Es ist nicht leicht Worte zu finden, die beschämende, weil ja doch nur vorgeschobene Suche nach einer „Europäischen Identität“ ohne Häme zu kommentieren. Die bisher ergebnislose Suche zeigt nämlich, daß ein Weg eingeschlagen werden soll, der von einem totalen Bruch mit der Europäischen Geschichte ausgeht. Die EU droht zu einem Spielfeld von Macht- und materiellen Interessen zu verkommen. Noch kämpfen tapfere Politiker gegen die sich deutlich abzeichnende Übermacht jener, denen diese Interessen das eigentliche Ziel sind.
Die alte Weisheit „Zukunft braucht Herkunft“ ist den Neo-Europäern ein Hekuba. Um das Nächstliegende wird ein großer Bogen gemacht, nämlich daß durch die Jahrhunderte das „Abendland“ als jener Begriff feststand, der mit der Identität Europas gleichzusetzen war. Die Verleugnung der eigenen, der europäischen Geschichte läßt nun ein Vakuum entstehen, das der Verfolgung der jeweiligen Machtinteressen offenbar besser dient als ein klares Bekenntnis zu einer Vergangenheit, welche die Kulturgeschichte Europas als Fundament einschließt.
Im alten Europa konnten sich die Völker trotz der verschiedenen Sprachen in einer Sprache verständigen: in der Sprache der Anständigen, die in den Kirchen, in Schulen und Universitäten gelehrt wurde: Nicht das Lateinische ist damit gemeint, sondern die Sprache Christlicher Werte. In welcher Sprache werden die Menschen sich in diesem neuen wertefreien, oder besser: wertelosen Gebilde verständigen, wenn es um Fragen der Menschlichkeit jenseits materieller Interessen, des gegenseitigen Verständnisses für kulturelle Bedürfnisse geht? Werden etwa die neu hinzutretenden Europäer den Bergbauern am Brenner eine bessere Antwort geben können, die bisher schon zum Spielball materieller Interessen geworden sind? Ganz sicher werden diese Gebirgsbauern die europäische Gleichgültigkeit ihnen gegenüber nur verstärkt zu fühlen bekommen, weil Europa den „Neuen“ außer materiellen Zusagen nichts zu bieten hat und weil diese selbst, denen ein halbes Jahrhundert kommunistischer Herrschaft das Denken auf spiritueller Ebene versagt hat, sich auch gar nichts anderes erwarten.
Dieses Europa ist auf dem Wege, zu einem Armenhaus des Geistes zu werden. Die Volkskunst etwa, die Basis jeder Hochkultur in allen Bereichen – in bildender und musikalischer Kunst, in Tanz und Körperkultur, im geistigen wie im architektonischen und technischen Fortschritt – hat sich in ihrer unglaublichen nationalen Vielfalt auf wenige Institutionen musealen Charakters zurückgezogen. Was Volkskunst heute ist, bestimmen Tonträgerindustrie, Fernsehen und fördernde (oder nicht fördernde) staatliche oder halbstaatliche Institutionen. In einem wertelosen Europa ist jede wahre, weil gewachsene Kultur zum Verkümmern verurteilt.
Europa hat seine reiche Vergangenheit durch die Jahrhunderte den Spannungsfeldern zwischen den einzelnen nationalen Kulturen verdankt – unter dem letztlich doch einenden Bogen des Christlichen Abendlandes. Ich zitiere aus Rilkes „Cornet“: „Da sind sie alle einander nah, diese Herren, die aus Frankreich kommen und aus Burgund, aus den Niederlanden, aus Kärntens Tälern, von den böhmischen Burgen und vom Kaiser Leopold. Denn was der eine erzählt, das haben auch sie erfahren und gerade so. Als ob es nur eine Mutter gäbe …“ Wie soll über den unvermeidlichen Differenzen unter der zunehmenden Zahl von Mitgliedern der Union ein solcher Bogen entstehen? Eine solche Klammer muß entweder schon existieren, oder aus der Zeit wachsen. Müßig war die Hoffnung, daß ein Konvent unter Giscard d’Estaing in der Lage sein würde, einen solchen Bogen zu „konstruieren“.
Der ursprünglich visionäre Gedanke eines „Vereinten Europa“ ist in unserer materialistischen Zeit auf Abwege geraten. Einer der Gründe ist das immer intensivere europäische Schielen nach den Vereinigten Staaten. Durch den Zweiten Weltkrieg, den Marshallplan und den Kalten Krieg wurde der Einfluß der USA immer größer. Dazu kam ihr fast zur religiösen Überzeugung gewordene Sendungsbewußtsein, ihr Bekenntnis zu der Absicht, „… durch Übertragung ihrer Werte auf die Welt als Ganzes eine neue Weltordnung zu schaffen“ (Henry Kissinger). Und dazu kamen Kaugummi, Jeans, MacDonalds, Rock’n Roll und Coca-Cola: Dinge, die die Jugend faszinierten, die Töchter und Söhne der europäischen Wiederaufbau-Generation.
In Europa begann man, das „Amerikanische“ zu bewundern, zum Vorbild zu nehmen auch im gesellschaftlichen und politischen Denken – ohne zu berücksichtigen, daß die USA unter gänzlich anderen Bedingungen gewachsen waren und Europa einen eigenen, gemeinsamen „Bogen“ benötigte, um ein geeintes Europa zu werden, ganz besonders schon deshalb, weil die gemeinsame Sprache fehlte. Vergessen war, daß dieser gemeinsame Bogen ja bestanden hatte, gewachsen aus den gemeinsamen Wurzeln der Antike und des Mittelalters.
Die „Entsorgung“ des Abendlandes war in vielen Etappen vor sich gegangen: 1789, 1804, 1866 (!), 1919, 1933, 1938, 1945, 1968. Wird die Folge dieser Entsorgung nun die Verwirklichung eines als „Vision“ nur etikettierten und mit ochsenhafter Sturheit zusammengeflickten Europas sein, welches den endgültigen Untergang des Abendlandes besiegelt? Das „Machertum“ hat auf die Politik übergegriffen. Die europäische Hybris ist daran gegangen, im europäischen Babel einen Turm zu bauen, der die Sprache abendländischer Gemeinsamkeit ausrotten soll. Das Tor aber, das sich zur echten Straße nach Europa öffnen könnte, ist verschlossen, und Giscard d’Estaing ist es nicht gelungen, den Schutt fortzuräumen, der es versperrt. Auch zeigte sich, daß sein Streben gar nicht in diese Richtung ging. Bei allem Bemühen, nicht zu verallgemeinern, ist es in Anbetracht der Geschichte Österreichs schwer, sich der Meinung zu entziehen, daß die Franzosen – anders als ein Rilke – schon früher nicht verstehen wollten und auch heute nicht verstehen wollen, was Europa in Wahrheit war und ist.
Was not tut, ist ein Konvent, der sich mit dem echten europäischen Geist und den wahren Werten des Abendlandes befaßt. Es gilt, den gemeinsamen „Bogen“ wiederzuerrichten.
Doch die Rufer in dieser Wüste sind gering an Zahl, wohl deshalb, weil das Eintreten für ein geeintes Europa nicht mehr Vision, sondern eben zu hinter Mode versteckter Macht verkommen ist. Sich den Keulenhieben seitens der zahlreichen Vertreter dieser Macht- und Wirtschaftsinteressen zu stellen ist nicht jedermanns Sache. Und wird die nötige Auseinandersetzung noch rechtzeitig stattfinden oder wird es schon ein Ritt gegen Windmühlen? Ist das vielschichtige Geflecht von Polit-Machern noch von innen her zu durchdringen? Oder ist es vielleicht gar vorbei mit Europa? Sicher gibt es nicht wenige, denen auch der Untergang des Abendlandes ebenso gleichgültig ist, wie der Zauber seiner uralten Volkslieder.
Es geht darum, der Vision gerecht zu werden im Widerstand gegen dieses derzeit geplante Europa, bevor das Unglück in einer durch Macht erzwungenen Verfassung geschehen ist. Ein wahrhaft geeintes Europa ist als Vision zu bedeutsam geworden, um ihre Verwirklichung allein den Politikern zu überlassen. Die Orte, sich mit der Verwirklichung der Vision zu befassen, sind die Studierstuben von Philosophen und Historikern, sind Bergspitzen, sind die Gründe tiefer Wälder, sind Felsen am Rande des Meeres und sind die hohen Räume der Kirchen: überall dort, wo man sich jener Kraft nahe fühlt, die den Gang der Welt bestimmt.