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Völker sind der Atem Gottes

Von Karl Betz

Johann Gottfried Herder zum 200. Todestag

Der Kulturphilosoph, Theologe und Dichter Johann Gottfried Herder (1744–1803) gehörte mit Johann Georg Hamann (1730–1788) und Immanuel Kant (1724–1804) zu den drei großen ostpreußischen Gelehrten des 18. Jahrhunderts, die der deutschen Geisteswelt wichtige Impulse gegeben haben. Herder verdankte vieles Kant, bei dem er in Königsberg studierte, mehr aber wohl Hamann, der ihm tiefe Einblicke in das Wesen der Sprache vermittelte. Durch ihn lernte er auch die eigentlichen Regungen des Menschen, Gefühl, Gemüt und Glauben, erkennen. Und die Auffassung, „die Vernunft zerstört das Leben“, war schon ein seltenes, gewagtes Bekenntnis im Zeitalter der Aufklärung und ein vielleicht erstes Zeichen der noch fernen Romantik, deren Anreger Herder  wurde. Seine Vorbehalte gegen den reinen Rationalismus gründeteten sich vor allem darin, daß er durch ihn „die innere Ausdörrung der Theologie“ befürchtete.

Johann Gottfried Herder wurde am 25. August 1744 in dem ostpreußischen Städtchen Mohrungen als Sohn des Kantors und Lehrers Gottfried Herder geboren. Im Elternhaus bestimmte ein mystisch-pietistische Atmosphäre seine Erziehung. Nach dem Besuch der Lateinschule war er von 1760 bis 1762 als Schreiber in kirchlichen Diensten. Danach, als Achtzehnjähriger, begann er seine theologischen, philosophischen und medizinischen Studien an der Universität Königsberg. Hier gründete seine Freundschaft mit dem 14 Jahre älteren Johann Georg Hamann. Bereits 1764 erfolgte seine Berufung an die Domschule nach Riga, wo er auch Prediger an zwei Kirchen war. In einem Zeitbericht heißt es: „In der Zeit …liefen die Deutschen in Riga einem Prediger zu, namens Herder…, fast noch ein Jüngling, der an der Domschule lehrte“. Und Goethe bestätigt viele Jahre später die eigenartige Faszination, die von Herder ausging, indem er bekannte, „dieses Mannes persönliche Anziehungskraft war sehr groß“. Herders schriftstellerische Tätigkeit begann 1767 mit Fragmenten „Über die neuere deutsche Literatur.“ Es folgten weitere kritische Schriften, die zu Auseinandersetzungen führten und die Herder 1769, müde der „Händel“, eine längere Reise antreten ließen, die ihn zunächst nach Amsterdam und Hamburg führte, mit Besuchen bei Gotthold Ephraim Lessing und Matthias Claudius. Claudius hatte damals schon mit seinem „Wandsbecker Bothen“ wahre Volkstümlichkeit erlangt. Herder bezeichnete die schlichten Lieder, Gedichte und Erzählungen von Claudius als „gewisse Silbersaiten des Herzens, die so selten gerührt werden“. 1770 weilt Herder in Eutin als Erzieher beim Erbprinzen von Holstein-Gottorp, bricht aber bald zu einer Bildungsreise auf, bei der er sich vom fürstlichen Gefolge trennt. Auf dem Weg nach Italien hat er in Darmstadt eine erste Begegnung mit der literarisch gebildeten Caroline Flachsland (1750–1809), seiner späteren Ehefrau.
1770 treffen einander Herder und Goethe in Straßburg; es ist eine bedeutungsvolle Begegnung für beide. Goethe spricht den „auffallenden Mann in der Soutane“ an, dem Lessing „eine führende Stellung unter den deutschen Kunstrichtern“ nachgesagt hat, und der fünf Jahre jüngere Goethe wird freundlich zu einem Gespräch eingeladen. Herder beginnt sogleich seine Erziehungsarbeit, denn er ist Lehrer und Prediger. Er, der Mann mit den schwarzen Augenbrauen, der Habichtsnase und den kohlschwarzen Augen, doziert eindringlich: „Geschichte, das sind nicht die Potentaten mit ihrem heraldischen Federvieh. Das sind die Völker im großen, jedes mit seinem eigenen, unverlierbaren Volksgeist. Alle diese Völker haben ihre Stimme, und man hat auf sie zu hören. Poesie lebt von der Sprache. Völker sind der Atem Gottes“.
1771 wird Herder als Konsistorialrat an den Hof des Grafen von Schaumburg-Lippe berufen. In dieser Zeit erscheint sein Werk „Über den Ursprung der Sprache“, das von der Berliner Akademie preisgekrönt wird. Sprache ist danach nicht göttlichen, sondern menschlichen Ursprungs und Voraussetzung aller kulturellen Leistungen eines Volkes. 1773 hält Herder Hochzeit mit Caroline Flachsland. Aus der glücklichen Verbindung gehen sechs Söhne und eine Tochter hervor.
1776 wird der gerade 32jährige auf Betreiben Goethes Generalsuperintendent in Weimar. Dieser Posten des höchsten geistlichen Amtes im Herzogtum Sachsen-Weimar war seit Jahren unbesetzt; zehn ältere Pastoren bewarben sich. Aber Goethe setzte sich durch.
Auch in Weimar gilt das schriftstellerische Schaffen Herders vorrangig der Philosophie, der Sprach-, Kunst- und Literaturtheorie und natürlich der Theologie; von 1794 bis 1798 gibt er 5 Sammlungen „Christliche Schriften“ heraus. Gegenüber diesem Wirken treten Herders eigene dichterische Werke zurück. Das gilt für seine verstreut veröffentlichten Gedichte ebenso wie für seinen erst 1802 edierten Romanzyklus „Der Cid“, der später die Romantiker Tieck, Brentano, Heine u.a. beeinflussen sollte.
Herders Grundidee von der Einmaligkeit eines jeden Volkes hat nicht nur in Deutschland die Bildung eines natürlichen, die Eigenart schützenden Nationalbewußtseins gefördert. Ständig war er bemüht, den jeweiligen Volkscharakter aufzuspüren und zu deuten. Für Herder sind „die Völker nicht mehr die gemeine Masse…, sie sind die bunten Beete im Garten Gottes auf Erden“ und die Volkslieder „der seelische Kern eines Volkes“. Seine große Sammlung „Volkslieder“ wirkte bis weit in das 19. Jahrhundert hinein und wurde so zum Vorbild für „Des Knaben Wunderhorn“ von Achim von Arnim und Clemens von Brentano. Wer heute vom „Volkslied“ spricht, weiß meist nicht, daß es Herder war, der 1773 dieses Wort in die deutsche Sprache eingeführt hat.
Herder beschränkte sich dabei nicht allein auf die Sammlung deutscher Lieder; er trat eben ein für die Erhaltung der Vielfalt und ein gleichberechtigtes Nebeneinander der kulturellen Eigenarten der Völker.
An seiner Liebe zur deutschen Sprache und Kultur ließ er aber keinen Zweifel aufkommen. Das belegen auch die hymnischen Verse an Kaiser Joseph II.:
Oh, Kaiser Du von 99 Fürsten
Und Ständen, wie des Meeres Sand,
Du Oberhaupt, gib uns wonach wir dürsten,
Ein Deutsches Vaterland.
Und ein Gesetz und eine schöne Sprache und redlich Religion.
1802 wird Herder in den Adelsstand erhoben. Am 18. Dezember 1803 stirbt Johann Gottfried Herder; er wird im Westchor der spätgotischen Hallenkirche zu Weimar beigesetzt. 1850 wird vor der Kirche, die nun seinen Namen trägt, das Herder-Denkmal feierlich geweiht.

 
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