausgebracht. Es schildert die organisierte Tötung der Volksgruppe der Rußlanddeutschen, von Hunderttausenden zugrunde gerichteten Männern, Frauen und Kindern.
Niemand auf der Welt wußte von dieser Tragödie, niemand durfte von ihr wissen. Auch im Westen herrschte über die Verbrechen im Osten totales Schweigen. Zur gleichen Zeit, als der Nürnberger Prozeß lief, wurden Millionen von Deutschen aus ihrer Heimat vertrieben. Es wurden Deportationen mehrerer Völker der Sowjetunion nach Sibirien und in die Lager des Gulag fortgesetzt, es wurden Hunderttausende von Kriegsgefangenen zu Zwangsarbeit nach Rußland geführt – und das alles auf Beschluß, Billigung oder stilles Dulden derselben Mächte, deren Vertreter in Nürnberg zusammen mit Stalins Henkern über nationalsozialistische Kriegsverbrechen befanden. Bis dahin haben die Sieger in der europäischen Geschichte dem Besiegten ihren Willen diktiert, aber sie gingen nicht von der Idee der Rache aus, die der christlichen Natur fremd ist. Die Verwirklichung der Rache auf Beschluß eines Bundes christlicher Staaten war etwas Neues in Europa.
Im Jahre 2001 hat die Duma in Moskau Präsident Putin aufgefordert, sich am 28. August, anläßlich des 60. Jahrestages der Deportation, für Verbrechen der Sowjets bei den eigenen Deutschen zu entschuldigen. Der Beschluß der Parlamentarier erinnerte, daß die Rußlanddeutschen „das einzige repressierte Volk Rußlands sind, das bis jetzt politisch nicht rehabilitiert ist“. Es ist auch das einzige Volk, dem die Wiederherstellung der Autonomie verweigert wurde. Die Parlamentarier hofften, daß für Putin, der im September 2001 Deutschland besuchte, eine solche Geste hilfreich wäre. Das hat jedoch leider nicht stattgefunden. Offenbar war dieses Argument für Putin nicht überzeugend genug, weil er wußte, daß diese Frage für die regierende rot-grüne Koalition in Deutschland keine Rolle spielte. Obwohl es in dieser Angelegenheit keine Verjährungsfrist gibt, wird die offizielle Rehabilitierung der Rußlanddeutschen seitens der Bundesrepublik von Rußland nicht mehr gefordert.

Rußlanddeutsche in Ostpreußen

Über eine Million der Rußlanddeutschen lebt noch in Rußland, Kasachstan und anderen mittelasiatischen Republiken. Was diese in Rußland verbliebenen Deutschen betrifft, möchte ich nur über eine kleine Gruppe berichten, und zwar über die Einwohner des heutigen Ostpreußens, wo (laut der Volkszählung von 2002) 6.000 Rußlanddeutsche leben. Sie stellen den Rest der großen Einwanderungswelle aus verschiedenen Teilen der ehemaligen SU in den 90er Jahren dar, als rund 60.000 Rußlanddeutsche nach Ostpreußen strömten. Daß die meisten von ihnen nicht in Ostpreußen geblieben sind, hängt mit der Zurückhaltung der deutschen Regierung in dieser Frage zusammen, die der russischen Seite gegenüber demonstrativ zeigen wollen, daß sie an diesem früheren deutschen Erdstreifen nicht interessiert ist. Trotz der Bemühungen vieler privater deutscher Helfer konnte damit der gemeinsame deutsch-russische Wiederaufbau der Region Königsberg nicht gelingen, die meisten Rußlanddeutschen sind bald weiter nach Deutschland gezogen. Von den heutigen Rußlanddeutschen in Ostpreußen warten viele auf ihr Einreisevisum nach Deutschland, bei den anderen reichen die Deutschkenntnisse nicht zur Erlangung eines Visums aus; die nächsten bekommen die Einwanderungserlaubnis nicht, weil sie führende Positionen in der sowjetischen Gesellschaft, in Militär oder KGB bekleidet haben. Außerdem gibt es eine Gruppe, die in Rußland bleiben will, Ostpreußen aber als Wohnort gewählt hat, weil sie so nahe wie möglich bei ihren Verwandten in Deutschland leben möchte. Man kann deshalb mit der Existenz der Rußlanddeutschen im nördlichen Ostpreußen auch in der Zukunft durchaus rechnen. Wenn sich die russische Politik für das Gebiet Königsberg einmal ändert, würde Ostpreußen für viele in Sibirien und Kasachstan lebenden Deutschen wieder attraktiver werden, besonders für Menschen, deren andersethnische Partner nicht ins Ausland ziehen möchten. Doch ohne das eindeutige Engagement der deutschen Regierung und der deutschen Gesellschaft wird das nie zustande kommen. Die Russen müßten dazu durch das deutsche politische Establishment bewogen werden: erst dann werden sie begreifen, daß sie von solch einer Vision nur profitieren könnten.

Die Rücksiedler in Deutschland

Zurück zu den in Deutschland lebenden Rußlanddeutschen. Schon seit Anfang der 90er Jahre versuchte sowohl die Regierung Kohl und als auch die SPD-Opposition, die Zuwanderung der Rußlanddeutschen nach Deutschland zu begrenzen. Bis jetzt wird das Schicksal dieser Menschen nicht ernst genug genommen und es wurde nie nach einer wirklichen Lösung sondern nur nach einer Einwanderungsbegrenzung beziehungsweise einem Einwanderungsstopp gesucht. Bis jetzt hat die BRD kein Konzept der Integration dieser deutschen Volksgruppe in Deutschland, es wird aus dem Stegreif heraus gehandelt.
Die rußlanddeutschen Menschen, die nun in Deutschland leben, sind der Bundesrepublik für die Aufnahme sehr dankbar. Nur können sie die negativen Veränderungen der Politik in bezug auf sie nicht begreifen. Zu den allmählichen fortschreitenden Benachteiligungen gehörten das Teilen der Rußlanddeutschen je nach Einreisejahr in drei verschiedene Kategorien mit stufenweiser Reduzierung ihrer Rechte, die Verschärfung der Forderungen im Aufnahmeverfahren einschließlich des Sprachtests; die Reduzierung der Aufnahmequote auf die Hälfte mit dem Ziel, später weitere Reduzierungen zu erreichen, und schließlich Kürzungen bei den Integrationsmaßnahmen.
In den letzten Monaten gab es in den Medien eine regelrechte Kampagne der Verleumdung gegen die Rußlanddeutschen. Vom Ausschuss für Aussiedlerangelegenheiten der Bundesregierung wurde dieser Kampagne nichts entgegengesetzt. Keine Korrigierungen, keine Presseerklärungen. Es scheint zudem fast so, als versuche die Regierung mit allen Mitteln, das intellektuelle Potential der Rußlanddeutschen so niedrig wie möglich zu halten und ja nicht zu nutzen. Ihre Diplome und Zeugnisse werden kaum anerkannt, das Umschulungsgeld wurde auf ein Minimum reduziert. Ich vermute, das hat politische Gründe, denn wer braucht schon mündige Rußlanddeutsche, die nationales Bewußtsein besitzen, vorwiegend christlich-demokratische Parteien wählen und dabei noch politisch aktiv werden könnten.
Für die Rußlanddeutschen ist es schwer etwas dagegen zu unternehmen, weil sie kein Vertretungsgremium haben. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland ist politisch zu bedeutungslos, um etwas zu bewirken. Es ist fürwahr eine zwiespältige Situation, in der sich heute die Rußlanddeutschen befinden, die in den Ländern der GUS nie rehabilitiert wurden und gleichzeitig auch hier in der historischen Heimat auf Abneigung stoßen. Verschiedene rußlanddeutsche Gruppen haben an die Bundesregierung appelliert, ein Paket dringender Maßnamen zu beschließen, um die Aufnahme aller Aussiedler, die in ihre historische Heimat zurückgekommen sind, zu vereinheitlichen. Dafür müssen ihrer Meinung nach unbedingt die Rechtsnormen, die vor 1990 existierten, als Grundlage genommen werden. Es sind auch spezielle, neue Programme für die Integration der Jugendlichen notwendig, die sich der heutigen Situation anpassen.
Statt dessen hört man aus den Reihen der SPD und der Grünen Stimmen, die von jedem Rußlanddeutschen den individuellen Nachweis des Kriegsfolgenschicksals fordern. Die selben Politiker versuchen bei der Öffentlichkeit den Eindruck hervorzurufen, die Spätaussiedler seien für das Ansteigen der Kriminalität in Deutschland verantwortlich.

Unmenschliche Abschiebepraxis durch die rot-grüne Regierung

Die Praxis, die deutschen Aussiedler nur wegen schlechter Sprachkenntnisse abzuschieben, wird in der Bundesrepublik immer häufiger. Sie werden dafür bestraft, daß das deutsche Schulwesen in der Sowjetunion vernichtet wurde, daß sie oder ihre Väter wie Sand zerstreut wurden, daß der Gebrauch der deutschen Sprache praktisch verboten war. Zuwanderer anderer Nationalitäten müssen hingegen in Deutschland keinen Sprachtest ablegen. Bei den Rußlanddeutschen kommt es sogar dazu, daß kinderreiche Familien auseinandergerissen werden, weil ein Teil der Kinder den Sprachtest geschafft hat und der andere nicht. Meistens wird der Sprachtest vor der Einreiseerlaubnis durchgeführt, er kann aber in Deutschland wiederholt werden, wenn die deutsche Behörde es für notwendig hält. So kenne ich einen Fall, wo zwei von sieben Kindern einer Familie, die den Sprachtest nicht bestanden haben, zurück nach Kasachstan abgeschoben wurden. Etliche Familien wurden erst nach einigen Jahren abgeschoben, nachdem sie sich schon integriert hatten, die Eltern arbeiteten und die Kinder in der Schule erfolgreich lernten: nur weil die Familie im ersten Aufnahmelager die Deutschkenntnisse nicht genügend nachweisen konnte. Der Sprachtest für die Rußlanddeutschen wurde im Jahre 1995 noch von der schwarz-gelben Regierung unter dem Druck der Opposition eingeführt. Im neuen Zuwanderungsgesetz sollen diese Maßnamen drastisch verstärkt werden, jetzt muß jedes Familienmitglied, auch der nichtdeutsche Ehepartner den Sprachtest ablegen – Regelungen, die für hunderttausende nichtdeutsche Ausländer, die in die Bundesrepublik strömen, selbstverständlich nicht gelten.
Es gibt sogar immer mehr Fälle, daß die Menschen beschuldigt werden, die Sprache zu gut zu kennen, da heißt es: die Sprache sei erlernt, sei hochdeutsch und nicht von der Familie überliefert. Man vergißt dabei, daß die städtischen Deutschen von Moskau, Petersburg, Astrachan, Saratow, Samara, Odessa oder Tiflis oft keinen Dialekt sondern hochdeutsch sprachen. Ganz bewußt werden mit solchen Methoden hunderttausende Menschen deutscher Nationalität an der Einreise nach Deutschland gehindert.

Die Rußlanddeutschen integrieren sich gut

Dabei sind die Rußlanddeutschen im Gegensatz zu anderen Einwanderern keine Belastung für Deutschland. Ich möchte das am Beispiel einer deutschen Familie aus Kasachstan illustrieren: Maria und Oskar Schulz, die in Leipzig leben, feierten im vorigen Sommer ihre goldene Hochzeit. Die Geschwister dieses Ehepaares bilden in Deutschland eine große Verwandtschaft – 549 Personen, insgesamt 167 Haushalte, die in 46 Städten und Dörfern leben, fast ein Drittel noch in Herkunftsländern.
Die in Deutschland lebenden Personen besitzen Wohnungen und Häuser, 77,6 % haben einen festen Arbeitsplatz, 8,7% sind Rentner, 3,2 % sind arbeitslos und nur 19 Personen beziehen Sozialhilfe. Diese Statistik entspricht im wesentlichen dem bundesweiten Durchschnitt, man findet eine solche positive Statistik bei keiner anderen eingewanderten Volksgruppe.
Die Rußlanddeutschen sind keine Belastung für Deutschland, sondern langfristig gesehen ein wichtiger demographischer, ökonomischer und sozialpolitischer Gewinn. Dem Gutachten des „Instituts der Deutschen Wirtschaft“ nach haben die berufstätigen Rußlanddeutschen von 1989 bis zum Jahre 2000 in die gesetzlichen Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherungen mehr eingezahlt als die Aussiedler in Anspruch genommen haben. Die finanzielle Auswirkung der Aussiedler-Zuwanderung auf die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden sieht in diesen Jahren folgendermaßen aus: Die Zahl der Mehreinnahmen betrug 363,9 Milliarden DM, die Zahl der Mehrausgaben 228,8 Milliarden DM, das heißt: das Finanzierungssaldo, also der reine Gewinn der rußlanddeutschen Einzahlungen betrug 135,1 Milliarden DM. Diese Zahlen beweisen, daß die Aussiedler die Sozialversicherung und die deutsche Wirtschaft nicht nur nicht belasten sondern auch dazu beitragen, die angeschlagenen Haushalte zu sanieren. Darüber schreibt die Presse leider nicht. Die Quote der Arbeitslosen, die zwei Jahre und mehr nicht gearbeitet haben, ist bei den Rußlanddeutschen niedriger als bei den einheimischen Bundesbürgern und halb so hoch wie bei den eingewanderten Ausländern.

Teil gesamtdeutschen Schicksals

Daß das Schicksal der Rußlanddeutschen nicht nur die Sache der persönlich Betroffenen ist, sondern ein Teil des gesamtdeutschen Schicksals, ist dem heutigen deutschen Bundesbürger oft schwer zu erklären. Von den vielen weißen Flecken im bundesrepublikanischen Geschichtsbewußtsein befinden sich die Rußlanddeutschen in einem besonders großen. Die Tragik der heutigen Situation besteht auch darin, daß die konservativen christlichen Volksparteien, die jahrelang ihr Verbündeter waren, nun im Begriff sind, sie als Teil des deutschen Volkes aufzugeben, d. h. zu verraten. Sie sind heute im Prinzip bereit, dem neuen Auswanderungsgesetz im Bundesrat zu zustimmen.
Helmut Kohl und Volker Rühe haben mir 1988/89 in persönlichen Gesprächen versichert, die Rußlanddeutschen als Teil des Deutschen Volkes zu betrachten. Nicht die mangelhaften Deutschkenntnisse würden – angesichts ihres einmaligen schweren Schicksals – der entscheidende Faktor bei ihrer Nationalitätsbestimmung sein, sondern in erster Linie ihre deutsche Abstammung. Doch das Wort der Politiker ist kurzlebig. Schon 1990 erklärte das Bundesverwaltungsamt ausgerechnet die Sprachkenntnisse als entscheidend für die Volkszugehörigkeitsbestimmung der Deutschen aus Rußland. Dabei wußten die Politiker doch ganz genau, daß den Rußlanddeutschen ihre Muttersprache schon in den stalinistischen Lagern genommen worden war. Im Nachkriegsrußland deutsch zu sprechen, bedeutete für viele, Haß und Schikanen ausgesetzt zu sein. Es kann praktisch gar keine jüngeren Rußlanddeutschen mehr geben, deren Muttersprache Deutsch sei. Trotzdem sind die Deutschen aus Rußland und Kasachstan in ihrem inneren Gefühl nicht weniger deutsch als die Bundesbürger – vielleicht sind sie es sogar mehr. Diese Volksgruppe hat sich trotz aller Repressalien und des Sprachverlustes immer zu ihrer deutschen Volkszugehörigkeit bekannt. Für sie war und ist ihre deutsche Herkunft von entscheidender Bedeutung.
1988 habe ich Alfred Dregger, den Vorsitzenden der CDU/CSU- Bundesfraktion, an seine Worte im Deutschen Bundestag 1983 erinnert: „Die Bundesrepublik ist der Anwalt aller bedrängten Deutschen“. Darauf sagte er: „Solange ich lebe, werde ich zu diesen meinen Worten stehen.“ Alfred Dregger lebt nicht mehr. Männer wie ihn gibt es in Deutschland immer weniger.

Die Aufgabe der Rußlanddeutschen

Zweihundert Jahre im zaristischen Rußland, in der Sowjetunion und in der GUS haben die Rußlanddeutschen wesentlich geprägt. Einerseits haben sie althergebrachte Eigenschaften und Charakterzüge konserviert, andererseits viele Traditionen ihrer neuen Umwelt übernommen. Auch die Menschen in Deutschland haben sich seit dem 18. Jahrhundert stark gewandelt, insbesondere in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Das einzige, was die Rußlanddeutschen und die Deutschen in Deutschland heute verbindet, ist ihre „Blutsverwandtschaft“. Wieder ein Wort, in Rußland ganz normal und legitim, in Deutschland kaum noch auszusprechen!
Aber diese Verwandtschaft und die Tatsache der gemeinsamen Volkszugehörigkeit haben heute für die überwiegende Zahl der Deutschen in Deutschland keinen Wert mehr. Sie sprechen den Rußlanddeutschen ihre Volkszugehörigkeit ab und sehen in ihnen Russen, die sich einen deutschen Paß erschlichen haben. Dabei könnten gerade die Aussiedler so vieles für ihre alte/neue Heimat leisten.
Viktor Krieger, ein rußlanddeutscher Historiker aus Heidelberg meint, daß sie prädestiniert sind, gerade zur inneren Stabilisierung Deutschlands und Europas beizutragen: „man nehme nur ihre leidgeprüften Erfahrungen, die sie in einer multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft ihrer früheren Heimat gesammelt haben. Oder ihre noch größtenteils intakten familiären Strukturen, ihr Zukunftsoptimismus, der sich vor allem in der Kinderfreudigkeit ausdrückt (unter den Erstwählern werden sie bald bestimmt mehr als 5% ausmachen). Weiter könnte man auf die geschichtlichen Erfahrungen der Deutschen aus Rußland verweisen, die ein wichtiges Korrektiv zu dem sorgsam gepflegten deutschen Täterbild darstellen“.
Die Rußlanddeutschen sind in ihrer überwiegenden Zahl rußlandfreundlich. Sie sind von der russischen Lebensweise und Kultur geprägt und stammen heute zu einem guten Drittel aus den gemischten Ehen. Und sie alle haben Verbindungen zu ihrer Heimat, zu ihren entferntesten Ecken und Winkeln an der Wolga, im Kaukasus, der Ukraine und in Sibirien.
Auch Rußland ist heute, wo vielerorts geradezu eine Germanophobie gepflogen wird und Deutschland und die Deutschen von den Medien zum Symbol des Bösen stilisiert werden, erstaunlich germanophil. Deutschland ist heute in Rußland, wie es auf Neudeutsch heißt, geradezu „in“. Wie lange das dauern wird, ist freilich eine andere Frage. Von den Rußlanddeutschen aber könnten hier tragfähige Brücken gebaut werden – für die Zukunft tragfähige.
Zuerst aber ist eine vollständige und gute Eingliederung der Aussiedler von Nöten. Sicher liegt die Schuld an den bestehenden Problemen nicht nur bei den Bundesdeutschen. Wesentlich wäre aber, daß diese mehr über das Schicksal der Rußlanddeutschen und ihre heutige Situation erfahren. Die Beiträge in den Medien sind meist sehr oberflächlich und übersehen oft den psychologischen Aspekt des Problems. Bessere Kenntnisse wären jedoch die wichtigste Voraussetzung für ein gegenseitiges Verständnis.
Der Autor ist Schriftsteller und Verleger: 1944 in Westsibirien geboren, kam er schon in den 90er Jahren als Gastprofessor für Germanistik und Slawistik an verschiedene deutsche und österreichische Universitäten.

Literaturtip:


Gerhard Wolter, Zone der totalen Ruhe. Die Rußlanddeutschen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren. Berichte von Augenzeugen; 480 S., Waldemar Weber Verlag 2003; € 17,90

 
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