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Die Abkehr von der Symmetrie

Von Herwig Ronacher

Die Symmetrie ist aus der vom Menschen wahrgenommenen Schöpfung nicht wegzudenken. Symmetrie herrscht im Mikrokosmos und im Makrokosmos und sie ist in der uns bekannten, höchsten Form der Schöpfung in allen Facetten des Lebens anzutreffen. Schließlich sind wir Menschen selbst weitgehend symmetrisch. Daher ist es nicht verwunderlich, daß der Mensch, seit er in der Lage ist, aus seinem Willen heraus zu gestalten, symmetrische Gebilde schafft. Gegenstände des Alltags, Werkzeuge, Möbel, Geschirr, was immer der Mensch schuf, war und ist in der Regel symmetrisch. Selbstverständlich gilt dies auch für von Menschen geplante und errichtete Bauwerke. Dieses Faktum wurde zur wichtigsten Grundlage architektonischen Schaffens und zum Fundament aller Strömungen der Baukunst, es ermöglichte eine unendliche Vielfalt und verlieh zugleich den Bauwerken durch die vorgegebene Ordnung Ruhe, Gelassenheit und Harmonie. Dies trifft sowohl auf die Baukunst als auch auf das sogenannte anonyme Bauen zu.

Werner Hahn weist in seinem Buch „Symmetrie als Entwicklungsprinzip in Natur und Kunst“ die Zusammenhänge zwischen dem Aufbau lebendiger und toter Materie mit all den damit verbundenen chemischen und physikalischen Prozessen und den für den Menschen sichtbaren Erscheinungsformen der Schöpfung nach. Er zeichnet ein interessantes Bild vom Mikrokosmos über die Kristallformen der Natur hin zu den Molekular- und Zellstrukturen des Lebens, die allesamt auf Symmetrien aufgebaut sind. Hahn gibt aber auch einen guten Überblick über den Stellenwert der Symmetrie als Grundprinzip der ästhetischen Vollkommenheit in Kunst und Philosophie, ob bei den Griechen (Demokrit, Platon, Aristoteles etc.), bei den Römern (Vitruv), in der Renaissance (Dürer, Leonardo da Vinci) oder in der Neuzeit (Kepler, Hegel, Goethe usw.).
Das Verlassen der Symmetrie bedeutet die Abkehr vom Natürlichen bei gleichzeitiger Hinwendung zum Künstlichen. Dies führt zur Störung des Gleichgewichts, welches in der gesamten Entwicklung der Schöpfung herrscht. Zwar ist die sichtbare Umwelt in ihrer Gesamterscheinung nicht symmetrisch angelegt, wie auch die Gesamtheit der von Menschen geschaffenen Strukturen wie Ensembles, Dörfer, Städte und Straßennetze. Diese sind organisch in das natürliche, topographische Umfeld eingefügt. Einzelorganismen der Natur und menschliche Einzelschöpfungen der traditionellen Handwerkskunst und Baukunst unterliegen aber zum überwiegenden Teil den Gesetzen der Symmetrie.
Regelmäßigkeit und Symmetrie waren jahrhundertelang Selbstverständlichkeiten. Heinrich Tessenow schreibt dazu: „Im allgemeinen oder im Alltag oder im gewerblichen Arbeiten ist das Gesetzmäßige oder das Regelmäßige immer besser als das Unregelmäßige.“ „Zu der einfachen formalen Regelmäßigkeit gehört auch die Symmetrie, und wir sind nicht stark im gewerblichen Arbeiten, ohne daß wir die Symmetrie sehr lieben.“ 2
Dabei verschweigt er keineswegs die Probleme, die durch die Symmetrie auftreten können:
„Bei der Symmetrie dreht es sich in jeder Hinsicht um die Mittellinie oder um die Symmetrieachse und sozusagen, diese weiß das auch, bewirkt jedenfalls immer, daß wir uns für sie besonders interessieren (ebenso wie uns unter anderem auch der Kreis immer bemüht, daß wir seinen Mittelpunkt sehen); wenn wir eine Fläche symmetrisch behandeln und nicht ordentlich aufpassen, so werden wir nachher immer beachten können, daß wir mit unserem Zeichnen usw. von der Mitte oder von der Achse eigentlich gar nicht fortgekommen sind, und das ist der Grund dafür, daß die Symmetrie so oft das unangenehm Starre hat.“3
Tessenows Folgerung ist aber logischerweise nicht die Ablehnung der Symmetrie, sondern ihre richtige Anwendung, wobei die bemerkenswerteste Erkenntnis am Ende seiner Betrachtung steht: „Die Symmetrie ist um so besser, je schwerer man ihre Achse findet.“4
Daß der Einsatz der Symmetrie auch zwanghaft betrieben werden kann, ist also kein Argument gegen sie, denn das gleiche kann auch mit der Asymmetrie geschehen.
Die ästhetische Komponente der Symmetrie hat aber darüber hinaus einen wichtigen statischen Hintergrund. Die Symmetrie gotischer Strebepfeiler und Rippenarchitektur findet in den Konstruktions- und Gestaltungsprinzipien Pier Luigi Nervis im 20. Jahrhundert eine beeindruckende Parallele in Stahlbeton. Die Weiterentwicklung der Flugzeughangar-Architektur Nervis führte den großen Meister der Ingenieurbaukunst unseres Jahrhunderts Schritt für Schritt zur vollendeten Symmetrie. Professor Ernst Mateovics erklärt diese Entwicklung folgendermaßen: „Nervi sprach dabei von statischer Vereinfachung, was uns zunächst verwundert. Es wird aber verständlich, wenn wir bedenken, daß die Statik die Lehre vom Gleichgewicht der Kräfte ist, und Symmetrie ist die beste Voraussetzung für Gleichgewicht. Auch uns fiele es sicher schwer, das Gleichgewicht zu halten, wenn wir ein linkes Bein und mehrere rechte Beine hätten, obwohl jedes unserer rechten Beine dann weniger beansprucht wäre.“5
Das Genie Nervis wird aber nicht nur durch die Ästhetik seiner Konstruktionen deutlich, sondern äußert sich auch durch die Ökonomie seiner Bauten. Ästhetik und Wirtschaftlichkeit stehen bei ihm nie im Widerspruch. Auf dem Weg, beides in höchstmöglichem Maße zu erreichen, entstanden Werke in vollendeter Symmetrie.
Für viele Architekten und vor allem Architekturkritiker hingegen wird die Symmetrie als nicht zeitgerechte Ausdrucksform abgelehnt, als wirkte die Schwerkraft unseres Jahrhunderts nicht mehr lotrecht. Und bei der schrägen Denkweise mancher dieser Zeitgenossen neigt man zu glauben, daß die Welt tatsächlich aus dem Lot sei. Die aktuelle Kultivierung des asymmetrischen Daches ist symptomatisch für unsere Zeit.
Die Symmetrie ist Teil der Schöpfung. Die gezielte Asymmetrie ist eine Zeiterscheinung, die vielen Menschen unserer Generation das Gefühl gibt, ein Prinzip der Natur überwinden zu können.

Die Kriminalisierung des Ornaments

Von all den Dogmen, die im Rahmen der Architekturlehren des 20. Jahrhunderts vermittelt wurden, ist die „Unzeitgemäßigkeit“ des Ornaments die am ehesten nachvollziehbare. Reduktion von Formenvielfalt klingt erfrischend, das Nachzeichnen und Aquarellieren von griechischen Blattkapitelen und Architraven wurde in unserer Architektengeneration nicht mehr praktiziert. Das Interesse galt dem Konstruktiven, dem Verständnis der grundsätzlichen Dinge des Bauens und nicht dem Zierat.
Schon lange vor Ausbruch der Moderne, und zwar bereits 1886, hat Joseph Bayer das Ende jeglicher Ornamentik in der Architektur postuliert: „… dann springen gewiß die so schön ornamentierten Stilhülsen ab, sie schälen sich für immer los, und der neue Kern tritt blank und klar ans Sonnenlicht.“6 Dieses Postulat versteht sich wohl als Sehnsucht, als Forderung nach Überwindung des Historismus mit all seinen Wiederholungen und der Verunsicherung dieser Epoche, welchen Stil von den unzähligen man wählen sollte. Tatsächlich war am Ende des vorigen Jahrhunderts das Repertoire der möglichen „Hülle“, hinter der sich ein bautechnischer „Kern“ befand, erschöpft. Mit Fortdauer der Wiederholung aller Stile wurde nach Bayers Metapher von „Stilhülse und Kern“ die Suche nach dem „wahren Kern“ immer dringlicher.
Aber ist das Ornament deshalb tatsächlich kriminell geworden, wie es Adolf Loos mit unzähligen Vergleichen in seiner Schrift „Ornament und Verbrechen“ 1908 behauptet? „Die nachzügler verlangsamen die kulturelle entwicklung der völker und der menschheit, denn das ornament wird nicht nur von verbrechern erzeugt, es begeht ein verbrechen dadurch, daß es den menschen schwer an der gesundheit, am nationalvermögen und also in seiner kulturellen entwicklung schädigt.“7 Wenn man schon den extremen Begriff „Verbrechen“ in der Architektur einsetzt, so ist es wohl für andere Erscheinungen zutreffender als für die Verwendung des Ornamentes – wie etwa für die Errichtung seelenloser Betonbauten ohne menschlichen Maßstab. So sehr man dem Aspekt folgen kann, daß durch das Ornament Inhaltloses kaschiert werden kann und daß Reduktion, im rechten Maß betrieben, Fortschritt bedeutet, so sehr haben aber letztlich die Loos´schen Forderungen in ihrer Radikalität zur Seelenlosigkeit und Unmenschlichkeit dieses 20. Jahrhunderts beigetragen.
Eine wesentlich differenzierte Betrachtungsweise des Ornaments kann man jedenfalls bei Tessenow nachlesen: „Die Liebe zu der gewerblichen Arbeit enthält immer auch die Liebe zu dem Ornamentalen, kann es durchaus nicht ablehnen; aber es ist in unserm gesunden Arbeiten, etwa wie unser Pfeifen und Singen dort oder wie das Ornament der Ziegelsteinfläche, das wir zwar nicht erstreben, das nun aber doch einen so merkwürdigen Schein über unsere nüchterne Arbeit legt, oder ist wie im Kornfeld der Mohn, in der großen breiten Nützlichkeit ein zweites Lachen, aber das wir zwar nicht wollen, aber das wir auch nicht ganz vermeiden können, so sei es möglichst still, sehr ,nebenbei? und schüchtern.“8
Es ist erstaunlich, diese Worte über das Ornament aus dem Mund eines Architekten zu hören, von dem wir wissen, daß er sein Leben lang schlicht und einfach gebaut hat. Tessenow bezeichnet das Ornament als um so besser, je weniger wir es wollen. Grundsätzlich wird das Ornament jedenfalls auch in der zeitgemäßen Architektur dort seinen Sinn haben, wo es aus dem Baugefüge entsteht, wo wir keine oder kaum Zutaten setzen müssen, wo etwa das Konstruktive zum Ornamentalen wird.
Auch lebendige Geschöpfe sind ornamental, wie etwa das Fell der Katze zeigt. Eine Ornamentlosigkeit höher entwickelter Kreaturen läßt sich nicht nachweisen, womit die Loos´sche Theorie von der Entwicklung zur Ornamentlosigkeit als intellektuelle Wunschthese widerlegt ist. Was das künstlerische Schaffen der Menschen angeht, so ist es wohl nicht verwunderlich, wenn Ornamentales aus der lebendigen Schöpfung vom Anbeginn der Kunst präsent war. Die Liebe zum Ornament existiert, seitdem der Mensch Kunst schafft.
Werner Hahn zeigt mit unzähligen Beispielen – beginnend mit der einzigartigen Gravur eines Armbandes aus der Ukraine um 11000 v. Chr. über Afrikanische, Asiatische und Indianische Kunst bis hin zu allen europäischen Kulturen –, daß Ornament und Symmetrie die Grundlagen für künstlerisches Schaffen seit Jahrtausenden waren.9 Geänderte Voraussetzungen im 20. Jahrhundert sollen die Anwender des Ornamentes zu Verbrechern machen? Ist hier eine Forderung nicht allzusehr übertrieben worden?
Bayers Metapher von Stilhülse und Kern wirft auch am Ende des 20. Jahrhunderts noch Fragen auf: Wie sieht der wahre Kern in der Architektur eigentlich aus? Was ist noch Kern, was ist bereits bloße Gestaltung? Aber vor allem: Muß der wahre Kern so kalt und nackt sein, wie die Moderne es uns jahrzehntelang zu vermitteln versuchte? Hätten die Architekturtheoretiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts geahnt, auf welch radikalen Boden ihre Samen fallen, hätten sie vielleicht manche Forderungen gar nie aufgestellt.
Friedensreich Hundertwasser hat es überspitzt ausgedrückt: „Der Österreicher Adolf Loos hat diese Schandtat in die Welt gesetzt, bereits 1908 und sinnigerweise mit seinem Manifest ,Ornament und Verbrechen‘. Sicher hat er es gut gemeint. Auch Adolf Hitler hat es gut gemeint. Aber Adolf Loos war unfähig, fünfzig Jahre vorauszudenken. Der Teufel, den er rief, den wird die Welt nun nicht mehr los.“10 Hunderwassers architektonische Reaktion ist der Beweis dafür, daß Extreme neue Extreme fordern und den Weg der Mitte verbauen.
Das Ornament in der Architektur mag fragwürdig sein, doch „es ist in unserem gesunden Arbeiten etwa wie unser Pfeifen und Singen“ meinte Tessenow. Das Pfeifen und Singen sollte uns wieder begleiten.
Die legitime Forderung in Böttichers „Tektonik“, daß das Innere das Äußere zu bestimmen habe, ist schlüssig. Bei den durchschnittlichen Bauten der Moderne wird daher auch schnell klar, warum die Häuser draußen oftmals so kalt und unmenschlich erscheinen – weil sie es auch im Inneren sind.

Anmerkungen

1 Riedl Rupert; vergleiche dazu: Hahn Werner, Symmetrie als Entwicklungsprinzip in Natur und Kunst, S. 5, Gladenbach 1995
2 Tessenow Heinrich, Hausbau und dergleichen, S. 24 f., Braunschweig-Wiesbaden 1986
3 Tessenow, S. 25
4 Tessenow, S. 29
5 Mateovics Ernst, Zement und Beton, S. 25, Ausgabe 3/1995
6 Bayer Josef, Moderne Bautypen (1886); in: Baustudien und Baubilder, S. 280 f., Jena 1919; vergleiche dazu: Oechslin Werner, Stilhülse und Kern, Zürich-Berlin 1994
7 Loos Adolf, Trotzdem, S. 82, Wien 1931
8 Tessenow, S. 44
9 Hahn Werner, Symmetrie als Entwicklungsprinzip in Natur und Kunst, Gladenbach 1995
10 Tessenow Heinrich, Hausbau und dergleichen, Braunschweig-Wiesbaden 1986

 
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