In den Märchen aller Völker sind es Worte – Zauberformeln, die man kennen, Worte, die man wissen muß –, die den Zugang zu verborgenen Schätzen und unterirdischen Reichen öffnen. An dieses Bild wird man erinnert, wenn man bei Übersetzungen oder beim Gespräch mit einem Ausländer auf einzelne Worte trifft, die sich durchaus nicht übersetzen und nicht einmal umschreiben lassen wollen. Je länger man über sie nachdenkt und sich um sie bemüht, desto weiter scheint ihr Sinn sich von dem vergleichbarer anderssprachiger Worte zu entfernen, dafür aber in eine andere Ebene hinüberzuweisen. – Das „unübersetzbare Wort“ wird zum Schlüssel, der jenen Tiefenbereich öffnet, in dem der geheime Wesensgrund, das unverwechselbar und unmittelbar Einmalige eines Volkes sichtbar wird, und in dem sich jene wahren Grenzen eines Volkes abzeichnen, die sein verbindendes (und dadurch unterscheidendes), unveräußerlich Gemeinsames umreißen.
Wenn etwa die Zeitschrift, die das offizielle Organ der französischen Universitäten ist, versichert, es sei ausgeschlossen, den Titel des Buches „Unruhe und Geborgenheit“ (Bollnow) im Französischen wiederzugeben, er sei genauso unübersetzbar wie unser Begriff „Sturm und Drang“, – oder wenn ein Mitarbeiter der EU, dessen Arbeit ihn sozusagen in den Schnittpunkt der europäischen Sprachen versetzt, feststellt, daß unsere deutschen Worte: Erlebnis, Gemüt, Heimweh, Lebensgefühl, Weltgefühl, Weltanschauung, Weltschmerz, Lied, Land, Alpenglühen, Edelweiß (neben geologischen, technischen, Kriegs-, philosophischen und anderen Ausdrücken) unübersetzt in die ausländische Literatur übernommen werden, – oder wenn sich, anläßlich der Gedichtübertragungen eines feinsinnigen Übersetzers erweist, daß es nun einmal im Französischen nur zwei Worte, immense und eternel, gibt für unsere zehn Unterscheidungen: unendlich, unermeßlich, unermeßbar, grenzenlos, grenzlos, endlos, endelos, zeitlos, allzeit, immerdar – und wenn man dann bedenkt, daß diese verbürgten Beispiele sich über Seiten vermehren und durch ebenso viele aus den übrigen Sprachen ergänzen ließen, wie auch umgekehrt die anderen Sprachen für ihre eigenen Worte gleiche Beispiele von Unübersetzbarkeit ins Deutsche anführen könnten –, so liegt nah, daß hier Zusammenhänge bestehen müssen, Beziehungen dieser Worte untereinander, die nur der Entdeckung, Aufschlüsselung und Deutung zu einem Gesamtbild warten, um uns unser eigenes Bild widerzuspiegeln.
Nehmen wir unsere unübersetzbaren Worte: innig, innerlich, vertraut, bieder, heimelig, gemütlich, gemächlich, walten, weichen, weisen, meiden, deuten, wähnen, bannen, – weiter, dahin, – Weise, Wesen, Wandel, Weihe, Weh, Lust, Leid, Harm, Not – und dazu noch solche, für die zwar zuständige Übersetzungsworte existieren, von denen sich jedoch der deutsche Bedeutungsgehalt durch feine, aber entscheidende Sinn-Abweichungen und Sinn-Ausweitungen unterscheidet, wie etwa bei: Treue, Heim, Heimat, Fremde, Ferne, Weite, wandern, fahren, ziehen, sehnen, dehnen, ahnen, frommen usw. –, so zeichnen sich hinter ihnen die Umrisse einer alten Metapher für das Deutsche ab: die der Wanderschaft des fahrenden Gesellen, der im Sehnen nach der Weite in die Fremde dahinzieht, der das Ferne ahnt, und dem doch „Scheiden und Meiden tut weh“, so daß er seine Not, sein’ Lust und Leid in eine fromme Weise bannt. Ein einziger Satz, diese Metapher zu umschreiben, läßt sich ausschließlich aus unübersetzbaren Worten bilden! Sie entstammen der Bildsprache unserer Märchen, unseres Volkslieds und der Dichtung der Romantik, die aus ihnen schöpfte und weithin selber wieder zum Volksgut wurde. So fern uns Heutigen in einer von der Technik beherrschten Zeit jene Welt zu liegen scheint, und so sehr der „Mythos“ diskreditiert wurde, dennoch bleiben Mythen, Märchen und Sagen, Volkslied und -dichtung die Träger der Metaphern für unser innerstes Sein. Für jene spezifische Seins-Lage im und zum Weltganzen, wie sie in Klima und Landschaft und geopolitischer Lage vorbestimmt ist und aus geschichtlichem Schicksal erwuchs.
Sehen wir näher an, was drei der bezeichnendsten jener Bild-Worte uns zu sagen haben: Heimat, Ferne und Fremde.
Für Heim und was dazugehört: Heimat, daheim, Heimweh, heimelig, unheimlich, Heimgang, Heimsuchung usw. finden wir keine adäquaten Worte anderer Sprachen, auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag. Das englische „home“ sagt entweder die Abgrenzung des normannischen Individualisten („my home is my castle“) oder wird im Sinn von „hausbacken“ gebraucht (homeliness, homespun). Daheim bedeutet im Romanischen wie Angelsächsischen ein lokales Zuhausesein (chez soi, a mia casa usw.) und entbehrt jenes entscheidenden Akzents des Zuständlich-Unveräußerlichen von Geborgenheit und Vertrautheit, wie er unserem Heim und Daheim eigen ist. – So wie unser daheim nicht einfach ein lokales Zuhausesein besagt, so ist auch dem Deutschen Heimat nicht einfach nur (geschichtliches oder geographisches) Vater- und Geburtsland (wie patrie, native country). Darum stellt er der Heimat nicht Ausland gegenüber, sondern spricht von: „Heimat und Ferne“, „daheim und in der Fremde“. Heimat wie Ferne und Fremde sind ihm letztlich nicht rationale Bezeichnungen, sondern Metaphysica. – Fremde ist ihm das Unbekannte als Lockung und Ausgesetztheit zugleich. Ferne ist ihm nicht ein Entferntes, ein weit-weg (wie eloigné, espace, lointain; distance, far off), – Ferne ist dem Deutschen Horizontlosigkeit, sie ist ihm das über alles Erreichbare jeweils Hinausliegende, das „Immer-Ferne“, das unruhig und suchend macht. Sie ist ihm die Unruhe schlechthin.
Aber ebenso ist ihm auch Heimat im Grunde ein Darüberhinausliegendes: das einer letzten metaphysischen Geborgenheit.
Wie dieses im Her- und Schnittpunkt der Völker ringsum gelegende Land beherrscht ist vom „Fernweh“, hinaus aus der gepferchten Enge in die Weite, die in der Ferne liegt (seit einem Jahrtausend zieht es den Deutschen aus seiner nebelgrauen Heimat über die Berge, gleich „Mignon, dahin, dahin!“) – und wie ihm das Fernweh umschlägt ins Heimweh nach dem Daheim, dem Heimelig-Umhegten, Bergenden, – der Geborgenheit –, so dehnt sich das Deutsche, ewig unbefriedet und suchend, von sich hinweg in der deutschen Sehnsucht, dem sehn-siechen (wie siechen lt. Kluge von saugen kommt, als ein „von Dämonen Ausgesogenwerden“), also im Von-sich-weg-, Aus-sich-heraus-gesogen-sein!
Deutsche Sehnsucht – als Heimweh und Fernweh in eins – spannt sich damit letztlich zwischen zwei transzendierenden Polen, die aber als solche im Jenseits „zusammenfallen“: beim „Heimgang“ in die „Ewige Heimat“, dem Ziel des Ruhelosen, Suchenden – des „Wanderers“!
Wieder sind wir bei dieser alten Metapher. Wanderer, Wandern, Wanderschaft ist etwas so Deutsches, daß der Franzose sagen muß „faire son tour d’Allemagne“ (für des Gesellen Wanderschaft) und sonst nur zufußgehen, schreiten und reisen kennt. Der Engländer kennt nur gehen, laufen, reisen, vagabundieren, „to wander“ aber sagt er altertümlich für „in die Irre schweifen“. – Aber unser wandern ist weder schweifen, noch ist es schreiten allein, es beschließt Aufbruch und Rast in sich. Und es ist auch nicht Reisen, als Ortsveränderung von einem Ausgangspunkt aus gesehen, sondern ist das „Unterwegssein in sich“, wie es etwa als Bild für das Erdendasein zwischen Geburt und Grab genommen wird. – Es hängt etymologisch mit dem, ebenfalls unübersetzbaren, Wandel (von wenden) zusammen. Wandern ist somit Wandel zwischen Aufbruch und Rast, Lust und Leid, Wahn und Ahndung, diesen ebenso unübersetzbar deutschen Begriffen.
Mit alledem sehen wir als letzte Bedeutung dieser Worte und damit als Bild des Deutschen ein gleichsam ins Kosmische gebettetes und ins Kosmische ausgreifendes Sein, eine Spannung, in der es sich-selbst-über-steigt (trans-zendiert). Sehen eine quasi „dynamische“ Zuständlichkeit: den Zustand des „Bewegtseins in sich“, wie etwa Newmans oft mißverstandener Satz „My unchangeableness here below is perseverance in changing“ besagt: „Meine Unwandelbarkeit hienieden ist die Durchdauer des Wandels“.
Vergleicht man übrigens die einzelnen Worte, die wir sahen, jeweils mit den verfügbaren anderssprachigen Worten, so ergeben ihre unterscheidenden Nuancen dasselbe Bild deutscher Grundgestimmtheit, das wir ersahen – ein hochinteressanter Nachweis, der jedoch hier nicht Raum hat.
„Unruhe und Geborgenheit“ (die, wie wir eingangs hörten, unübersetzbaren Worte) sind nur der philosophische Ausdruck für die Spannung, die sich im alten Bild von Ferne und Heimat, Fernweh und Heimweh aussprach. Dem „Sturm und Drang“ dieser Spannung begegnen wir als durchgehendes Motiv in unseren Volks- und Wanderliedern und den Romantikern, vorab bei Eichendorff und dem zu unrecht „Griechenmüller“ genannten Wilhelm Müller, dessen hohe dichterische Leistung in den „Müllerliedern“ hinter den (kaum je in ihrer makabren Spannung rhythmisierten) Schubert’schen Kompositionen fast unbeachtet blieben. Hier hat Müller, im Gegenüber des „Grünen Mannes“ (dem Jäger) zum „Weissen (weisen!) Manne“ (dem Müllerburschen), eines der schlichtesten und gültigsten Bilder für die beiden Möglichkeiten deutschen Wesens, seine „zwei Seelen in einer Brust“, geschaffen. In seiner „Winterreise“ aber schuf er die Metapher für die in endgültige Wanderschaft ausreifende deutsche Todessehnsucht.
Hin und zurück zwischen Heim- und Fernweh schwingt die Weise unserer Lieder: „…den Stab in der Hand muß ziehen der Wandrer von Lande zu Lande… Er sieht manchen Ort, aber fort muß er wieder, muß weiter fort.“ „Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum“, aber: er muß „zum Städtle hinaus“. Da „geht ein Mühlenrad“, aber: „ich fahr dahin mein Straßen, in fremde Land dahin“.
Fröhlich ist der Aufbruch: „O Wandern… meine Lust!“, „Wer recht in Freuden wandern will…“, – dazwischen Ahnung und Wahn vom Erreichten: „Was ich such, hab ich gefunden“, ich „träumte so manchen süßen Traum“, „und wähnte mich beglückt“. Aber im zerreißenden Weh unerfüllbarer Sehnsucht, in der deutschen „Todessüchtigkeit“ endet das deutsche Lied in unzähligen Varianten: „Eine Straße muß ich ziehen, die noch keiner ging zurück“, „und immer hör ich’s rauschen, du fändest Ruhe dort“, „Ich bin zuende mit allen Träumen“, „Das Wild, das ich jage, das ist der Tod“, „Grabt mir mein Grab im Wasen“. – Mit dem „Leiermann“ aber endet Müllers „Winterreise“ in das Einverständnis endgültiger Wanderschaft: „Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehen, willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?“
Über die Worte Lust und Leid, wie sie alle Wanderschaft begleiten, kommen wir zu dem wohl unübersetzbarsten deutschen Wort: – zu „Gemüt“. Lust und Leid sind nicht akute Freude oder Vergnügen und akuter Schmerz oder ein bestimmtes Leiden, wie ihre Übersetzungsworte sagen. Lust und Leid widerspiegeln vielmehr den Wechsel des Lebens auf dem Seelengrunde, sie sind antwortende Gemüts
lage.
Mit Gemüt sind wir beim deutschen „Mut“, diesem Wort, das mit seinen Übersetzungsworten kaum etwas gemein hat. Wer wollte etwa „guten Muts“, „mit frohem Mut“, oder gar Eichendorffs dichterische Invention „da grüßen so mutig die Wälder“, mit couragé, courageous, also „couragiert“ übersetzen?! Courage ist akutes Verhalten der Tapferkeit, des Standhaltens oder Angreifens, Mut ist eine Grund-Gestimmtheit des ganzen Menschen, ein Zustand beschwingter Zuversicht, wagenden Vertrauens, es ist eine Hochgespanntheit der Lebens- und Todesbereitschaft.
So sagt auch die Silbe – mut in unseren Worten: Wehmut, Unmut, Mißmut, Schwachmut, Freimut, Großmut, Langmut, Sanftmut, Hochmut, Demut (dien-Mut), froh-, wohl-, hochgemut, kleinmütig, entmutigt, mutwillig, einmütig, gutmütig, Gemüt, ebenfalls eine Grunddisposition, eine – aus der vegetativen Sphäre aufsteigende und von da die Gesamtstruktur des Menschen durchtränkende – Seins-Färbung, etwas, das eben nur durch sich selbst, durch das unübersetzbare Wort Gemüt, bezeichnet werden kann.
Mit Gemüt spricht sich zugleich das typisch-deutsche Unumrissene, nicht rational Erfaßbare mit aus. Für dieses aber ist wohl das bezeichnendste Wort „Wesen“. In ihm liegt das ganze Vage, Unbestimmte der im Grau deutschen Himmels, in den Schwaden seiner Nebel verschwimmenden Konturen. Im deutschen „Weltgefühl“, in seinem „Lebensgefühl“, seiner „Stimmung“ „wesen“ die Dinge, die Empfindungen, die Begriffe!
Wesen bedeutet zugleich das (animalische) Geschöpf, wie auch grad sein inneres verborgenes Sein, seine Eigenart. Da gibt es Wesen und Unwesen – beide können „ihr Wesen“ oder „ihr Unwesen treiben“, können anwesend oder abwesend sein. Wesenlosigkeit verdichtet sich zum Unheimlichen: es „west“ in ihr – und die Braut von Messina kann im ersten Akte sagen: „Es schreckt mich selbst das wesenlose Schweigen“, (ein in allen Tei-len unübersetzbarer Satz: „schrecken“, „Schweigen“!). Es liegt etwas Kosmisch-Naturhaftes in diesem Wort, wie ja auch unsere einzigartige Nachsilbe „nis“ ein solches andeutet: in Ödnis west die Öde, in Fährnis die Gefahr, in Wildnis west das Wilde, in Bedrängnis west es wie der Alpdruck Pans.
Aber dieses seltsame Wort „Wesen“ hat noch ein anderes Gesicht. Gerade seine inhaltsträchtige Unbestimmtheit prädestiniert es zugleich zum philosophischen Ausdruck. Als solcher Begriff sagt es: Wesen als Sein (gegenüber Schein); Wesen als Art (Eigenart, Charakter); Wesen als Betragen (Manier); Wesen als Großes-Ganzes (Gemeinwesen, An-, Hauswesen); da gibt es Wesenart, Wesenheit, wesenhaft, wesentlich (als: eigentlich), wesentlich (als: wichtig); es gibt wesensverwandt, wesensbestimmt, wesensunmittelbar und vieles mehr.
Damit kommen wir zum Deutschen als philosophischer Sprache. Das Transzendierende der Sinnrichtung seiner Wörter, ihre Transparenz in eine dahinterliegende Ebene, ihr unumrissen Geöffnetes und ihre gedrängte Bedeutungsfülle sind die Komponenten, die es wie geschaffen dazu machen. Oder umgekehrt: von seiner naturhaft philosophischen Anlage als „Suchender“ und „Wanderer“ her erstand dem Deutschen sein Wort, seine Syntax – seine Sprache.
Das „schauen“ wir – zum Abschluß – in seinem unübersetzbaren Worte „schauen“: Er kennt: das Schauen, die Schau, die Schauung, die Beschauung, die Anschauung, das Erschauen, kennt Weltanschauung, Geschichtsanschauung, Geschichtsschau, Weltschau, Wesensschau und Gottesschau!
Er kennt aber auch „Sichten“ und „-sichtung“ und „Betrachten“ und „-betrachtung“. Keine dieser Unterscheidungen läßt sich in anderen Sprachen genau ausdrücken, außer im Altgriechischen, des Deutschen „philosophischer Schwester“.