Archiv > Jahrgang 2003 > NO I/2003 > Das Geheime Deutschland und der 20. Juli 1944 

Das Geheime Deutschland und der 20. Juli 1944

Interview mit Werner Bräuninger, Autor des im Herbst 2002 im Wiener Karolinger Verlag erschienenen Buches „Claus von Stauffenberg. Die Genese des Täters aus dem Geiste des Geheimen Deutschland“

 

Herr Bräuninger, was war Ihre Haupttriebfeder, dieses Buch zu veröffentlichen?

Während der Arbeit an meinen beiden Büchern über die systemimmanente Opposition im Nationalsozialismus stieß ich naturgemäß natürlich immer wieder auf den Namen Graf Stauffenbergs, der mich jedoch auch schon vorher als Person stark interessiert hatte. Wie beim ersten Thema, so faszinierte mich auch hier die Ambivalenz dieses Mannes. Die mediale Mainstream-Historie in Deutschland, die man am ehesten mit dem Namen Guido Knopp in Verbindung bringen kann, versteht es ja meisterhaft, den 20. Juli 1944 und seine Vorgeschichte de facto als Geburtsstunde der Berliner Republik darzustellen. Daß man es aber bei Claus von Stauffenberg mit einem Mann zu tun hat, der mit seiner Tat das Reich retten und erhalten wollte, der also alles andere als eine parlamentarische Demokratie „nach Hitler“ zum Ziele hatte, diese Tatsache wird zumeist schamhaft verschwiegen. Stauffenbergs Handlung war im Grunde eine absolut folgerichtige Tat, die aus seiner Herkunft aus dem „Geheimen Deutschland“ resultierte. Dieses einmal darzustellen, war meine Intention.

Wovon handelt Ihr Buch im wesentlichen?

Das Buch stellt den eigentlichen Impuls der atemverschlagenden Dynamik von Stauffenbergs Leben ins Zentrum der Betrachtung. Thematisiert werden die Begegnung des jungen Stauffenberg mit dem Dichter Stefan George und seinem Kreis oder „staat“, wie sie selbst sich bezeichneten, das Verhältnis des geheimen Deutschland zur NSDAP unter Berücksichtigung des Antisemitismus, der Reichsidee und des preußischen Stils, die Problematik des homoerotischen Männerbunds, das Werden des Offiziers Stauffenberg in Reichswehr und Wehrmacht, die ersten Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Hitlers Politik, das Attentat des 20. Juli 1944 sowie dessen zum Teil dilettantische Durchführung. Da viele der Protagonisten des „Geheimen Deutschland“ Juden waren – ich nenne als den einflußreichsten den Namen des Heidelberger Literaturhistorikers Friedrich Gundolf , bei dem der junge Joseph Goebbels vergeblich zu promovieren suchte –, war das Ansehen Georges während des Dritten Reiches nach anfänglicher Umwerbung ziemlich gering. Dazu kam auch die homophile Neigung einiger Mitglieder des Kreises, die, wenn auch stark sublimiert, dem ganzen „staat“ eine etwas obszöne Ausdünstung verlieh. Damit hatte Stauffenberg allerdings nichts zu tun.

Was genau war dieses „Geheime Deutschland“?  

„Es ist zugleich von dieser und nicht von dieser Welt“, meinte der jüdische Historiker Ernst Kantorowicz, der ebenfalls dem Kreis um George angehörte und der mit seiner Darstellung des Staufers Friedrich II. eines der Hauptwerke des „Geheimen Deutschland“ schuf. Die Chiffre geht bereits auf Hölderlin, Kleist, Heine und Paul de Lagarde zurück. Es war aber der George-Kreis, der den Begriff zum ersten Mal mit blutvollem Leben erfüllte. Im Grunde hat das „Geheime Deutschland“ jedoch keinen Ort. Es begegnet uns in den Insignien des Reiches ebenso wie an sagenhaften Orten. Wir verspüren seine Aura auf den Schlachtfeldern an der Unstrut, dem Lechfeld bei Augsburg und bei Peterwardein, denken an die Jahre 933, 955 und 1716. Wir erinnern uns an die Namen Karls des Großen, Heinrichs I. und Ottos I., an den Bamberger Reiter, an Sanssouci, den Kirchhof von Röcken, die Villa Wahnfried, an Friedrichsruh und an den Todesstreifen, der bis 1989 Deutschland und Berlin teilte.  

 „Geheimes Deutschland“ – das ist in erster Linie eine Bezeichnung für den Kreis um den Dichter Stefan George, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts um ihn scharte. Welche Prägung wollte dieser Kreis seinen Mitstreitern vermitteln, welche Gegenkultur strebte er an?

Es ist ziemlich schwierig, das Wesen Georges und seines Kreises in Kürze zu beschreiben. George war der „Dichter als Führer“, Schöpfer einer artifiziellen Kleinschreibung, Künder eines „neuen Reiches“, der in statuenhafter Einsamkeit, angestrengtem Stilisierungswillen und cäsarischer Attitüde die Menge verachtete, die Gewalt auf höchstem Niveau ästhetisierte und einen beispiellosen Knaben- und Jugendkult inszenierte. Für ihn war die Demokratisierung der Kunst ein Indiz ihres Absterbens in „sinkender Zeit“. Claus von Stauffenberg war seit seinen Formationsjahren durch die Schule Georges gegangen, und sein ganzes Denken wurde vollends in die Zucht des Dichters genommen. Geprägt von Friedrich Hölderlin, versinnbildlicht im staufischen Mythos, wurde der Name des „Geheimen Deutschland“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer klar umrissenen Chiffre des George-Kreises. Diesem ging es um eine Wiedergeburt des Kultus jenseits des Christentums, des Eros jenseits der Psychoanalyse, der Kunst jenseits der Moderne und des Lebens jenseits der Demokratie. Gegen alle egalitaristischen Tendenzen setzte er die elitäre, aristokratische Persönlichkeit, verwarf Liberalismus und Marxismus. In der Kunst schuf das „Geheime Deutschland“ einen völlig neuen Stil und legte insbesondere der Sprache ein neues Gesetz der Schönheit auf. Es benötigte aber einen geistigen Gestaltungsgrund, verkörpert in einem besonderen Menschentypus. Und diesen Typus zu erkennen, ihn zu erziehen und auszuformen, sahen Stefan George und sein Kreis als ihre vornehmste Aufgabe an. „Herrschaft und Dienst“, „Führertum und Gefolgschaft“, das waren Chiffren, die – wenn auch zunächst rein geistig gedacht und auf keinerlei politische Realität übertragbar – später dann doch von den Intellektuellen unter den Nationalsozialisten instrumentalisiert worden sind. Man denke nur an den Begriff der „Nationalerziehung“, den der Reichsjugendführer von Schirach prägte, sowie an das Ideal eines „musischen Menschen in soldatischer Haltung“, welches an den Adolf-Hitler-Schulen und den Napolas gelehrt wurde. Bei allem nationalen Empfinden waren die Protagonisten des „Geheimen Deutschland“ dennoch ein lediglich geduldeter Fremdkörper in Hitlers Reich.

Welchen Stellenwert nahmen die Reichsidee und der „preußische Stil“ im Denken dieser Männer ein?

Der ganze Antrieb des Stauffenbergschen Handelns und auch der von Männern wie Friedrich Gundolf, Ernst Kantorowicz, Friedrich Wolters, Max Kommerell oder Kurt Hildebrandt hatte im wesentlichen einen einzigen Beziehungspunkt, von dem her sie kamen und zu dem sie vorwärts schritten: das Reich. Diese Sehnsucht nach dem Reich hat auch die Deutschen irgendwie nie verlassen. Nach anfänglicher Faszination merkte Stauffenberg jedoch bald, daß der Reichsbegriff für die NS-Führung viel zu übernational war, wenngleich es innerhalb der NS auch andere Kräfte gab. Nach seiner schweren Verwundung im Afrika-Feldzug 1943 sagte Stauffenberg zu seiner Frau, er habe das Gefühl, nun das Reich retten zu müssen. Die Idee eines „europäischen Reiches“ jedenfalls versank spätestens dann, als im Mai 1945 französische Freiwillige der Waffen-SS Division „Charlemagne“ auf den Stufen der Neuen Reichskanzlei in Berlin für eben dieses Reich fielen. Hitlers Ziel aber war nicht das Reich, sondern Großdeutschland als ein nationaler Territorialstaat mit ewig blutender Grenze, „eine guelfische Idee“, wie Hans-Dietrich Sander bemerkte. Die Reichsidee war jedoch zu keiner Zeit an einen deutschen Nationalstaat gebunden. Vielmehr war sie immer eine Art europäischer Großraum
ordnung, in der Tradition des römischen Weltreiches und des Ersten Reiches der Deutschen, welche seit tausend Jahren die Träger der Reichsidee waren und bis 1806 bzw. 1815 ihre Verkörperung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gefunden hatten. Ihr später Abglanz bis zum Jahre 1918 war aber nicht nur das Zweite Reich Bismarcks, sondern vor allem die österreichische k.u.k.-Monarchie. In diesem Sinne ist es zum Beispiel auch nicht lächerlich, wenn ein so moderner Mensch wie der früh verstorbene Landesjugendobmann der Wiener FPÖ, Christian Böhm-Ermolli, den man in Österreich sicher noch kennt, seine Diplomarbeit „dem kaiserlichen Hof im Himmel“ widmete.
Als Nachfahre Gneisenaus war Stauffenberg trotz seiner schwäbischen Herkunft als Typus ganz Preuße. Reich, Volk, Land und Recht galten ihm mehr als sein dem Führer geschworener Eid. Daß Hitler nach 1945 etwa vor einem Gericht vom Zuschnitt eines friderizianisch-preußischen Kammergerichtes nicht hätte bestehen können, steht außer Frage. Insoweit hätte es auch keines Nürnberger Siegertribunals bedurft, um sich von der Unrechtmäßigkeit des Hitler-Systems abzugrenzen.

Klingen die Vorstellungen des „Geheimen Deutschland“ heute nicht etwas weltfremd?

In der Tat erscheinen uns Heutigen einige Auffassungen der Männer um Stefan George oder auch der konservativen Opposition des 20. Juli 1944 als Lichtjahre entfernt und zum Teil reaktionär. Christoph Steding warf George schon 1938 in seinem Buch „Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur“ vor, daß er sich dem realen Reich entzogen habe, „weil er es nur als Sehnsucht und ästhetisches Gebilde haben wollte“. Daran ist sicher viel Wahres. Dennoch ist uns heute der Bezug zum Mythos überhaupt, insbesondere aber der Reichsmythos, abhanden gekommen. Von daher ist es sicher auch legitim, wenn man mit zu den Quellen und spirituellen Wurzeln dieses Reiches zurückkehren will. Diese Quellen sind die einer im Sprachgebrauch Julius Evolas verstandenen „traditionalen Ordnung“. Insofern haben uns Stefan George und sein Kreis auch heute sicherlich noch einiges zu sagen.

Wie beurteilen Sie die Tat des 20. Juli 1944?

Ich bin hier ziemlich gespalten und habe dieser Frage in meinem Buch breiten Raum gewidmet. Nur so viel: Auf der einen Seite war die Tat notwendig, so oder so. Andererseits wirft es kein besonders gutes Licht auf die Akteure des 20. Juli, daß ausgerechnet Graf Stauffenberg, der im Kriege ein Auge, den rechten Unterarm und zwei Finger der linken Hand verlor, den Mut zum Handeln aufbrachte. Es wäre bis zum Juli 1944 jederzeit möglich gewesen, Hitler in direkter Gegenüberstellung zu erschießen und sich anschließend selbst zu richten. Das aber ist nicht geschehen. Am 20. Juli stieß eine alte und bereits im Untergang begriffene Welt auf vorurteilslose und zu allem entschlossene Revolutionäre, nämlich auf Adolf Hitler und den Führungskader der NSDAP. Aber auch Major Remer, der den Putsch in Berlin niederschlug, wird meiner Ansicht nach weit überschätzt. Er war lediglich der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Bei der Beurteilung der Tat des 20. Juli sollten wir immer daran denken, daß der Untergang des Dritten Reiches, wie immer wir zu ihm stehen, für Stauffenberg die Voraussetzung für den Aufstieg eines vierten deutschen Reiches war, in dem das „Geheime Deutschland“ sich verwirklichte. Das aber wird in den Sonntagsreden der Berliner Regierungsvertreter geflissentlich ignoriert. Sie werden wissen weshalb.
Im Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Stauffenberg fällt auf, daß – ähnlich wie bei der Revolution von 1848 und dem mitteldeutschen Volksaufstand vom 17. Juni 1953 – auch hier das Erbe bestimmter Ereignisse und Personen so uminterpretiert wird, daß es plötzlich möglich wird, dieses der tendenziell antinationalen bundesrepublikanischen Erinnerungskultur einzuverleiben. Welche politischen Vorstellungen waren für Stauffenberg maßgeblich?
Graf Stauffenberg als Vorkämpfer der Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland anzurufen und zu feiern, ihn auch nur einen Demokraten in unserem heutigen Verständnis zu nennen, grenzt an Perfidie oder strafbare Unkenntnis der Geschichte. Der Attentäter Hitlers gehört, wenn man ihn überhaupt „politisch“ verorten will, in den Dunstkreis der „Konservativen Revolution“, der ganz dezidiert ständestaatlichen Vorstellungen anhing, die mit Parlamentarismus nicht das Geringste zu tun haben. „Wir verachten die Gleichheitslüge und beugen uns vor den naturgegebenen Rängen“ heißt es in seinem „Schwur“ aus dem Jahr 1944. Daraus spricht nicht der Geist des Grundgesetzes. Was er genau an die Stelle des Dritten Reiches setzen wollte, bleibt recht unklar. Verbürgt ist aber, daß er am Abend des 20. Juli über seine Mitverschwörer resigniert bemerkte: „Sie haben mich ja alle im Stich gelassen“. Er starb mit dem Ruf „Es lebe das Geheime Deutschland!“. Claus von Stauffenbergs Realität war das Reich, welches eine feste Konstante seines Denkens und Fühlens war. Wir können davon ausgehen, daß er, würde er heute leben, von den Repräsentanten der BRD irgendwo zwischen Adolf von Thadden und Michael Kühnen eingeordnet wurde und das Stigma der „Verfassungsfeindlichkeit“ angehängt bekäme.

Gibt es auch noch in der Gegenwart Spuren dieses „Geheimen Deutschland“?

Das ist relativ schwer zu beantworten. Da nicht nur fast sämtliche Traditionslinien unserer Geschichte abgerissen sind, ist es noch weitaus schwieriger, die Spuren eines Symbols, wie es das „Geheime Deutschland“ darstellt, ausfindig zu machen. Claus von Stauffenberg war mehr als nur der Hoch- und Landesverräter, auf den ihn leider die nationale Rechte oft reduziert hat. Für mich waren jedenfalls die Essays des Dichters Rolf Schilling bedeutsam, vor allem in seinen Werken „Das Holde Reich“, „Kreis der Gestalten“ und „Schwarzer Apollon“. Der Begriff sollte heute jedoch weiter gefaßt werden, so finde ich.
In gewissem Sinne gehört auch die Renaissance dazu, welche etwa Ernst Jünger, Arno Breker, Winifred Wagner oder Leni Riefenstahl derzeit erleben. Soll man auch Hans Jürgen Syberberg, Botho Strauss, Hans Magnus Enzensberger, Hartmut Lange, Martin Walser, Helmut Krausser, Werner Tübke und Christian Thielemann nennen? Oder auch die aktuelleren Reichsdenker, wie Diwald, Sander, v. Lohausen, Bergfleth, Willms, Dietze, Mahler und Oberlercher? Ich weiß es nicht. Die ganze „rechte“ musikalische Subkultur spielt gleichfalls mit dem Thema, ich nenne den Namen „von Thronstahl“, aber alles bleibt doch ziemlich an der Oberfläche und wird dem Ernst der Dinge kaum gerecht.
Auch bei dem Filmemacher Alexander Kluge, den ich schätze, klingt die Thematik immer wieder an. Leider hat er sich bislang nicht ausführlicher mit diesem Stoff befaßt. Ich selbst habe versucht, mit meinem Buch die Erinnerung an die eigentliche Herkunft des Hitler-Attentäters wachzuhalten, auch meine Internet-Seiten www.geheimes-deutschland.de sollen hierzu beitragen. Das Wesentliche des „Geheimen Deutschland“ bleiben die Impulse, die von ihm ausgingen. Diese wehen, wohin sie wollen, und werden von denen aufgegriffen, die sie erkennen.

Werner Bräuninger, * 1965, trat mit Beiträgen über Person und Frühwerk Ernst Jüngers, den „faschistischen Stil“ und die führenden Köpfe der „Konservativen Revolution“ hervor. Er veröffentlichte mehrere Bücher über die systemimmanente Opposition im NS-Staat; zuletzt „Strahlungsfelder des Nationalsozialismus. Die Flosse des Leviathan“.

Bräuninger: Claus von Stauffenberg, 208 S., SW-Abb., brosch., Karolinger Wien 2002, € 24,—

 
Neue Ordnung, ARES Verlag, A-8010 Graz, EMail: neue-ordnung@ares-verlag.com