Archiv > Jahrgang 2003 > NO IV/2003 > Österreicher in der Paulskirche 

Österreicher in der Paulskirche

Von Nikolaus von Preradovich

Die Abgeordneten in der Frankfurter Nationalversamlung

Die Frankfurter Nationalversammlung tagte ab dem 18. Mai 1848. Sie war der direkte Effekt der unterschiedlichen Revolutionen, die sich im Frühling 1848 in Wien und Prag, Berlin und München abspielten. Das System des Rheinländers Metternich war damit zusammengebrochen. Am 29. Juni 1848 wurde Erzherzog Johann von Österreich, der „Steirische Volksprinz“, zum Reichsverweser gewählt. Am 9. August desselben Jahres wurde eine Reichsregierung bestellt. Der erste gesamtdeutsche Ministerpräsident war der Fürst von Leiningen. Ihm folgte der Regierungschef Anton Ritter von Schmerling aus dem Erzherzogtum unter der Enns.

Die Deutsche Nationalversammlung wurde von all jenen Gebieten beschickt, die später das Reich Bismarcks ausmachten, außer Elsaß-Lothringen, welches 1848 noch nicht heimgekehrt war. Zuzüglich wählten die Bewohner von Liechtenstein und Luxemburg in die Deutsche Nationalversammlung.
Im Kaisertum Österreich waren alle männlichen Bürger aus jenen Gebieten, die vor 1806 dem Deutschen Königreich angehört hatten, wahlberechtigt. Es handelt sich somit um folgende Regionen, die dem Deutschen Bund mit dem Patent vom 2. März 1820 als zugehörig bezeichnet worden sind: Das Erzherzogtum Österreich, das Herzogtum Steiermark, das Herzogtum Kärnten, das Herzogtum Krain, das österreichische Friaul oder der jetzige Görzer Kreis (Gradisca, Görz, Tolmein, Flitsch, Aquileja), das Gebiet der Stadt Triest, die Gefürstete Grafschaft Tirol mit dem Gebiet von Trient und Brixen, weiters Vorarlberg mit Ausschluß von Weiler, das Herzogtum Salzburg, das Königreich Böhmen, die Markgraftschaft Mähren, der österreichische Anteil an dem Herzogtum Schlesien inklusive der böhmisch-schlesischen Herzogtümer Auschwitz und Zator (in Galizien) – soweit die „Österreichische National-Enzyklopädie“ (Wien 1835).
Somit konnten an den Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung nicht teilnehmen: Das Königreich Ungarn mit dem Königreich Kroatien, das Königreich Dalmatien, das Königreich Galizien und Lodomerien und die Bukowina sowie Lombardo-Venetien. Die tschechischen Bewohner des Königreichs Böhmen und der ihm inkorporierten Lande verzichteten darauf, an einer Wahl zur Deutschen Nationalversammlung teilzunehmen, mit der durchaus einleuchtenden Bemerkung: „Wir sind keine Deutschen und haben daher in Frankfurt nichts zu bestellen.“
Die Gesamtzahl der Abgeordneten zur Paulskirche wird vom „Ploetz“ mit 812, vom diesem Aufsatz zugrunde gelegten vortrefflichen Werk Best/Wege, Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, Düsseldorf 1996, mit 809 Mandataren angegeben. Die eben genannten, zur Wahl zugelassenen Herrschaftsgebiete der Habsburg-Lothringer stellten 168 Abgeordnete, das ist mehr als ein Fünftel der Gesamtzahl. Diese sollen im folgenden auf ihre soziale Herkunft, ihr Lebensalter, ihre Konfession und auf jene Wahlkreise hin untersucht werden, die sie in Frankfurt zu vertreten hatten.
Es war eine erstaunliche Leistung, in der kurzen Zeit von zwei Monaten Wahlgesetze zu erlassen, Wahlkreise zu bestimmen und Wahllisten zu erstellen. Die aus dem Kaisertum Österreich stammenden Mandatsträger vertraten in folgender Zahl die einzelnen Wahlkreise: Krain und Küstenland (Triest) je 4, Kärnten 8, Österreichisch-Schlesien 9, Österreich ob der Enns 19, Tirol 20, Mähren 23, Steiermark 25, Böhmen 25, Österreich unter der Enns 31.
Die weit überwiegende Zahl der Abgeordneten gehörte der römisch-katholischen Konfession an. Einer war griechisch-orthodox, drei Lutheraner und sieben mosaisch. Einer dieser sieben Abgeordneten mosaischen Glaubens brachte die steilste Laufbahn hinter sich! Er nannte sich ursprünglich Leidesdorfer, diesen Namen änderte er in Neuwall. 1817 wurde er geadelt. Sein Sohn erwarb den Ritterstand und das Inkolat in Böhmen. Ein Enkel stieg zum Freiherrn auf. Nachkommen der Familie Neuwall verbanden sich den Geschlechtern Auersperg und Henckel-Donnersmark.
Der älteste Abgeordnete aus dem Kaisertum Österreich war Franz Freiherr Unterrichter v. Rechtenthal, Jahrgang 1775. Der jüngste war Johann Demel, der im Jahre 1825 das Licht der Welt erblickte. 1867 erwarb Demel den Adel mit dem Prädikat von Elswehr. Unterrichter vertrat Tirol, Demel Österreichisch-Schlesien.

Die soziale Zusammensetzung

Nach dem sozialen Stand waren 18 Abgeordnete aus dem Kaisertum bäuerlicher Herkunft. 17 Abgeordnete kamen aus Handwerkerfamilien, 58 waren bürgerlicher Herkunft, 32 gehörten dem Neuadel an (1800–1918). 21 sind heute sozial nicht mehr zuzuordnen. Drei besonders erfolgreiche Angehörige des Neuadels seien hier aufgeführt:
Friedrich Bruck (1798–1860) entstammte einer alten Handwerkerfamilie aus Elberfeld. Er wirkte als Unterbeamter bei dem preußischen Konsul in Triest. Im Laufe der Ereignisse brachte er es zum Handelsminister, 1848–1851, zum Botschafter in Konstantinopel und zum Finanzminister, 1855–1860. 1848 erwarb er den Ritter-, ein Jahr danach den Freiherrnstand. Er starb durch Selbstmord.
Friedrich Burger, 1804–1873. Seine Familie stammte aus dem Schwarzwald. Er wurde Notar in Triest. Von 1849–1862 wirkte er als Statthalter in der Steiermark, in der Lombardei und im Küstenland. Zuletzt tat er als Marineminister Dienst. Adelserhebungen: Ritter 1851, Freiherr 1854. Mit ihm starb seine Linie aus. Seines Bruders seit 1870 ritterliche Linie ist bis in unsere Tage im öffentlichen Leben Kärntens rühmlich tätig.
Andreas Gredler, 1802–1870, war ein Bauernsohn aus Tirol. Zuletzt war er Präsident der Anwaltskammer in Innsbruck und Ehrenbürger der Stadt. Er wurde 1849 zum Ritter und 1869 zum Freiherrn erhoben. Gredlers ältere Tochter heiratete einen Advokaten namens Oxenbauer. Der Sohn aus dieser Ehe hieß 1908 Oxenbauer, 1918 Gredler-Oxenbauer und 1938 nur noch Gredler. Dessen Sohn Wilfried diente als Botschafter in Bonn. In dem Werk „Blaues Blut für Österreich“ wird er als Baron tituliert – was, wie wir gesehen haben, unrichtig ist.
Hier sogleich die Einordnung: Uradel vor 1400, älterer Adel 1400–1800, Neuadel 1800–1918. 19 österreichische Mitglieder der Paulskirche kamen aus dem älteren Adel. Eine Anzahl dieser Geschlechter ist durchaus der Aristokratie zuzurechnen. Im Kaisertum Österreich und ab 1867 in der österreichisch-ungarischen Monarchie galt als „echter“ Edelmann ein Graf, der Kämmerer und Großgrundbesitzer war. Um die Kämmererwürde zu erlangen, mußte der Betreffende 16 adelige Ahnen oberster Reihe nachweisen, das heißt: die Ur-Urgroßeltern mußten sämtlich adelig geboren worden sein. Unter den eben erwähnten Familien erfüllten nur die Aichelburg, in einer Linie gräflich, und die Andrian diese Voraussetzungen. Aber auch die Freiherren von Doblhoff, De Pretos und Unterrichter v. Rechtenthal können zur Aristokratie gerechnet werden, zumindest ab dem Jahre 1700.
Die Mehrzahl der „älteren“ Familien hatte mit der eigentlichen Aristokratie nur wenig oder gar nichts zu tun. Dennoch oder eben deshalb finden sich einzelne Mitglieder, die der Beachtung durchaus wert sind. Theodor Ritter v. Karajan, 1810–1873, wurde in Wien geboren. Sein Vater, Georg, zeugte sein jüngstes Kind mit 66 Jahren. Er stammte aus Kosani in Mazedonien, zu dieser Zeit unter türkischer Herrschaft. Der Name lautete ursprünglich Karajoannes, halb türkisch, halb griechisch, übersetzt: Schwarzer Hans. Georg Karajan verließ seine Heimat und ließ sich als Großhändler in Leipzig nieder. Im Jahre 1792 erlangte er den sächsischen Vikariatsadel. Sodann wandte sich die Familie nach Wien. Sein Sohn Theodor war nicht allein Abgeordneter in der Paulskirche, sondern auch Professor für Germanistik an der Universität Wien. Außerdem brachte er es zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften und zum lebenslänglichen Mitglied des Herrenhauses. Er war der einzige Griechisch-orthodoxe unter allen Abgeordneten. Er wurde 1869 in den Ritterstand erhoben. Sein Urenkel war der Dirigent Herbert v. Karajan.
Anton Ritter v. Schmerling, 1805–1893. Seine Familie stammte aus dem Herzogtum Kleve. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelangte sie in das Erzherzogtum unter der Enns. Das Geschlecht wurde 1793 geadelt und erlangte 1817 die Landstandschaft in Niederösterreich. Schmerling wirkte in dem ersten Nationalstaat, der alle Deutschen im geschlossenen Sprachraum umfaßte, als Minister und Ministerpräsident. In seiner engeren Heimat brachte er es zum Justizminister, zum Staatsminister und von 1865 bis zu seinem Tode zum Präsidenten des Obersten Gerichtshofes.
Karl v. Scheuchenstuel, 1792–1867, brachte es zum Geheimen Rat und Sektionschef (Min. Dir.) im Finanzministerium. Der Stammvater seiner Familie ist der Ratsherr zu Rosenheim, Peter Scheuchenstuel. Reichsadel und Wappenbesserung erfolgten 1579. Der Abgeordnete der Paulskirche erlangte 1856 den Freiherrnstand. Einer seiner Neffen, Viktor v. Scheuchenstuel, ist im Verlauf des Ersten Weltkrieges zum Generaloberst befördert und zum Grafen erhoben worden.
Als letzte gesellschaftliche Gruppe werden die Angehörigen des Uradels vorgestellt. Alle drei Abgeordneten waren Großgrundbesitzer und Söhne von solchen. Die Deym gehören dem böhmischen Uradel an. Sie erscheinen erstmals 1385. Friedrich Graf Deym war Kämmerer und Rittmeister a. D. Das Geschlecht der Coronini läßt sich bis zum Jahre 1168 verfolgen. Michael Graf Coronini war desgleichen Kämmerer.
Anton Alexander Graf v. Auersperg, 1806–1876, als Dichter nannte er sich Anastasius Grün, gehörte einer der ersten Familien im Herrschaftsgebiet der Habsburg-Lothringer an. Das Geschlecht läßt sich bis 1220 zurückverfolgen. A. A. Auersperg war nicht nur Geheimer Rat und Kämmerer, sondern auch Mitglied des Herrenhauses, Dr. phil. h. c. (Wien) und Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Die Allgemeine deutsche Real-Enzyklopädie, Leipzig 1864, berichtet: „Graf v. Auersperg ist als der begabteste neuere Dichter Deutschösterreichs anzusehen.“ Das Denkmal des Dichter-Grafen steht im Stadtpark der steirischen Metropole Graz.
Die Zusammensetzung der Gewählten aus Österreich für die Paulskirche war eine vorwiegend bürgerliche Angelegenheit. Von den 168 Mandataren gehörten 58 dem Klein-, Mittel- und Großbürgertum an. Hinzu kommen jene unter der Rubrik „Neuadel“ Aufgeführten, die ja eben aus dem Bürgertum erwachsen sind. Zusammen zählten die „Bürgerlichen“ somit 90 Abgeordnete. Die Bauern stellten 18, die Handwerker 17, der „ältere“ Adel 19 und der Uradel 3 Mitglieder der Deutschen Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Die Basis und die Spitze der sozialen Pyramide: 57 gegenüber 90 Abgeordneten aus den unterschiedlichen Sparten des Bürgertums. Die restlichen 21 Mitglieder der Pauls
kirche waren sozial nicht einzuordnen.
Die Nationalversammlung wurde das „Professoren-Parlament“ genannt. Aufs ganze gesehen nicht zutreffend: Professoren im Vergleich zu den Advokaten 94:106, auf Österreich bezogen 22:21.

 
Neue Ordnung, ARES Verlag, A-8010 Graz, EMail: neue-ordnung@ares-verlag.com