Schon sein Vater Karl-Ludwig, einer der Brüder Kaiser Franz-Josephs, wird als „antiliberaler Klerikaler“ von derzeitigen Mode-„Historikern“ geringgeschätzt. Dem ältesten Sohn ergeht es nicht anders, und er zählt wohl zu den von republikanischer „Geschichtsschreibung“ neben den Kaisern Franz-Joseph und Karl meistherabgewürdigten Persönlichkeiten des Herrscherhauses: Erzherzog Franz-Ferdinand von Österreich-Este.
Geboren ist Franz Ferdinand in Graz am 18. Dezember 1863; von seiner durch den bereits damals fühlbaren, antikatholischen liberalen Kulturkampf wachsam gewordenen Familie wird er konsequent katholisch erzogen; als junger Mann absolviert er die damals für Persönlichkeiten seines Standes in Österreich übliche militärische Ausbildung. Mit 26 Jahren gilt er, nach dem Tod des Kronprinzen Rudolf, wenn auch zunächst inoffiziell, als Thronfolger. 1892/93 eine Weltreise unternehmend, veröffentlicht er darüber ein Tagebuch. Als Franz-Ferdinand an tuberkulösem Lungenleiden erkrankt, muß man mit seinem nach damaligem Stand der Medizin naturgemäß baldigem Ableben rechnen. Die jahrelange Krankheit schaltet ihn aus dem politischen Geschehen aus, läßt ihn aber charakterlich wie intellektuell zu einer beeindruckenden Persönlichkeit reifen. Nach seiner durch große Willensstärke und Disziplin geförderten Genesung signalisiert 1898 die Zuteilung umfassender militärischer Kompetenzen die Etablierung des Thronfolgers als politischen Faktor.
Franz-Ferdinand besitzt auch wirklichen militärischen Weitblick und ausgeprägte strategische und taktische Begabungen, welche es ihm ermöglichen, die ihm zugedachten Funktionen denkbar gut auszufüllen und den angesichts der Lage in Europa notwendigen Ausbau der bewaffneten Macht Österreichs voranzutreiben. Gemeinsam mit dem k.u.k. Generalstabschef Conrad stellt er die Armee auf eine Offensivstrategie um, die einen Durchbruch durch feindliche Linien mit stark massierten Truppenverbänden vorsieht; ein Konzept, das die Mittelmächte im Ersten Weltkrieg dann mehrmals mit ganz außerordentlichem Erfolg einsetzen werden und das auch noch im Zweiten Weltkrieg in beeindruckendster Weise seine fortdauernde Gültigkeit beweist. Des Thronfolgers vielfältige Interessen, er widmet sich auch intensiv der Marine und Luftfahrt, beschränken sich allerdings nicht auf das Militärische. Von großer Bedeutung sind seine von überlegenem Geschmack und lebendigem Sinn für Tradition und Natur geleiteten Bauvorhaben, unter welchen die architektonische und gärtnerische Ausgestaltung von Schloß Konopischt in Böhmen den glanzvollen Höhepunkt darstellt; außerordentlich sind seine Verdienste um den Denkmalschutz. Seine mit bewundernswerter Beharrlichkeit verfolgte Eheschließung mit Gräfin Sophie Chotek führt in den bekannten Dissens mit Kaiser Franz-Joseph, der im Renunziationseid von 1900 gipfelt, wonach Franz Ferdinands Nachkommen von der Thronfolge ausgeschlossen bleiben. Der vorbildlichen Ehe entspringen drei Kinder, Sophie, Max und Ernst (welche alle drei die ihnen auferlegten schweren Schicksale mit großem Anstand ertragen und mit jener Tapferkeit, die schon den Vater auszeichnet).
Im Lauf der Jahre wird die Militärkanzlei des Thronfolgers auch zu einer politischen Schaltstelle, von der aus Franz-Ferdinand vielfach in die Entwicklung des Staates eingreift. Rege Kontakte zu Vertrauensleuten aus fast allen Ministerien, Parteien und Nationalitäten, aus Kirche, Medien und Wirtschaft lassen faszinierende und erfolgversprechende Zukunftspläne für die Umgestaltung wie Erhaltung der Monarchie entstehen. Seine heute noch nachlesbaren politischen Beurteilungen sind von verblüffender Treffsicherheit und schonungslosem Erkennen von Freund und Feind geprägt. Konsequente Stärkung der bewahrenden, Zurückdrängung der destabilisierenden Kräfte und in verschiedenen Varianten überlegte föderative Restrukturierungen des Staates sind beständig verfolgte innenpolitische Zielsetzungen des Thronfolgers, der auch vor harten, schmerzhaften, unpopulären Entscheidungen keine Scheu zeigt. Außenpolitisch setzt Franz-Ferdinand in klarem Erkennen des Machbaren und Sinnvollen auf das Bündnis mit Deutschland (nicht hingegen auf das mit Italien). Darüberhinaus gelten seine zentralen Bemühungen, hier mit gleichsam prophetischer Sicht in die Zukunft ausgestattet, einer Erneuerung des alten Bündnisses mit Rußland im Geist der Heiligen Allianz. Aus dieser Absicht der Erhaltung eines guten Einvernehmens mit dem Zarenreich wird seine scharfe Opposition gegen eine offensive Balkanpolitik der Monarchie und gegen die zur Beantwortung der bedrohlichen serbischen Aggressivitäten erwogenen Präventivkriegspläne des Generalstabes verständlich. Wie weit seine politische Instinktsicherheit und atemberaubende Klarsicht reichen, illustriert die Aussage eines Meisters der historischen Analyse, des emeritierten Außenministers der USA, Henry Kissinger, der das (unglückselige und nicht ausbalancierte) Bündnis Rußlands mit Frankreich als den entscheidenden Faktor ansieht, der zum Ersten Weltkrieg führt. Ein Krieg, den Franz-Ferdinand als konkrete Gefahr voraussieht, den er zu verhindern sucht, dessen Konsequenzen er deutlicher erkennt als die meisten politischen Verantwortlichen seiner Zeit. Und in der Tat hätte ein erneuertes Bündnis Rußlands mit Österreich einen Ersten Weltkrieg aller Voraussicht nach sehr unwahrscheinlich gemacht; die damit verknüpfte humanitäre und geistige Katastrophe und die Zerstörung der Weltgeltung Europas wäre uns erspart geblieben und wohl auch Bolschewismus, National-Sozialismus und Zweiter Weltkrieg mit ihren Millionen an Toten als Konsequenz.
Einer der Gründe für die krasse Verkennung und Mißachtung dieses Mannes sei noch kurz erwähnt: Der Erzherzog-Thronfolger Franz-Ferdinand war überzeugter Katholik; seine konservativen, monarchisch-restaurativen und antirevolutionären, vom politischen Katholizismus geprägten Denkansätze stehen in denkbar deutlichem Kontrast zu den politischen Gesinnungsvorgaben der Gegenwart. Wer aber die menschenverachtenden Konsequenzen der (historischen wie gegenwärtigen) Ausgestaltungen linker und liberal-kapitalistischer Gesellschaftsentwürfe zu erkennen vermag, der wird in den Plänen dieses Habsburgers dankbar den mutigen Versuch einer Bewahrung der Lebensgrundlagen seiner Völker und der Friedensordnung Europas vor 1914 erkennen und seine Gestalt als die eines großen Staatsmannes.
Häufig wird heute die dem Thronfolger eigene (ihm und dem Adel Europas gemeinsame) Jagdleidenschaft skandalisiert und als Signum moralischer Minderwertigkeit dargestellt — von einer Gesellschaft, die vor dem Holocaust der Abtreibung und den anlaufenden Massentötungen der Euthanasie nicht zurückschreckt; mehr muß dazu wohl nicht gesagt werden.
Am 28. Juni 1914 findet in Sarajewo, der Hauptstadt des zu Österreich-Ungarn gehörenden Kronlandes Bosnien-Herzegowina, der Mord am Österreichischen Thronfolger statt. Ein Mord, der als einer der folgenschwersten der Weltgeschichte betrachtet werden kann; er führt die Menschheit in den Ersten Weltkrieg und damit in eine Zäsur nie gesehener Verheerungen und Umstürze, die den Anbruch einer neuen Epoche signalisieren, der an Menschenopfern, Blut und Grausamkeiten so überaus reichen Moderne, unseres Zeitalters.
Die Gelegenheit zum Attentat ergibt sich durch den offiziellen Besuch des Thronfolgerpaares in der bosnischen Landeshauptstadt. Schon der Besuch von Kaiser Franz-Joseph in Mostar und Sarajewo im Jahr 1910 war ein großer Erfolg gewesen und hatte die Bindung der Bevölkerung an den Monarchen verstärkt. Auch der Besuch des Thronfolgerpaares von 1914 verspricht ähnliches. Schon am 25. Juni ist der Erzherzog inoffiziell des Nachmittags in Sarajewo; er ist in Uniform, wird von der Bevölkerung erkannt und von allen Seiten begeistert begrüßt. Die Attentäter sind noch nicht positioniert. Am 26. und 27. finden Ma nö ver der Truppen des 15. und 16. Korps in der Umgebung der Landeshauptstadt statt, denen Franz-Ferdinand beiwohnt. Daß diese Manöver und der Besuch am serbischen Trauertag der historischen Niederlage vom 28. Juni 1389 am Amselfeld eine „Provokation des serbischen Nationalstolzes“ gewesen wä ren, ist falsch und eine später von der alliierten Kriegspropaganda konstruierte Behauptung. Der Besuch am 28. Juni in Sarajewo wird von der Bevölkerung sehr gut aufgenommen; die Route, auf welcher das Thronfolgerpaar im Automobil durch die Straßen der Stadt fährt, ist veröffentlicht, die Straßen sind menschengesäumt. Diesmal jedoch sind die Attentäter in Stellung, insgesamt sechs; eine Granate wird geschleudert, verfehlt das Thronfolgerpaar knapp, explodiert unter dem folgenden Wagen, zahlreiche Menschen, vor allem auf dem Gehsteig stehende Personen, werden leicht verletzt; der Attentäter wird verhaftet; Franz-Ferdinand und seine Gemahlin bleiben unverletzt. Der Thronfolger, nicht leicht zu schrecken, beschließt nach Beratung mit dem Militärgouverneur und dem örtlichen Polizeichef, den Besuch der Stadt fortzusetzen. Ein kurzer, unvorhergesehener Halt des Automobils, in dem das Thronfolgerpaar sitzt, gibt ideale Gelegenheit zum Anschlag eines anderen der Attentäter. Zu seinem Unglück und dem Europas ist er erfolgreich; er erschießt Franz-Ferdinand und seine Gemahlin aus nächster Nähe. Dieser Mord ist der auslösende Faktor des Weltkrieges.
Vorwand aller Beschimpfungen der Österreichischen Monarchie seit 1918, Hauptargument zur Legitimierung ihrer Zerstörung, des Sturzes des angestammten Herrscherhauses und der bis heute andauernden Permanentbesudelung des Namens Habsburg (wer würde es wagen, ähnlich niederträchtig etwa über die Präsidenten der USA herzuziehen) ist die Behauptung, daß Habsburg beziehungsweise daß Österreich die Schuld hätte am Ausbruch des Ersten Weltkrieges und an den Millionen Toten dieses Krieges.
Ist dem so? Kehren wir nochmals ins Jahr 1914 zurück, zum Mord am Österreichischen Thronfolger. Die Attentäter sind junge Bosnier. Man hat sie angeworben — offiziell-halboffizielle serbische Stellen haben sie angeworben, geschult und ausgerüstet. Hinter dem politischen Mordanschlag steht eine Verschwörung hochrangiger serbischer Militärkreise, die durch die serbische Regierung gedeckt werden. Ihr politisches Ziel ist die Destabilisierung Österreich-Ungarns und die Eroberung seiner südöstlichen Provinzen (ein Ziel, das bekanntlich 1918 verwirklicht wird und zur Gründung des mittlerweile blutig zerbrochenen „Jugoslawien“ geführt hat). Um zu veranschaulichen, wie es zum Weltkrieg gekommen ist, ein aktuelles Vergleichsbeispiel: Am 11. September 2001 findet der Anschlag statt, bei dem es zum Einsturz des World-Trade-Centers in New York kommt. Hinter dem politischen Mordanschlag steht eine Verschwörung hochrangiger islamischer Extremisten, die von Afghanistan aus operieren. Ihr politisches Ziel ist die Destabilisierung der Vereinigten Staaten von Nordamerika und die Zurückdrängung ihres Einflusses in den islamisch geprägten (und rohstoffreichen) Teilen der Welt. Die afghanische Taliban-Regierung, in den Anschlag nicht direkt involviert, deckt aber anscheinend die Organisatoren des Attentates. Die USA verlangen in Wahrnehmung ihrer Interessen ultimativ die Auslieferung der Hintermänner des Anschlages und ergreifen, nachdem dem Ultimatum nicht entsprochen wird, die notwendigen militärischen Maßnahmen, marschieren in Afghanistan ein, stürzen die Regierung und zerschlagen jene machtpolitischen Strukturen, durch welche sie herausgefordert worden sind.
Nicht anders Österreich im Jahr 1914. Der Mord in Sarajewo reihte sich in eine lange Folge politischer Aggressionsakte gegen Österreich, ist nicht die Tat eines einzelnen Fanatikers, sondern das Werk einer wohlorganisierten Gruppe, ist de facto als Kriegserklärung Serbiens an Österreich-Ungarn zu werten. Die Mo narchie, durch den damaligen Mord in noch weit bedrohlicherer Weise herausgefordert als heute die USA, verlangt in Wahrnehmung ihrer Interessen ultimativ die Aufklärung der Hintergründe sowie Auslieferung der Hintermänner und ergreift, als dem Ultimatum nicht entsprochen wird, die notwendigen militärischen Maßnahmen, marschiert in Serbien ein, stürzt schließlich die Regierung und zerschlägt jene machtpolitischen Strukturen, durch welche sie herausgefordert worden ist. Zu vermitteln und zu verhandeln hat es da eigentlich nichts mehr gegeben. Wie Henry Kissinger es in seinen historischen Werken formuliert hat: Kein Staat kann bereit sein, über die „Grundfragen seiner Existenz“ zu verhandeln. Das gilt für die USA heute ebenso wie es für das alte Österreich damals galt. Im Jahr 2001 freilich sind die USA die einzig verbliebene Weltmacht; ihrem politischen System durch offenen Krieg Widerstand zu leisten, ist nur mehr schwer möglich. Im Jahr 1914 agiert aber nicht nur ein kleiner Aggressor gegen eine Großmacht; Serbien hat vielmehr die Rückendeckung einer anderen Großmacht, nämlich Rußlands, das ihm zusagt, es vor jeglicher Bestrafung zu schützen; und Rußland seinerseits hat die Rückendeckung zweier weiterer Großmächte, Frankreichs und Englands. Solcherart wird aus der Auseinandersetzung Österreich-Serbien ein Weltkrieg. Etwas, das die USA bei ihren militärischen Operationen zur Bestrafung des Aggressors in Ermangelung gleich ran giger Gegner nicht riskiert haben. Österreich im Jahr 1914 steht vor einer ultimativen Auseinandersetzung in einer Angelegenheit, die seine Fortexistenz betrifft, es hat gar keine Wahl mehr, kann also auch Risiken gar nicht mehr vermeiden. Daß ein großer Krieg damals von allen europäischen Mächten vorbereitet wird, und hier sind Frankreich und England an vorderster Stelle zu nennen, ist geläufig. Es ist freilich dieses Attentat und die damit zusammenhängenden politischen Auswirkungen, die für Österreich eine existentielle Bedrohung darstellen. Die Monarchie wird durch die Ereignisse zum Handeln gezwungen. Rußland, Frankreich und England werden dies nicht, ihre Interessen sind in keinerlei Weise direkt betroffen. Daß sie dennoch in der von Serbien herbeigeführten Konfrontantien mit Österreich Partei ergreifen und damit einen lokalen Konflikt globalisieren, zeigt sehr deutlich, bei wem die Hauptschuld am Weltkrieg von 1914 liegt — sie liegt (ungeachtet der Behauptungen der Schand- und Kapitulationsverträge des Jahres 1918 und der darauf aufbauenden Geschichts umschreibung der damaligen „Sieger“ und ihrer Epigonen) jedenfalls nicht bei Österreich.