Eine Aufgabe jener Wissenschaft, die sich seit Baumgartens Werk „Aesthetica acroamatica“, Frankfurt an der Oder 1750–1758, Ästhetik nennt, und sicherlich eine ihrer dringendsten, ist es, zwischen dem Künstlerischen und dem Ästhetischen zu unterscheiden: zwischen dem künstlerischen Akt und dem ästhetischen Akt, zwischen dem Kunstwerk und dem ästhetischen Objekt. Es ist eine Aufgabe nicht nur von theoretischer, sondern von praktischer Bedeutung, denn erst diese Unterscheidung ist
imstande, die Verwirrungen der Kunstkritik zu klären, die uns heute aus jedem Zeitungsblatt beirren.
Der erste Schritt zur Lösung dieser Aufgabe ist, zu bestimmen, was Kunst eigentlich ist. Was denn das Gemeinsame untereinander so verschiedener Künste ist, wie auf der einen Seite Tanz, Musik, Lied, Gedicht, Schauspiel, auf der anderen die Trias Architektur, Bild (gemaltes oder plastisches), Ornament, nicht zu vergessen das Kunstgewerbe.
Auf diese Frage antwortet Weidlé mit Entschiedenheit und antworten wir mit ihm: Kunst ist Sprache, nichts als Sprache, doch eine Sprache eigener Art und Struktur, anders als die begriffliche. (Dieser Abschnitt stützt sich in der Hauptsache auf Wladimir Weidlés Arbeiten über „Kunst als Sprache“ und über „Mimesis“.) Diese Antwort ist nicht neu, sie hat eine respektable Ahnenreihe, hinauf bis mindestens zu Bonaventura, also ins 13. Jahrhundert. Doch ins allgemeine Bewußtsein ist die Erkenntnis, daß Kunst Sprache ist, noch nicht gedrungen, und das hat sehr reale Folgen.
Worin besteht der Sprachcharakter der Kunst? Wie jede Sprache, wie die Wort- und Zeichensprachen, hat die künstlerische Sprache sozusagen zwei Seiten (Wilhelm von Humboldt spricht von zwei Prinzipien der Sprache): eine, die sich an unsere Sinne wendet, die also gehört, gesehen oder gehört und gesehen werden kann, und eine zweite Seite, die sich an unseren Geist oder an unsere Seele oder an beide zugleich wendet. Diese beiden Seiten hängen in eigentümlicher Weise miteinander zusammen, und zwar sehr eng, viel enger als in der begrifflichen Sprache. Ja, sie durchdringen einander gegenseitig so, daß die kleinste Änderung der einen Komponente oft den Sinn der anderen Komponente vollkommen verändert. Jedenfalls sind sie untrennbar miteinander verbunden, und diese Verbindung hat nichts Konventionelles (wie bei gewissen Zeichen), sondern hat etwas Notwendiges.
Um diese Zweiseitigkeit zu demonstrieren, gehe ich von einem Kunstwerk aus, und zwar von einem lyrischen Gedicht, und unterwerfe dieses Beispiel zwei Gedankenexperimenten. Erstes Experiment: Hört man ein Gedicht vorgetragen in einer Sprache, die der Hörende nicht versteht, so tritt jene Seite, welche sich an die Sinne wendet, isoliert hervor; man hört Klänge, Laute, Lautfolgen, Rhythmen, Metren usw. usw. und kann von ihrem Zusammenhang ästhetische Eindrücke empfangen; man hört eine bezaubernde Sprachmelodie oder einen interessanten, packenden Rhythmus und dergleichen. Das aber, was durch diese Klänge vermittelt werden sollte, höre ich nicht; ich höre nicht den intendierten, gemeinten „Gehalt“ (= intrinsic meaning) des Kunstwerks. Ja ich höre nicht einmal die so isolierte Seite des Kunstwerks richtig, denn losgelöst von Ihrem Gehalt klingen die Laute, Lautfolgen, Rhythmen des Gedichts anders, verfremdet. Zweites Experiment: Liest jemand von demselben Gedicht eine Übersetzung in Prosa, in derselben Sprache, in der das Gedicht verfaßt wurde, so tritt die andere Seite isoliert hervor: der kahle „Inhalt“ des Gedichtes, welcher aber etwas ganz anderes ist als dessen eigentlicher Gehalt. Mich kann dabei die Tiefe eines Gedankens, einer Vorstellung, sogar eines Gefühls ergreifen, doch wiederum erreicht mich nicht, was der Künstler eigentlich ausdrücken wollte, wiederum ist das Kunstwerk entschwunden. Nur wenn beide Seiten, in sinnvoller Entsprechung miteinander verbunden, da sind, wenn der Hörer (oder Leser) die Entsprechung wahrnimmt und sie versteht, ist das ganze Kunstwerk da, erfasse ich seinen Gehalt, spricht es zu mir.
In diesem doppelten Gedankenexperiment tritt jedenfalls klar hervor, daß Kunst Sprache ist. Denn von der Sprache überhaupt hat Wilhelm von Humboldt gesagt: „Von den ersten Elementen ist die Erzeugung der Sprache ein synthetisches Verfahren, und zwar ein solches im echtesten Verstande des Wortes, wo die Synthese etwas schafft, was in keinem der verbundenen Teile für sich liegt“. Und er fügt hinzu, es erinnere die Sprache überhaupt oft, am meisten aber hier, in dem tiefsten und unerklärlichsten Teil ihres Verfahrens an die Kunst.
Es bleibt nun zu zeigen, daß das, was das lyrische Gedicht zu einem Kunstwerk macht, für alle Kunst, für alle Künste typisch und konstitutiv ist, sowohl für die Kunstwerke wie für das künstlerische Verfahren, aus dem sie entstehen. Daß man also das lyrische Gedicht als Modell für Kunst überhaupt verwenden kann. Um das zu zeigen, stelle ich zunächst eine Skizze der Einteilung der Künste, ihres natürlichen Systems, voraus.
Da sind am einen Pol jene Künste, die in der alten „Mousiké“ (wie die Griechen sie verstanden) auch real vereinigt waren: Dichtkunst, Musik, Tanz. Sie entspringen im religiösen Raum und gestalten die kultische Handlung: das „Dromenon“. Das sind die musischen Künste, und sie bleiben es auch dann, wenn ihre verwirklichte Einheit in der „Mousiké“ nichts mehr als Erinnerung ist. Diese Künste dauern nicht; weil sie die lebendigsten sind, haben sie teil an der Vergänglichkeit des Lebens. Um zu leben, müssen sie immer wieder neu hervorgebracht, „wiederholt“ werden: das Drama muß „aufgeführt“ werden, das Gedicht rezitiert (später nur mehr gelesen), die Musik muß „gespielt“, der Tanz muß getanzt werden; alle diese Künste müssen tradiert werden.
Am anderen Pol steht die Architektur. Sie ist der dauernde Rahmen oder Hintergrund für die kultische Handlung und für die damit verbundenen Künste; sie ist das Gehäuse des Kultbildes oder der unsichtbaren Gottheit selber. Auch in ihren säkularisierten Formen ist sie mit ihrer unbeweglichen Ruhe ein Symbol der Dauer.
In einer vermittelnden Zone befinden sich die Werke der Skulptur und Malerei: die „Bilder“ (= imagines). Als Darstellungen beziehen sie sich auf den „Vorgang“ in der Mitte, als geformte Materie gehören sie zu der vom Baumeister geschaffenen künstlichen Welt.
Dieser Aufriß der Welt der Künste – ein Schema gewiß, aber nicht durch logische Kunstgriffe hervorgebracht, sondern auf umfassende Erfahrungen gegründet – erspart die grobe Unterscheidung zwischen darstellenden und nichtdarstellenden Künsten (Helmut Kuhn). Denn in allen Künsten wirkt allgegenwärtig die „Mimesis“ (das Wort in seinem ursprünglichen, vorsokratischen Sinn verstanden), auch das eine Erkenntnis, die wir Wladimir Weidlè verdanken. Sie alle drücken einen geistigen Gehalt – eine „Anschauung“, ein Ethos, ein Pathos – aus und stellen es dar. Dieses natürliche System der Künste läßt verschiedene Typen der Darstellung erkennen, die von dem Gebäude, welches das kosmische Rahmenwerk symbolisiert, bis zu dem Schauspieler reichen, der das menschliche Leben in dem ihm eigenen Stoff wiederholt. Auch nachdem die Künste sich voneinander getrennt, emanzipiert und säkularisiert haben, bleibt ihr Verhältnis im natürlichen System, unsichtbar geworden, erhalten. Erst wo die Kunst, wie in unseren Zeiten, in etwas ganz anderes umschlägt, lösen sich die Gattungen auf, und vor einem Objekt im „Museum der modernen Kunst“ läßt sich oft nicht mehr sagen, was es eigentlich ist.
So verschieden aber die Arten der Darstellung oder des Ausdrucks sind, den Charakter einer Sprache haben alle Künste. Das ist für die einzelnen Künste hier noch zu zeigen, wenn auch, wegen des begrenzten Raumes, notwendigerweise nur flüchtig.
Beginnen wir diesmal mit der Architektur. Eine Muse der Baukunst kannten die Griechen nicht, sowenig wie eine der Skulptur oder der Malerei. Diese Künste wurden der „Techné“ zugerechnet. Daß aber in den bauenden und bildenden Künsten sich etwas Ähnliches ereignen kann wie in den „musischen“, ist dem bewußten griechischen Denken entgangen. Auch die Architektur hat, sofern sie Kunst ist, Sprachcharakter. Ein Bauwerk kann seinen Zweck genau erfüllen, seiner Bestimmung tadellos entsprechen, es kann ästhetisch befriedigend und „reizvoll“ sein, ohne doch die Erfüllung seines Zwecks, ohne seine Bestimmung selbst anschaulich auszudrücken (Weidlé). Doch nur dort, wo vom Bauwerk ein „Mehr“ gefordert wird, erhebt es sich zur Architektur. Zwei Bedingungen müssen erfüllt sein: Erstens, das Bedürfnis muß mehr als ein materielles sein, es muß etwas Geistiges enthalten, es muß zum Gehalt erhoben werden können. Zweitens, dieser Gehalt muß sinnbildlich dargestellt und ausgedrückt werden. Dann spricht das architektonische Werk. So entsteht aus dem Haus der griechische Tempel, das Haus des Kultbildes und der Gottheit selber, deren strahlende Gegenwart durch jede Einzelheit wie durch das Ganze der technischen Form dargestellt und ausgedrückt, also verwirklicht wird. So wird die goldene Kuppel der Hagia Sophia zum Bilde des Himmels, ja zum Himmel selbst. So schaffen die gotischen Techniker die Voraussetzungen, um aus der Kathedrale eine Darstellung des von überirdischem Licht erfüllten Himmlischen Jerusalem zu machen, der Stadt Gottes, die uns nahe kommt, ein kristallenes Zwischenreich zwischen Erde und Himmel. So werden Schloß und Park von Versailles zum Lichtreich des „Königs Sonne“. Was für die monumentale Baukunst der Antike und des Abendlandes gilt, das trifft, mutatis mutandis, auch für das aus leichtem, vergänglichem Material hergestellte japanische Teehaus zu (Helmut Kuhn).
Ähnliches gilt für das Kunstgewerbe. Wie das schlichteste Haus, so dient auch das unscheinbarste Gerät nicht nur materiell, sondern es sagt, daß und wie es dient, und indem es das sagt, dient es zugleich unserem Geiste (Weidlé). Kunstwerke sind jene Artefakte (unter allen anderen möglichen), deren zum Sinngehalt erhobener Zweck in ihrer Form sprechend ausgedrückt ist.
Was das Ornament betrifft, so ist es entweder eines der wichtigsten Mittel, das Bauwerk und das Kunstgewerbe zum Sprechen zu bringen, oder es wird selbst zur Sprache, indem es unter sehr geringem Aufwand von bezeichneten Inhalten geistige Gehalte ausdrückt.
Sprache ist auch das Bild, es sei gemalt oder gemeißelt. Im Bilde – sofern es ein Kunstwerk ist – wird der Inhalt (das Thematische, Dinge, Vorgänge) dargestellt, der Gehalt aber wird in dieser Darstellung, nicht neben ihr ausgedrückt. Selbstverständlich ist dieser Ausdruck zugleich Formgebung, und die entstandene Form besteht aus Farben, Linien und räumlichen Verhältnissen (oder auch nur aus den letzten beiden, ohne die Farbe). Aber Form und Inhalt sind beides nur Sprache, die für den Ausdruck des Gehaltes unentbehrlich ist. Dieser selbst ist unaussprechlich. Wenn es anders wäre, wäre ja die Kunst überflüssig.
Analoges gilt für die „musischen“ Künste. Was sich im Tanzen und Singen und Sprechen ereignet, ist „Mimesis“: die Darstellung wird Ausdruck, und der Ausdruck durchdringt die Darstellung. In der Musik wie im Tanz – sofern er sich von der Pantomime entfernt – gibt es keinen „Inhalt“: die Töne und Tonfolgen, die Bewegungen und Gebärden drücken ganz unmittelbar etwas auf andere Weise Unsagbares, Unvermitteltes aus: den Gehalt. Hier ist die Stelle, wo man statt Gehalt, Ethos sagen möchte und vielleicht auch sagen dürfte.
Wenn mithin alle Künste, jede auf besondere Art, Sprache sind, so teilen sie mit der Sprache überhaupt noch eine Eigenschaft: sie alle wenden sich an einen Menschen oder an einen Kreis von solchen, sie alle sind nach Weidlé „ein Wort vom Menschen zum Menschen gesprochen“. Kunst ist Sprache, und eine Sprache ist da, um verstanden zu werden. „In jedem Kunstwerk steckt auch die platonische Idee der Wirkung, und Unverständlichkeit a priori wäre demnach ein ethischer Defekt“ (Hermann Broch).
Um sich zu verwirklichen, muß das Kunstwerk wirken, es muß nicht nur gesehen, gehört (oder auch gelesen), sondern auch verstanden werden. Und das heißt zweierlei: verstanden im Wesentlichen seines Sinngehaltes und verstanden in seinem Aufbau, seiner Gliederung, im Verhältnis der Teile zum Ganzen. Der Betrachter kann und darf mit ihm nicht nach Belieben schalten, weil das Kunstwerk ein anderer Geist, nicht der seine geschaffen hat, weil dieser andere Geist im Kunstwerk und durch das Kunstwerk hindurch etwas mitgeteilt hat oder mitteilt, was vorgenommen werden will. Der Betrachter muß auf das Kunstwerk eingehen, sich von ihm „ergreifen“ lassen. Das kann auf naive und auf reflektierte Weise geschehen. Das Kunstwerk hat zwei Leben. (Helmut Kuhn, Wesen und Wirken des Kunstwerks, 1961)
Jede Analyse der Form wie des Inhalts ist Sprachanalyse. Sie ist in vielen Fällen für uns notwendig, aber doch nur ein Weg zum Ziel. Ziel ist, das auf andere Weise Unsagbare, welches das Kunstwerk mitteilt, richtig wahrzunehmen.
Ich habe hier einen Aspekt der Kunst in den Vordergrund gestellt: Kunst als Sprechen und als Sprache. Es gibt einen anderen Aspekt: Kunst als Werk und als „Machen“ des Werks. Es mag unserem Sprachgefühl Schwierigkeiten bereiten, von einem Kunsttanz als „Werk“ zu sprechen; daß ein Tanz ein Kunstwerk sein kann, bestreitet niemand. Kunst als Sprache und Kunst als Werk sind zwei komplementäre Aspekte, ein wenig so wie Welle und Korpuskel Aspekte des physikalischen Phänomens „Licht“ sind. Doch diesen Vergleich lasse ich gleich wieder fallen.
Wer keine Lust hat, das Kunstwerk mit dem ästhetischen Objekt zu verwechseln (von dieser Verwechslung müßte noch die Rede sein), wird nicht vom Werk ausgehen, sondern mit Wilhelm von Humboldt von der „Energeia“, der geistigen Leistung, aus der Werke entstehen und die sich in Werken bekundet, doch nicht nur in ihnen, sondern ebenfalls schon in den ersten Schritten zum Werk und darüber hinaus in jeder zu ihr gehörigen Mühe und Tat, auch wenn diese gar nicht auf Vollendung eines Werkes hinzielt. (Weidlé).