Bob Marley gehört zu den Pop-Ikonen der westlichen Welt. Untrennbar ist mit ihm der musikalische Begriff "Reggae" verbunden, eine Musik, die Marley erst in der Weltöffentlichkeit durchgreifend bekannt machte. Doch die wenigsten haben sich je mit den Hintergründen dieses Komplexes beschäftigt. So wie Reggae vielen oberflächlich nur als Gute-Laune-Musik an weißen Palmenstränden gilt, so steht Marley für andere nur als Sinnbild für eine letztlich inhaltslose "Rebellion". Popkultur bedient auf dieser Weise Bedürfnisse, die aus Defiziten der westlichen Lebensweise resultieren.
Ausgeblendet bleibt dabei eine mögliche gesellschaftlich-politische Brisanz von künstlerischen Persönlichkeiten wie Marley, wie überhaupt die Brisanz von Bedeutung erlangenden regionalen popkulturellen Phänomenen angesichts weltumspannender Vermarktungstendenzen. Rastafari, Reggae und auch Marley erscheinen unter diesem Aspekt als interessante Anschauungsobjekte.
Eng verbunden mit dem Reggae-Komplex ist die Bewegung der Rastafaris, die vor allem optisch durch ihre dicken Rastazöpfe und den häufigen Genuß von Marihuana (Ganja) auffallen. Bei dieser, der afroamerikanischen Identität verpflichteten, Bewegung existieren durchaus Parallelen zur deutschen Geschichte, zu Lebensreform, völkischen Landkommunen und antimodernen spirituellen Erlösungsutopien vom Anfang des 20. Jahrhunderts.
Ideologische Wegbereiter waren der 1887 geborene (und 1940 enttäuscht auf Jamaika verstorbene) jamaikanische Gewerkschafter Marcus Garvey und dessen Freund Leonard Howell. Garvey propagierte, beeinflußt durch ausländische schwarze Intellektuelle, die schwarze Emanzipation durch strikte Rassentrennung und die Rückkehr aller Menschen schwarzer Hautfarbe in ihre Ursprungsheimat Afrika, um dort ein entkolonisiertes „Empire of Africa“ zu gründen. Howell, der „erste Rasta“, predigte schließlich als erster die Göttlichkeit des äthiopischen Königs.
1930 nämlich erlangte die prunkvolle Krönung des Stammesfürsten Ras Tafari Makkonen zum 111. Herrscher von Äthiopien in Addis Abeba weltweites Aufsehen und gab schwarzen Reichs-Hoffnungen Nahrung. Der Kaiser erhielt den Titel „Haile Selassie I, Negus Negesti, King of Kings, Lord of Lords, Conquering Lion of Juda“. Er führte seinen Herrschaftsanspruch auf die Abstammung aus dem Hause David zurück. Äthiopien, damals traditionell als Sinnbild für das gesamte Afrika angesehen, schien einen schwarzen Messias geboren zu haben.
Die nach dem Namen des Kaisers benannte Rastafari-Lehre, welche rasch Zuwachs aus verunsicherten armen Schichten erhielt, beinhaltete mehrere Glaubensgrundsätze:
-Ras Tafari Haile Selassie I. ist der dreieinige Gott, Jahwe (bei den Rastas verkürzt zu „Jah“, der Lebensenergie).
-Afrika ist die Heimat des schwarzen Volkes.
-Die Heimkehr nach Afrika wird zur Erlösung aller in der Diaspora lebenden Afrikaner.
-Das kapitalistische „Babylon-System“ der Weißen ist ein untergehendes System des Unrechts.
-Die schwarze Rasse ist die Rasse des Ursprungs und überlegen.
Leonard Howell zog sich mit Anhängern in die Berge zurück, gründete das Rasta-Camp „Pinakel“. Dort wurde erstmals im großen Stil „Ganja“, das illegale Marihuana, als „heiliges Kraut“ gezüchtet. Man ernährte sich von Landbau, ließ sich die Haare nach dem Vorbild Selassies zu verfilzten „Dreadlocks“ wachsen, trommelte, tanzte und verweigerte weitere Steuerzahlungen an das „Babylon-System“. Als sich Howell, der einen Harem mit dreizehn Frauen unterhielt, aber selbst zum Gott erklärte, reagierten seine Anhänger allerdings verwirrt und widersetzten sich auch nicht, als 1954 die Polizei das Camp stürmte und Howell in eine Irrenanstalt abführte.
Rastafari wurde trotz vieler Rückschläge, Polizeirepression und der Straßengewalt ihrer militanten Anhänger eine weltweit beachtete Gegenbewegung zum kapitalistischen „Babylon-System“, das als unnatürlich, verlogen und von den Europäern oktroyiert interpretiert wird. Als wahres Volk Israels, das durch die Sklavenhändler nach „Babylon“ verschleppt wurde, harrt man seiner Wiederkehr nach „Zion“, dem gelobten Land der Väter. „Dreadlocks“, zu dicken Strähnen verfilztes Haar, wird als äußeres Zeichen schwarzen Rassestolzes getragen. Es wurde bewußt als Gegenmodell zum bis dahin dominanten Bestreben gewählt, sich möglichst weißen Schönheitsidealen anzunähern, beispielsweise durch Hautbleichung und Haarglättung. Gebrauchsgegenstände werden mit den panafrikanischen Farben Grün (Heimat und Hoffnung), Gelb (Größe und Prächtigkeit Afrikas) und Rot (Blut und Kampf) geschmückt. Marihuana bzw. Ganja dient als „wisdom weed“ der Verständigung auf spiritueller Ebene. Ansonsten leben Rastafaris eher asketisch: Sie verzichten auf den Verzehr von Schweinefleisch, Alkohol, Schalentieren, schuppenlosen Fischen und Salz. Um keinen Rasta grammatikalisch zurückzustufen wird für die zweite und dritte Person immer in der ersten Person gesprochen. Es gibt demnach kein „du“ oder „er“, sondern nur „ich“. Spricht ein Rasta von „I and I“, so bedeutet dies „Ich“, „Wir“ und die „Rasta-Gemeinschaft“. Neben der Existenz Gottes habe demnach jeder Mensch einen Anteil am göttlichen Sein, wenn er sein seelisches „I“ erkannt hat.
Großen Anteil an der Verbreitung der Rastafari-Gedanken hatte die Musik als Vermittlungsmedium. Eine besondere Musik, die sich nach einem alten Lied der „Maytals“ „Reggae“ nennt. Die Musik als die offenste, am wenigsten verfestigte Kulturäußerung (ihr Gegensatz liegt in der Architektur als verfestigter, Stein gewordener Musik) wird als unmittelbarer Ausdruck des ursprünglichen schwarzen Wesens verstanden. Reggae-Musiker Prince Buster erklärte dazu: „Man hat uns aus Afrika verschleppt, wo unserer Ahnen Königinnen und Könige gewesen waren, und auf Schiffen als Sklaven nach Jamaika gebracht, wo man uns unserer Namen, unserer Sprache, unserer Kultur, unseres Gottes und unserer Religion beraubt hat. Aber die Seele Afrikas – ihr Geist, ihre Erbmasse, ihre DNS ist nun einmal die Musik und ließ sich nicht bezwingen, was auf Jamaika zur Geburt der kulturellen Revolution führte, die wir als Ska bezeichnen: Das war die Mutter, der Schoß, der Rocksteady und Reggae, unsere Lebensart überhaupt, hervorgebracht hat. (…) Jamaikanische Musik ist immer schon echte Volksmusik gewesen (…)“
Mit den Sklaven war auch die afrikanische Musikkultur in die Karibik gekommen. Typische Merkmale waren dabei das „call and response“-Prinzip, also abwechselnder Gesang zwischen Solist und einem „kommentierenden“ Chor, sowie die „musikalische Zeitlosigkeit“ durch ständige Wiederholungen. Viele karibische Kulte nutzten diese Ausdrucksmittel, um Geisterbeschwörung, akrobatische Tänze oder okkulte Heilungen durchzuführen.
Die seit dem frühen 19. Jahrhundert die Karibikinseln dominierende Volksmusik Calypso, die auf jeder Insel eine eigene Note erhalten hatte, geriet Ende der 50er Jahre in die Krise. Vor allem auf Jamaika verlor die heimische Calypso-Abart „Mento“ sukzessive den Nachwuchs. Die junge Generation, die mittlerweile über Transistorradios verfügte, hörte somit vorzugsweise den über Radiostationen aus Florida über das Meer schallenden „Rhythm and Blues“ (R’n’B), so daß Anfang der 60er Jahre – wie heute in Deutschland – fast nur noch US-Importe die Hörgewohnheiten der Jugend bestimmten.
Gegen diese Tendenz und getragen von der Begeisterung für die 1962 von Großbritannien erhaltene Unabhängigkeit entstand eine neue Form heimischer Volksmusik über mehrere Stufen. Man entwickelte aus R’n’B- und „Boogie Woogie“-Elementen den schnellen, ruckartigen Sound des „Ska“, der die Füße der Jamaikaner nicht zum Ruhen brachte und sie ihre Seele spüren ließ. 1966 dann folgte eine Verlangsamung und Entspannung des Rhythmus hin zum „Rocksteady“. Ende der 60er Jahre entwickelte sich hieraus wieder der schnellere, hüpfende „Reggae“.
Reggae wurde zur neuen Volksmusik, denn Reggae-Stücke können aufgrund ihrer Schlichtheit schnell und preiswert produziert werden, so daß sie ein volkstümliches musikalisches Kommunikationsmittel zur Reflexion gesellschaftlicher Vorgänge darstellen. Die Musik ist stark rhythmusbezogen, weist eine einfache musikalische Struktur auf und ist sehr sparsam instrumentiert. Reggae fungiert so als beständig eingesetzter Gebrauchsgegenstand des sozialen Lebens in Jamaika, quer durch soziale Schichten und Altersgruppen. Sanfte Liebeslieder, ausgelassen oder melancholisch geschilderte Tageserlebnisse, sozialkritische Anklagen, intellektuelle und spirituelle Reflexionen – all dies läßt sich spielend einfach via Reggae transportieren. Dieser volkliche Charakter verleiht Reggae als nicht durch die Popindustrie entfremdeter Musik Authentizität und den Charme der Aufrichtigkeit. Die Rastafaris beeinflußten den Reggae zudem als Träger einer auf Afrika ausgerichteten kulturellen Identität.
Daß der neue Sound ab ca. 1970 die Grenzen der Inselkultur sprengte und in die Welt-Charts gelangte, war weitenteils Bob Marley zu verdanken. Dieser ist somit immer noch der weltweit bekannteste Vertreter von Reggae und Rastafari. Marleys internationaler Erfolg beruhte auf einer von ihm vertretenen Kombination aus Reggae und Rock. In seinen Stellungnahmen zur Schlechtigkeit des „Systems“, der Erlösung der Schwarzen durch Rastafari, der Kraft des „Ganja“ und der Offenbarungen der Bibel, erreichte er weniger das eigentliche Zielpublikum, als vielmehr weiße Jugendliche. Die zutiefst religiös-mystischen Textinhalte boten aufgrund ihrer Unverständlichkeit für die weißen Jugendlichen ausreichend Interpretationsspielraum zur Projektion eigener Wunschvorstellungen. Dies war der Schlüssel zum Mythos Bob Marley. Marley und die Wailers wurden durch Lieder wie „I Shot the Sheriff“ mit einem diffusen „Rebellentum“ identifiziert, das auch der vor-kommerziellen Rockmusik, also vor dem Abtreten der Rocklegenden Jimmi Hendrix und Jim Morrison, innegewohnt hatte. Innerhalb der Band kam es deshalb rasch zu Spannungen. Unter anderem ging Bunny Livingston als überzeugtem Rasta das musikalisch dargebotene „Rebellentum“ zu weit, statt „Revolution“ bevorzugte er das „Rasta-Dreamland“ und „Love & Peace“. Die spirituell entleerten weißen Jugendlichen, die den „edlen Wilden“ zum Star machten, konnten Marleys esoterischen Verlautbarungen zwar nicht folgen, aber oberflächlich rezipierte Stichworte wie „Revolution“ oder „Kill the system“ fielen bei ihnen und vielen Journalisten, die Bob zum „Che Guevara des Reggae“ kürten, auf goldenen Boden. Wenn Marley von „Revolution“ sang, dann meinte er die Revolution eines panafrikanischen Nationalismus. Sein weißes Publikum hingegen projizierte in die „Revolution“ ihre bloße Protest-Attitüde sozialen Widerstands gegen das bürgerliche Establishment hinein, bei der man eventuell aus eigenen Defiziten heraus hinsichtlich der dort besungenen Themen „Stolz“, „Überlegenheit“ und „Stärke“ zu partizipieren versuchte. Die Inhalte, entweder mit Rasta-Esoterik angereichert oder sich auf den jamaikanischen Alltag beziehend, sind für westliche Ohren aufgrund der Zugehörigkeit zu einem fremden Kontext nur in Teilen verständlich; der kreolische Patois-Dialekt, in dem die Lieder oft vorgetragen werden, verstärkt dies noch. Dennoch trug gerade dieses nur fragmentarische Verstehen dieser Reggae-Musik zum Erfolg bei weißen Jugendlichen bei, da das Unverstandene mit eigenen Projektionen gefüllt wurde.
Marley kann also nur im Zusammenhang mit seiner Rezeption durch die Jugend des weißen Westens verstanden werden. Eine Profanisierung und unbewußte Dekontextualisierung, die übrigens bis heute wirksam ist. So werden heute zum Beispiel Dreadlocks bei weißen Jugendlichen nicht als Ausdruck schwarzen Rassestolzes getragen, sondern im eigenen Verständnis interpretiert. Man orientiert sich dabei an den universellen Archetypen des „wilden Mannes“ oder „wilden Weibes“, welche sich in vielen naturnahen Kulturen finden, und man symbolisiert Protest gegen die „glatte“ kapitalistische Leistungsgesellschaft.