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Kaiser Karl

Von Stephan Baier

Zur Seligsprechung des letzten österreichischen Kaisers

Am 3. Oktober wird Papst Johannes Paul II. den österreichischen Kaiser und ungarischen König Karl (1887–1922) auf dem römischen Petersplatz zur Ehre der Altäre erheben. Nach mehreren Jahrzehnten gründlichster Prüfung hat die zuständige vatikanische Kongregation für Selig- und Heiligsprechungen („Congregatio de Causis Sanctorum“) im Dezember 2003 das Verfahren mit einem positiven Urteil abgeschlossen. Zuvor hatten eine Historiker- und eine Ärztekommission, denen nicht nur Katholiken angehörten, einstimmige, positive Voten abgegeben. Bereits im April 2003 wurde der heroische Tugendgrad offiziell anerkannt, im Dezember schließlich eine auf Karls Fürsprache zurückzuführende wunderbare und nicht natürlich zu erklärende Heilung.

Neben großer Zustimmung wurde auch viel Kritik – zumal in österreichischen Medien – an dieser ungewöhnlichen Seligsprechung geübt, alte Vorurteile wurden künstlich wiederbelebt, längst überwunden geglaubte Ressentiments scheinen noch immer lebendig. Anti-habsburgische Aversionen sind offensichtlich noch immer mobilisierbar. Auch 86 Jahre nach der mutwilligen Zerschlagung der Donaumonarchie und 82 Jahre nach dem Tod des verbannten Kaisers Karl ist seine Seligsprechung noch immer ein Politikum.

Ein Zerrbild des Monarchen

Neben der 68jährigen Herrschaftszeit von Kaiser Franz Joseph wirken die beiden Regierungsjahre des jungen Kaisers Karl so kurz, daß die Erinnerungen an Österreich-Ungarn bis heute zumeist mit Franz Josephs Namen verbunden werden. Von Kaiser Karl I., der 1916 in Ungarn als Karl IV. mit der Krone des heiligen Stephan gekrönt worden war, blieb nur sehr Fragmentarisches in der Erinnerung der meisten Österreicher. Und auch diese ist durch die damalige Propaganda stark verzerrt.
Bis heute erscheint Kaiser Karl in vielen Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen als schwacher, unfähiger Monarch, der – von seiner charakterstarken Frau Zita dominiert – eher tolpatschige Friedensversuche unternahm und dabei den deutschen Verbündeten ebenso wie die eigenen Mitarbeiter anlog. Die Liste der Vorurteile ist noch länger: Karl habe bedenkenlos Giftgas einsetzen lassen, heißt es. Er habe sich der Abdankung widersetzt und aus Machtgier zwei hilflose Restaurationsversuche in Ungarn unternommen, wobei er angeblich wieder wortbrüchig wurde.
Auch rein zeitgeschichtlich sind die Vorwürfe gegen den jungen Kaiser, der 1916 mit dem Tod des greisen Franz Joseph den Thron bestieg, äußerst fragwürdig. Ihn angesichts seiner Friedensbemühungen als „Feigling“ zu karikieren, wie dies etwa die Nationalsozialisten taten, ist angesichts der Tatsache, daß er das einzige Staatsoberhaupt seiner Zeit war, das die ersten beiden Kriegsjahre an verschiedenen Fronten verbrachte, kaum haltbar. Wahr ist aber, daß Kaiser Karl gerade nach dieser persönlichen Fronterfahrung zutiefst davon überzeugt war, daß der Weltkrieg ein sinnloses Völkermorden sei, das so schnell wie möglich beendet werden müsse.
Karl bemühte sich vergeblich, seinen deutschen Bündnispartner von der Dringlichkeit des Friedens und der Sinnlosigkeit des Krieges zu überzeugen. Dies scheiterte, wie die Wiener Kirchen- und Zeitgeschichtlerin Elisabeth Kovac überzeugend dargelegt hat, an der ungebrochenen Siegesgewißheit der Obersten Heeresleitung in Berlin, an der Persönlichkeit Kaiser Wilhelm II., der keinen von Österreich vermittelten Frieden wollte, aber auch an der Abhängigkeit führender österreichischer Politiker und Militärs von Deutschland.
Kovac, die der vatikanischen Historikerkommission im Seligsprechungsprozeß angehörte und uneingeschränkten Zugang zu allen relevanten Dokumenten hatte, macht auch den österreichischen Außenminister Graf Ottokar Czernin für das Scheitern der Friedensbemühungen mitverantwortlich. „Czernins staatsstreichartige Unternehmungen gegen das Kaiserpaar“, seine Manipulation der Öffentlichkeit, seine Indiskretionen und seine Versuche, Kaiser Karl mit einer Selbstmorddrohung zu erpressen, hätten die Verhandlungen zum Scheitern gebracht.
Viele Experten – so etwa der ehemalige Chefarchivar des österreichischen Staatsarchivs, Peter Broucek, und die Historikerin Tamara Griesser – meinen, daß die so genannte „Sixtus-Affäre“ besser eine „Affäre Außenminister Czernin“ genannt werden sollte. Karl habe im Kontakt mit seinem Schwager Sixtus, einem der Brüder von Kaiserin Zita, stets einen allgemeinen Frieden – keinen Separatfrieden für Österreich – im Blick gehabt. Auch Papst Benedikt XV., zu dem Karl engen Kontakt hielt, bemühte sich um eine Vermittlung zwischen den Kriegsparteien. Der österreichische Außenminister Czernin jedoch setzte mehr auf die Nibelungentreue zum Verbündeten in Berlin als auf die Loyalität zum eigenen Kaiser. Der Salzburger Kirchenhistoriker Gerhard Winkler meint deshalb, Karl sei „ein Märtyrer des Friedens und ein wenig auch ein Märtyrer seiner Minister“ geworden.
Noch während des Weltkriegs setzte eine Welle der Propaganda gegen Karl und Zita ein: Der Kaiser wurde als schwach und unfähig verleumdet, obwohl er die starken Generäle großteils entmachtete und selbst das Oberkommando übernahm; man sagte ihm Trunksucht und ein lockeres Leben nach, obwohl er asketisch, bescheiden und extrem diszipliniert lebte. Die Kaiserin wurde angesichts ihrer Herkunft aus dem Hause Bourbon-Parma in Deutschland als „Französin“, in Österreich als „Italienerin“ denunziert.
Erzherzog Rudolf von Habsburg, einer der Söhne des Kaiserpaares, zeigte sich bei einem Symposion im Februar 2004 in Wien davon überzeugt, daß die „intensive Propaganda gegen meine Eltern insbesondere von der deutschen Botschaft in Wien“ ausgegangen sei. All die genannten Vorwürfe gegen Kaiser Karl – auch jener des gewissenlosen Giftgaseinsatzes, der tatsächlich aber von deutschen Generälen zu verantworten war – sind mittlerweile von der historischen Forschung widerlegt. Dennoch wurden sie von manchen Historikern und einigen Medien angesichts der Seligsprechung jetzt wieder ins Spiel gebracht.
Obwohl die historische Quellenlage eindeutig belegt, daß Karl einen für alle Beteiligten ehrenvollen Kompromißfrieden anstrebte, um dem weiteren Morden Einhalt zu gebieten, machen bis zum heutigen Tag manche Historiker dem jungen Kaiser wegen seiner Friedensversuche Vorhaltungen. Tatsächlich sah Karl keine andere Chance, als für den Frieden persönliche Risiken auf sich zu nehmen.
Seine Zeit als Frontsoldat, seine Risikobereitschaft bei der Suche nach Frieden, sein Widerstand gegen alle Korrumpierungsversuche durch die neu gegründete Republik und seine beiden Restaurationsversuche in Ungarn zeigen, daß Kaiser Karl persönlich tapfer war, andererseits aber jedes Blutvergießen unbedingt vermeiden wollte. Das Motiv für diese Haltung findet der vorurteilsfreie Historiker in Karls Glaubensleben. Viele Zitate des Monarchen zeigen, daß er lieber Unrecht erdulden als Unrecht tun wollte.

Mißverstanden und vertrieben

Der Erste Weltkrieg endete mit dem Zusammenbruch der bisherigen Ordnung in Mitteleuropa, in Ost- und Südosteuropa sowie im Nahen Osten. Drei vormalige Ordnungsmächte, das zaristische Rußland, das Osmanische Reich und der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn verschwanden gänzlich von der Landkarte. Mit der Habsburger-Monarchie ging die übernationale Ordnung in der Mitte Europas zugrunde. An ihre Stelle traten kleine, für sich kaum lebensfähige Nationalstaaten, in denen augenblicklich neue Vertreibungen, Umsiedlungen und Unterdrückungen ethnischer Minderheiten einsetzten, insbesondere in den neuen Staaten Jugoslawien und Tschechoslowakei. Die Historikerin Kovac macht für diese Entwicklung – unter anderen Kräften – auch die Freimaurerei mitverantwortlich, die sich auf einem Kongreß in Paris während des Ersten Weltkriegs auf den „Krieg gegen das göttliche Recht der Könige“ eingeschworen habe.
Doch das Grundprinzip der habsburgischen Regentschaft bestand gerade im Gottesgnadentum, worunter die Besten unter den Herrschern dieses Hauses die unbedingte Verantwortlichkeit des Monarchen gegenüber Gott und Seinem Willen verstanden. Deshalb, so bestätigt Elisabeth Kovac, sei auch eine Abdankung für Kaiser Karl nicht in Frage gekommen. Karl glaubte an seine unaufgebbare und unveräußerliche Verantwortung vor Gott und gegenüber seinen Völkern: „Seit meiner Thronbesteigung war ich unablässig bemüht, meine Völker aus den Schrecknissen des Krieges herauszuführen, an dessen Ausbruch ich keinerlei Schuld trage“, formulierte Karl im November 1918 in einer Erklärung, mit der er „auf jeden Anteil an den Regierungsgeschäften“, aber nicht auf den Thron verzichtete.
Im März 1919 mußte die kaiserliche Familie auf Druck der republikanischen Regierung unter Karl Renner Österreich verlassen. Karl, Zita und ihre Kinder fanden zunächst in der Schweiz Zuflucht. Von hier aus startete Kaiser Karl zwei glücklose Restaurationsversuche in Ungarn. Dazu mag ihn einerseits die trostlose Entwicklung des Landes bewogen haben, das im Vertrag von Trianon zwei Drittel seines Territoriums verlor, und das nach dem kommunistischen Terrorregime des Béla Kun in die autoritäre Des­potie des einstigen Flottenadmirals Nikolaus von Horthy geriet. Andererseits hatte der französische Außenminister und kurzzeitige Ministerpräsident Aristide Briand den Monarchen zur Rückkehr nach Budapest ermuntert. Außerdem fühlte sich Karl durch seinen Eid auf die Krone des heiligen Königs Stephan gebunden.
Der Fürstprimas von Ungarn, Kardinal Johannes Csernoch, hatte 1916, bevor er Karl die Stephanskrone aufsetzte, folgende Mahnung über den König gesprochen: „Die königliche Würde empfängst Du heute und übernimmst die Sorge, König zu sein über die Dir anvertrauten gläubigen Völker. Einen herrlichen Platz fürwahr unter den Sterblichen, aber voll Gefahr, Arbeit und banger Sorge. Aber wenn Du in Betracht ziehst, daß alle Gewalt von Gott dem Herren ist, durch den die Könige regieren und die Gesetzgeber bestimmen, was Recht ist, wirst auch Du Gott selbst Rechenschaft ablegen über die Dir anvertraute Herde.“ Karl antwortete darauf: „Ich, Karl, nach Gottes Willen künftiger König der Ungarn, bekenne und verspreche vor Gott und seinen Engeln, hinfort zu sorgen für Gesetz, Gerechtigkeit und Frieden zum Wohle der Kirche Gottes und des mir anvertrauten Volkes.“ Dieser Verantwortung konnte er sich nie entziehen.
Karls Erstgeborener, Otto von Habsburg, erklärt dazu: „Aus diesem Eid konnte er nicht mehr entlassen werden, denn er ist ja eine religiöse Verpflichtung. Er hatte viele Kontakte mit dem Papst, der ihn bat, eine Front gegen das Eindringen des Materialismus und des Atheismus nach Europa aufzubauen. Benedikt XV. hat die Gefahr für die Substanz des christlichen Europa weit besser erkannt als die meisten Politiker.“
Doch beide ungarischen Restaurationsversuche König Karls scheiterten, weil der Monarch vergebens auf die Treue des ungarischen Reichsverwesers Horthy vertraute, aber auch daran, daß der mit der Stephanskrone gekrönte König einen ungarischen Bürgerkrieg um jeden Preis vermeiden wollte. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs beschlossen, den unbequem gewordenen Kaiser nun möglichst weit abzuschieben. Während die Kinder noch in der Schweiz warteten, wurden Karl und Zita nach dem gescheiterten zweiten Restaurationsversuch auf die portugiesische Atlantikinsel Madeira verbannt. Erst nach mehreren Monaten der Trennung sahen die Kaiserkinder ihre Eltern auf Madeira wieder. Dort lebte die Familie in ärmlichen Verhältnissen, aber erstmals hatte Karl die Zeit, sich intensiv mit seinen Kindern zu befassen.

Ein Kaiser trägt sein Kreuz

Kaiser Karl wurde im feucht-kühlen Klima der Insel bald schwer krank. Am 1. April 1922 ließ der tieffromme Monarch seinen Erstgeborenen zu sich rufen. Der noch nicht zehnjährige Kronprinz Otto sollte sehen, wie ein Christ stirbt. Achtzig Jahre später erinnert sich Otto von Habsburg: „Kaiser Karl starb so wie er gelebt hatte, nämlich als tiefgläubiger Christ, der alles Leid und alles zu ertragende Unrecht ganz der Barmherzigkeit Gottes überantwortete. Mißverstanden, fern der Heimat, seiner Rechte beraubt und in die Verbannung gejagt, starb der erst 35jährige Kaiser mit jenem Gut, das ihm niemand hatte rauben können – mit einem unerschütterlichen Glauben.“
In der Kirche „Nossa Senhora do Monte“, 550 Meter über Funchal auf Madeira, sind die sterblichen Überreste von Kaiser Karl in einem schlichten Metallsarg beigesetzt. Ob sie von dort jemals nach Österreich zurückkehren werden, darüber entscheidet nicht Kaiser Karls Familie, sondern die Kirche, denn seit dem Beginn des Seligsprechungsverfahrens gehören die Gebeine der Kirche.
Karls kurzes Leben scheint von Tragik überschattet gewesen zu sein. Tragisch sind seine verzweifelten, letztlich fehlgeschlagenen Friedensbemühungen, tragisch der Zerfall des jahrhundertealten Reiches und sein Weg ins Exil, tragisch seine kläglich gescheiterten Versuche, die rechtmäßige Ordnung in Ungarn wieder herzustellen, tragisch seine Verbannung auf der portugiesischen Atlantikinsel Madeira, tragisch auch sein allzu früher Tod, herbeigeführt durch Krankheit und materielle Armut.
Wenn die Kirche Kaiser Karl nun zur Ehre der Altäre erhebt, so wird daran deutlich, daß der Himmel mit anderen Maßstäben mißt als diese Welt. Bei Verfahren zur Selig- oder Heiligsprechung geht es nicht um irdischen Glanz, weltlichen Erfolg oder Ruhm. Es geht darum, ob ein Mensch – erfolglos oder erfolgreich, arm oder reich, hoher oder niedriger Stellung – bereit war, in den Fußspuren Jesu Christi zu gehen. Auch Jesu irdischer Weg war von Zurückweisung, Ablehnung, Verrat, Verleumdung, Einsamkeit, Leiden und Kreuzestod geprägt, bevor sich der himmlische Vater an Ostern als der Herr über Tod und Leben, über Zeit und Ewigkeit offenbart.
Kaiser Karls privates Leben wie sein politisches Wirken waren zutiefst von seiner Frömmigkeit geprägt. Karl war davon überzeugt, daß er vor Gott Rechenschaft über sein Wirken ablegen muß. Er fühlte die ererbte Verantwortung für die Völker in der Mitte Europas – eine Verantwortung, die er vor Gott übernommen hatte, und die er nicht delegieren oder zurücklegen konnte.
Im Exil auf der Insel Madeira, fernab von Thron und Herrschaft, opferte Kaiser Karl seine eigenen Leiden für die Völker seiner Heimat auf. Als er 1922 starb, nannte er die Leitlinie seines Lebens: „Mein ganzes Bestreben ist immer, in allen Dingen den Willen Gottes möglichst klar zu erkennen und zu befolgen, und zwar auf das Vollkommenste.“ Daß er in diesem Streben nicht tragisch scheiterte, sondern überaus erfolgreich war, bestätigt die Kirche mit der Seligsprechung.

 
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