Will man zahlreiche politische Gegenwartsphänomene verstehen, so ist der analytische Blick auf ihre Anfänge in der Studentenrevolte von 1968 hilfreich. Die Machtverhältnisse in der Partei der „Grünen“, die immerhin einen ehemaligen Aktivisten der Gruppe „Revolutionärer Kampf“ zum Außenminister und einen ehemaligen Anhänger des „Kommunistischen Bundes“ zum Bundesumweltminister gemacht haben, die sich in den 90er Jahren ausweitende „antifaschistisch!“ deklarierte Gewalt, vor allem getragen durch „autonome“ Gruppen, die Formulierung explizit „antideutscher“ Standpunkte in linksgerichteten Zeitschriften wie „Konkret“ – all diese Erscheinungsformen haben ihre Ursprünge in der APO-Revolte.
Der Publizist Gerd Koenen, in den 70er Jahren Funktionär des „Kommunistischen Bundes Westdeutschland“ (KBW), hat in seinem Buch „Das rote Jahrzehnt“ (Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001, Verlag Kiepenheuer & Witsch) einen differenzierten und sehr kritischen Blick auf die Post-68er-Linke in Deutschland geworfen, ohne vorschnell erhobenen konservativen Zeigefinger, aber gespickt mit vielen Innenansichten in die „Szene“ jener Jahre. Ausgiebig werden dabei die psychologischen Prozesse zwischen den Mitgliedern der diversen kommunistischen Kleingruppen oder der RAF beleuchtet.
Die Bewegung besaß dabei seiner Ansicht nach in ihrem Erscheinungsbild Revolutionscharakter. Zeitzeugen erinnern sich oft noch an das jähe, plötzliche, unerwartete Aufschießen der 68er-Bewegung nach einer längeren Phase des unpolitischen Konsums. „Ich habe zweimal in meinem Leben erfahren, wie urplötzlich Revolten entstehen können“, berichtete dem Autor dieser Zeilen unlängst ein APO-Veteran. „Das war 68, als niemand damit gerechnet hätte. Und das war 1989 mit dem Fall der Mauer so. Kaum jemand hat ein halbes Jahr vorher eine solche Entwicklung vorausgesehen.“
Diese linke Jugendbewegung entstand auch als Nachholversuch der „verratenen Revolution“ vom 8. Mai 1945, die angeblich nicht ausreichend in „antifaschistische“ Säuberungsaktionen und Gesellschaftsreformen gemündet hätte. Der Mythos vom 8. Mai 1945, die Trauer über die „verpaßte Chance“ für die politische Linke in der Bundesrepublik, beeinflußt bis heute die orthodox-marxistische, nostalgisch orientierte ältere Generation des „antifaschistischen Milieus“. Bei der Suche der 68er nach Ideologie war der Weg in den Neomarxismus vorgezeichnet, da Alternativ-Angebote fehlten. Faschismus und Nationalismus waren durch noch frische Negativerfahrungen des Zweiten Weltkriegs diskreditiert (die sich damals formierende „Neue Rechte“ versuchte deshalb auch, einen von faschistischen Altlasten gereinigten Nationalismus zu entwickeln). Neonationalsozialismus entstand erst ab Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre, und war bereits eine provokante Reaktion gegen die zunehmende Dominanz des 68er-Gedankengutes in der Bundesrepublik. In den 50er und 60er Jahren war die Ablehnung von NS-Apologie bei der Jugend noch sehr ausgeprägt. Schließlich war der Nationalsozialismus todgeweiht gewesen. Hitler und seine Getreuen hatten alles auf eine Karte gesetzt, sich die ganze Welt zu Feinden gemacht – und verloren. Die These vom „Lebensrecht des Stärkeren“ führte, gegen Hitler selber gewendet, zu einer Art heidnischem Gottesurteil über die NS-Bewegung. Eine „Dolchstoß-Legende“ war diesmal nicht möglich. Der Kampf war bis zum Äußersten gegangen, und der Selbstmord Hitlers hatte dessen totale Niederlage besiegelt, ein vollständiges Versagen in letzter Konsequenz. Der „Neomarxismus“ der „Neuen Linken“ entstand somit als nachträgliche Orientierung an der historisch stärksten „antifaschistischen“ Gegenbewegung zum NS-System. Diese Adaption hatte zur Folge, daß man sich auch in die historische Schuld dieser Bewegung, des Kommunismus, verstrickte, zu Apologeten und Verschweigern der kommunistischen Menschheitsverbrechen wurde.
Die 68er litten unter der schizophrenen Teilung der NS-Gesellschaft in das kollektive Verbrechen und die private Idylle, bewerteten deshalb die nationalen Katastrophen, die Bomben, die Vertreibung, die deutsche Teilung, zunehmend als gerechte Folgen „deutscher Schuld“, um auf diese Weise dem allgegenwärtigen Leid einen „Sinn“ zu geben und mit ihm leben zu können. Die sich ab Ende der 60er Jahre verstärkende „Vergangenheitsbewältigung“ ist dabei mitnichten nur ein Produkt alliierter Indoktrination via „Umerziehung“. Die „Umerziehung“ hatte bei der von ihr betroffenen Kriegsgeneration nicht zu einer generellen Aufgabe nationalbewußten Denkens geführt. Erst die 68er-Generation legte die Keime zum heutigen Selbstverständnis der „Antideutschen“ im eigenen Land. Diese Haltung resultierte aus dem Verlust des kindlichen Urvertrauens in die Gesellschaft, nachdem die Dimension des Verbrechens „Auschwitz“ in seiner ganzen Größe ins Bewußtsein der Gesellschaft gesickert war. Bei Auslandsreisen ständig mit Vorwürfen durch ausländische Gastgeber konfrontiert, distanzierte sich die junge deutsche Generation schließlich von den Alten, deretwegen man sich ständig dafür rechtfertigen mußte, Deutscher zu sein. Distanz zum nationalen Denken, Haß auf Deutschland, das seine gerechte Strafe erhalten habe, wuchs langsam. Man empfand sich als „fremd im eigenen Land“ – ein Denken, das bei linksgerichteten Nachwachsenden (und nicht nur bei diesen) bis in heutige Tage Bestand hat und gepflegt wird. Und als sich antinational, fremdenfreundlich gebender Deutscher erhielt man im Ausland endlich den Beifall, die Anerkennung, nach der man sich sehnte. Auf diese Weise bestätigt, nutzte man die internationale Anerkennung als Pfand gegen die mächtige Elterngeneration. Es kam zu skurrilen Blüten aus diesem Denken. Aus Solidarität mit Daniel Cohn-Bendit riefen 1968 Studenten „Wir sind alle deutsche Juden!“ Einige glaubten, wie Dutschke oder Klein, jüdische Vorfahren zu besitzen. Andere fühlten sich als „Antifaschisten“ beständig verfolgt von Polizei und Nazihorden.
Eine wichtige Rolle bei der Bewegung spielte der Narzißmus, die Suche nach eigener Bedeutung angesichts des Einflusses und der enormen Schicksalhaftigkeit der vorangegangenen Generation. Dies lief zusammen mit dem Versuch der moralischen Erhöhung durch Selbstermächtigung gegen den „fruchtbaren Schoß“.
Aus all dem resultierte ein immer größerer Respektsverlust gegenüber den alten NS-Eliten und deren Anhängern. Zwar bestimmten die „alten Nazis“ in den 50er Jahren noch in starkem Maße die bundesdeutsche Gesellschaft mit, sie waren damals noch relativ jung und extrem anpassungsfähig, aber sie verloren langsam an Einfluß.
Stellvertretend wurde von den 68ern die Auseinandersetzung mit tatsächlicher oder eingebildeter Schuld der Eltern aus der NS-Zeit ausgetragen. Dabei waren die Bürgerkinder voller Klagen über die angebliche oder reale NS-Vergangenheit der Elterngeneration, aber ohne Sensibilität für die deutschen Leiden jener Jahre. Nach dem Hochzüchten der Deutschen durch das nationalsozialistische „Stahlbad“ folgte nun jenes durch Demut. Durch die beständige „Aufarbeitung“ der im deutschen Namen begangenen NS-Verbrechen, durch permanente Anerkennung und Zelebrierung der „deutschen Schuld“ erhoffte man sich, eine kathartische „Reinigung“ von den Sündenfällen der eigenen Kultur zu erreichen. Es sollte eine menschliche „Neuschöpfung“ aus einem Prozeß erwachsen, der mit mittelalterlichen Geißelungsritualen vergleichbar ist.
Ab ca. 1960 aber wandelte sich die kollektive Mentalität hin zu den bestimmenden Werten des Individualismus und Materialismus, was die Kriegsgeneration in ihrem kollektivistischen Selbstverständnis endgültig erschütterte.
Doch, das stellt nicht nur Gerd Koenen fest, die 68er-Revolte war keine pure Gegenbewegung zur „Restauration“. Sonst hätte die spätere Integration ihrer Träger in die Institutionen des marktwirtschaftlichen Systems nicht so reibungslos funktioniert. Sie war statt dessen nur das Produkt bereits grassierender sozialer Umwälzungen, z. B. der Verwestlichung der Lebensstile und des Wirtschaftsliberalismus. Es bestand also eine Interaktion zwischen der Bewegung und der ohnehin vorhandenen gesellschaftlichen Entwicklungen zur hedonistischen Singlegesellschaft. Die Schizophrenie der 50er Jahre hatte ja in der Betonung christlich-konservativer Ideologie bei realer kapitalistisch-liberaler Beschleunigung und Auflösung der Sozialmilieus bestanden. Während die allgemeine Motorisierung und Mobilisierung Realität wurde, wurden in Filmen dem Herz des Kinobesuchers vormoderne Alpenidyllen geboten. Die Pille, das Fernsehen, der Massentourismus, die Automobilisierung und die entstehende Popkultur veränderten sämtliche Lebensbereiche und prägten die Jugend jener Tage. Die herrschende Kriegsgeneration trieb diese Entwicklung entschieden voran, war aber geistig noch nicht in der selbst geschaffenen Gegenwart und Zukunft angekommen. Die Jüngeren dagegen hatten die reale „Amerikanisierung“ längst verinnerlicht, so daß der Konflikt zwischen der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration unausweichlich wurde. Wer gesellschaftlichen, technischen Fortschritt schafft, wer „Wachstum“ um jeden Preis fordert, wird eines Tages auch mit den logischen geistigen Konsequenzen seines bisweilen gedankenlosen Handelns konfrontiert werden. Wohlstands-Jugendrandalen und die Lust am Zerrissenen, Verlotterten entstanden als Reaktion auf den termitenhaften, beherrschenden gesellschaftlichen Ordnungs- und Gestaltungsanspruch der Eltern. Reihenhaussiedlungen, Werbetafeln, Autobahnen, Einkaufsmärkte und Parkplätze begannen die Landschaft zu prägen, ohne daß die Jugend irgendeinen Einfluß auf die Veränderung auch ihrer Lebenswelt nehmen konnte. Der bis heute im linksgerichteten Jugendspektrum anzutreffende Haß gegen das „Normale“ hat in dieser Ohnmachtserfahrung und Entfremdung eine seiner Ursachen, auch der bis heute trotzig getragene Gestus von Protest und Verweigerung, so fundamentlos er sich in der Realität auch meist erweist. So entstanden auch Jugendsubkulturen, welche die sie vereinnahmende Unterhaltungskultur infiltrierten und die Jugend endgültig zur Kulturavantgarde werden ließen. Jugendsub- und Popkultur wurde seitdem zu einem metapolitisch einflußreichen und von der politischen Rechten bis heute kaum begriffenen Gesellschaftssegment.
Die Revolte gegen die Aufbauwelt der Eltern mit ihrer immer stärker werdenden Reglementierung und Betonierung des Landes vollzog sich 1968 aber über den Umweg, die Flucht in die imaginäre, zurückliegende Zeit der Welt- und Bürgerkriege des 20. Jahrhunderts. Privilegierte Bürgerkinder kokettierten aus Provokation mit roten Fahnen und kommunistischen Massenmördern. Fanatismus im Lesen von revolutionärer Theorieliteratur schuf virtuelle Realitäten bei vielen Trägern der Bewegung, die sich von realen Erfahrungen entkoppelt hatte. Rudi Dutschke – übrigens wie Bernd Rabehl durchaus von patriotischen Motiven mitbewegt – war im Grunde schon weiter als die kommunistischen Nostalgiker jener Tage, indem er der Aktion an sich Wert zubilligte, unabhängig von einem bestimmten Ziel (Habermas kritisierte damals diese Haltung übrigens, weil sie „links“ wie „rechts“ instrumentalisierbar war). Die Auslöser für Gewalt in diesem eskalierenden Prozeß waren oft nichtig, die (systemimmanente) Revolte an sich das wichtige Moment.
In der Regel entsprangen die 68er-Revolutionäre nicht dem eifrig umworbenen Proletariat, sondern dem Kleinbürgertum, der – laut Enzensberger – „experimentellen Klasse“, da Kleinbürger meist alles andere als Kleinbürger sein wollen und deshalb die größten Kreativpotentiale für diesbezügliche Absetzbewegungen entwickeln. Der Ekel vor dem Kapitalismus führte aber nicht bei allen automatisch zur Liebe für die Arbeiterklasse. „Wir verlautbarten: ‚Scheiß-Revolution, Scheiß-Arbeiter‘, weil das alles für uns keine historischen Subjekte waren. Wir sahen ja, daß die Arbeiter uns haßten, weil wir freier lebten“, äußerte „Kommune 1“-Anhänger Rainer Langhans 1998 in dem Buch „Bye-bye ‘68“. Als Konsequenz aus der Entfremdung Dutschkes und anderer 68er von den Proletariern, die zu kleinbürgerlichen Konsumsklaven geworden seien, näherte man sich gesellschaftlichen Randgruppen an. Auch die „Dritte Welt“ wurde dabei als revolutionäres Subjekt entdeckt. Über den Aufstand der farbigen Völker gegen die Macht des weißen Kapitalismus sollte die Weltrevolution entstehen. Der spätere „Multikulturalismus“ mit seiner oft unkritischen Verherrlichung exotischer Völkerschaften hat hierin eine seiner Wurzeln. Die Apologie außereuropäischer Völker resultierte aus dem Autoritätsverlust der alten Eliten und des bedeutungslos gewordenen weißen Europa, auf dem nach der Phase des Kolonialismus der Generalverdacht einer verbrecherischen Geschichte lastete.
Man suchte die totale Opposition gegen die totalisierende, technische, kapitalistische Macht. „Revolutionäre Bewußtseinsgruppen“ sollten aus dem unzufriedenen „Brei“ einer heterogenen subkulturellen Basis mittels konkreter dynamischer Aktionen ein politisches „Subjekt“ formen. Hilfreich zur Aufheizung der Lage waren dabei „Blutopfer“, Verletzte oder Tote aus den eigenen Reihen, die Opfer rechtsgerichteter Anschläge oder von Polizeieinsätzen geworden waren. Benno Ohnesorg oder Rudi Dutschke erfüllten dabei eine ebenso emotionalisierende Funktion wie später die Demonstrationsopfer Günter Saré oder Conny Wessmann in Zusammenhängen des „aggressiven Antifaschismus“. Der Antrieb aber bestand weniger in einem Programm, das erst später im Studium marxistischer Klassiker gesucht wurde, als in diffusen Leerformeln einer „anderen Gesellschaft“.
Die Radikalisierung der Bewegung wie auch späterer Jugendsubkulturen erfolgte auch durch die systemimmanenten Vereinnahmungstendenzen im Kapitalismus. Wenn, bedingt durch die marktwirtschaftlichen Verwertungsbestrebungen, irgendwann „Punk“-Kleidung in jeder C&A-Filiale feilgeboten, also vermarktet wird, bedarf es für Jugendliche, die sich vom „Mainstream“ absetzen wollen, immer stärkerer Radikalisierungsimpulse. Der Kapitalismus also treibt die gesellschaftliche „Enttabuisierung“ durch seine eigene maßlose Kommerzialisierung selber voran.
Die 68er-Bewegung mündete schließlich in die Ende der 70er Jahre gegründete Partei der „Grünen“, die der Antithese eine neue Synthese entgegenstellte und schließlich 1998 zur Regierungspartei wurde. Radikale Reste der Revolte leben noch in allerlei Subkulturen, zum Beispiel den „Autonomen“. Viele Haltungen des „roten Jahrzehnts“ sind auch heute noch mächtig im öffentlichen Diskurs und können an zahlreichen Äußerungen von Journalisten, Hochschulprofessoren oder Politikern nachgewiesen werden. Die Risiken einer Seinsvergessenheit in Fragen der nationalen Interessensvertretung oder einer Entwicklung hin zum „politisch korrekten“ Gesinnungsstaat gehen dabei auf jenes Konto. Die 68er-Generation herrscht, befindet sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht und prägt das nationale Bewußtsein. Zahlreiche Mentalitäten, die in den Medien, im öffentlichen Diskurs der Gegenwart ausgiebig zu Wort kommen, haben ihre geistigen Wurzeln in jenem „roten Jahrzehnt“ der Jahre 1967–1977.