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Bernard und die Templer

Von Martin A. Schwarz

Der große Heilige aus der Sicht René Guénons

Am Morgen des 20. August 1153 verstarb im Alter von 63 Jahren vor den Augen der um ihn versammelten und Psalmen singenden Mönchsbrüder der als großer Wundertäter und Prediger bekannte Abt von Clairvaux, der burgundische Adelige Bernard. In den Worten seines Hagiographen Gottfried von Auxerre war das „ein glücklicher und wirklich heiterer Tag (...) für ihn, an dem ihn Christus, der volle Mittag, erleuchtete. (…) Ein glücklicher Übergang von der Mühsal zur Erfrischung, von der Erwartung zur Belohnung, vom Kampf zum Sieg, vom Tod zum Leben, vom Glauben zum Wissen, von der Pilgerschaft in die Heimat, von der Welt zum Vater!“ (Fragmenta de vita et miraculis S. Bernardi; Dinzelbacher, S. 361).

Die Werke des spirituellen Meisters René Guénon (1886–1951) zeigen, so interpretiert jedenfalls Muhammad Vâlsan, daß der heilige Bernard von Clairvaux der „letzte okzidentale Repräsentant der höchsten Funktion des ,Königs der Welt‘, des gemeinsamen Prinzips der beiden Mächte – priesterlich und königlich“ war (Feydel, S. 142). Diese Erkenntnis, deren Belege einem Zyklus von vier Werken Guénons zu entnehmen sind, trifft den Leser, der sich die Bedeutung dieser Worte zu vergegenwärtigen versucht, um so gewaltiger, wenn er bedenkt, daß dieses Jahr bereits des 850. Todestages des „Chevalier de la Vierge“ (Ritter der Jungfrau) zu gedenken ist. Die vier in diesem Zusammenhang relevanten Werke Guénons, die Vâlsan sicherlich zu Recht nennt, sind: „L´Ésoterisme de Dante“ (1925), „Le Roi de Monde“ (1927, dt. Der König der Welt, 1987), „Autorité spirituelle et pouvoir temporel“ (1929) und „Saint Bernard“ (1929). Diese die Verbindung des christlichen Abendlandes mit dem priesterlich-königlichen Hüter der primordialen Tradition enthüllenden Bücher finden mit dem Opusculum „Saint Bernard“ ihren Abschluß, das in vielerlei Hinsicht bemerkenswert ist. Zunächst fällt auf, daß von den 17 Büchern Guénons sich lediglich zwei ausschließlich einer Persönlichkeit widmen: Dante und Bernard. Allerdings ist „Saint Bernard“ weitaus stärker biographisch geprägt, als es die Untersuchung des esoterischen Gehalts des ghibellinischen Dichters ist, und dies ist wohl darauf zurückzuführen, daß das Buch im Rahmen einer Reihe erschienen ist, die dem Leben und Werk großer Heiliger gewidmet war. René Guénon trug auf Einladung eines Freundes, des katholischen Schriftstellers Jacques Maritain, zu diesem Projekt bei, und sein „Saint Bernard“ ist zum Jahresende 1929, versehen mit den Vermerken „NIHIL OBSTAT – Brugis, 19 Novembris 1929. Alb. Boone, S.J.“ und „IMPRIMATUR – Brugis, 19 Novembris 1929. A. C. De Schrevel, vic. gen.“ (Hapel, S. 74), erschienen.
Die Erteilung der Imprimatur für eine Arbeit des bekannten Freimaurers1 und Esoterikers Guénon über einen der bedeutendsten katholischen Heiligen ist für sich genommen schon erwähnenswert. Gewiß noch größere Aufmerksamkeit verdient jedoch die Tatsache, daß der Autor der Schrift über St. Bernard, den Initiator des zweiten Kreuzzuges ins Heilige Land, nicht nur – spätestens im Jahr 1911, wahrscheinlich aber bereits in den Jahren 1908/09 (Feydel, S. 41 ff.) – in den islamischen Sufismus aufgenommen worden war, sondern zu diesem Zeitpunkt bereits seine endgültige Übersiedlung in den muslimischen Orient vorbereitete. Tatsächlich verließ René Guénon (Abd al-Wahid Yahya) am 5. März 1930 Frankreich für immer und blieb bis zu seinem Tod am 7. Januar 1951 in Ägypten.2 Wir staunen also sowohl über die Liberalität der katholischen Kirche Frankreichs gegenüber einem Autor, von dem weder eine erbauliche Heiligenvita noch eine kritisch-historische Abhandlung im modernen Stil zu erwarten war, als auch über die Hochschätzung des muslimischen Eingeweihten für jenen katholischen Heiligen einer kämpferischen Mystik, der nicht gerade als tolerant und islamfreundlich bekannt ist.

Vita Bernardi

„Unter den großen Gestalten des Mittelalters sind wenige, deren Studium besser geeignet ist, gewissen Vorurteilen, die vom modernen Geist gehegt werden, entgegenzuwirken als Saint Bernard.“ Mit diesem Satz eröffnet Guénon seine Kurzbiographie des Heiligen. Seiner Ansicht nach belegt das Leben Bernards die Anwesenheit und die Wirkung einer die menschliche Sphäre übersteigenden Weisheit, die es Bernard ermöglichte, als kontemplativer, weltabgewandter Mönch in entscheidender Rolle in die Sphäre von Kirche und Staat einzugreifen und als die Philosophen verachtender Mystiker seine intellektuellen Gegenspieler leicht zu übertrumpfen. Damit ist das Grundinteresse festgestellt, das diese Untersuchung leitet. Guénon beginnt daraufhin die Fakten von Abstammung, Geburt und Jugend aufzuzählen. Bereits im Alter von zwanzig Jahren begann Bernard seine Umgebung für seine Vision einer weltabgewandten, asketischen Spiritualität einzunehmen, zu „konvertieren“. Seine erstaunliche Fähigkeit im Apostolat will Guénon nicht auf profane Fähigkeiten – „sein Genie“ – zurückführen, vielmehr gilt es, „hier die Handlung göttlicher Gnade zu erkennen, die auf die eine oder andere Weise die gesamte Person des Apostels durchdrang und von ihm reichlich ausstrahlte, sich durch ihn wie durch einen Kanal mitteilend“. Als Abt der von ihm begründeten Zisterziensergemeinschaft in Clairvaux setzte sich Bernard von den verweltlichten und verweichlichten Orden ab, vor allem von der florierenden Benediktinerabtei in Cluny, und beabsichtigte, sich getrennt von der Welt vollständig der Askese, Kontemplation und harter Arbeit hinzugeben. Die Weltfeindlichkeit des Heiligen drückt sich mitunter drastisch aus: „Was sage ich, daß die Welt ihre Nächte hat, da sie doch selbst fast ganz Nacht ist und immer im Finsteren wandelt? Nacht ist die jüdische Perfidität, Nacht die Unwissenheit der Heiden, Nacht die ketzerische Perversität, Nacht auch die fleischliche, tierische Lebensweise der Katholiken“ (Dinzelbacher, S. 326). So Bernard in seinen gerühmten und weitverbreiteten Predigten über das Hohe Lied. Doch wurde trotz oder vielleicht auch wegen seiner Bescheidenheit und Abgeschlossenheit Bernard in alle anstehenden Kirchenfragen hineingezogen, galt es für ihn, den Kampf mit den bzw. um die Juden, Heiden, Ketzer und Christen zu führen, wurden die wichtigsten Entscheidungen und Weichenstellungen der Kirche seiner Zeit mehr durch seine Autorität als durch die der Päpste und Konzile entschieden. Zweifelsohne ist Bernard damit ein Beispiel für Guénons Vorstellung von dem „Handeln“ des Kontemplativen in der Welt: „Was für ein Kontrast zu unserem eigenen Zeitalter und einem, in dem ein einfacher Mönch, durch nicht mehr als die Ausstrahlung seiner eminenten Tugenden, in gewissem Sinne zu dem Zentrum Europas und der Christenheit werden konnte.“
Der erste Konflikt, in den Bernard entscheidend eingriff, war der Streit um die Papstwahl (1130), der ausgebrochen war, als eine reiche römische Familie jüdischer Abstammung einen der Ihren als Anaklet II. auf den Papstthron gehoben und den rechtmäßigen Innozenz II. aus Rom vertrieben hatte. Wie das Schisma innerhalb der katholischen Kirche Bernard besorgte, so auch der Gegensatz zwischen geistlicher und weltlicher Macht. Guénon schreibt: „Der heilige Bernard war immer von den gleichen Absichten bestimmt: das Recht zu verteidigen, die Ungerechtigkeit zu bekämpfen und vielleicht am meisten von allem die Einheit in der christlichen Welt zu erhalten. Es ist dieses beständige Beschäftigtsein mit der Einheit, die seinen Kampf gegen das Schisma beseelte; es ist auch dies, was ihn 1145 eine Reise in den Languedoc unternehmen ließ, um die neo-manichäischen Häretiker zurück zur Kirche zu bringen, die sich in der Region auszubreiten begannen.“ Hier wird von Guénon eine weitere Aufgabe für das „Zentrum der christlichen Welt“ angesprochen: die Bekehrung oder falls nötig Bekämpfung heterodoxer und heteropraxer Abweichungen, die – in der Terminologie Guénons – sich zu gegen initiatischen Zentren entwickeln können. Die hier angesprochenen frühen Katharer (Albigenser) mit ihrer luziferischen Spiritualität, die die bestehende exoterische Ordnung der Sakramente und des geistlichen Standes negierten, waren vielleicht Vorläufer der von Guénon in seiner Lebenszeit so bekämpften neospiritualistischen und pseudoreligiösen Strömungen von Theosophie bis Spiritismus,3 wenn auch die Meinung Guénons zu den Katharern selbst zu schwanken scheint.
Einen ebenso wichtigen oder noch bedeutsameren Kampf focht Bernard mit Petrus Abaelard aus, der manchmal als erstes neuzeitliches Individuum bezeichnet wird, meistens von jenen, die damit sogar eine Auszeichnung aussprechen möchten. Bernard dachte über ihn ganz anders, und bei allen Mißverständnissen im Detail, die Bernard aufgrund seiner Unkenntnis der scholastischen Moden dabei nachgewiesen werden können, erkannte er intuitiv, daß ein Weitergehen auf dem Weg der rationalen Tüftelei zu einer völligen Loslösung zunächst von der Autorität, dann der gesamten Tradition und schließlich der Transzendenz selbst führen würde und damit zur Auflösung des christlichen Europa. Dies liegt dem Vergleich des Abaelard mit dem Antichristen, dem Heraufbringer des Chaos, durch Bernard zu Grunde und erklärt seinen brieflich geäußerten drastischen Ausspruch, er würde Abaelard lieber mit Knüppeln die Zähne einschlagen, als ihn verstandesmäßig zu widerlegen (Dinzelbacher, S. 238). Abaelard, den Verstandesakrobaten, mit dem Verstand zu widerlegen, bringt nicht viel, denn es fehlt diesem nicht an Verstandesargumenten, sondern an Einsicht in die Begrenztheit jedes Verstandes, denn, wie Guénon schreibt, „wußte er [Abaelard] nicht zu unterscheiden zwischen dem, was zur Vernunft gehört, und dem, was höher als sie ist, zwischen profaner Philosophie und heiliger Weisheit, zwischen bloß menschlichem Wissen und transzendentem Bewußtsein, und dort lag die Wurzel seiner Irrtümer“. In diesem Sinne fragte auch Bernard: „Was ist denn mehr gegen die Vernunft, als mit der Vernunft die Vernunft überschreiten zu wollen?“ und verspottete die „Theologia“4 Abaelards als „Stultilogia“ (in etwa: blöde Lehre). Folgerichtig lag Bernards Tätigkeit weniger in der Widerlegung als in der Herauspräparierung manifester Häresien, und die Knüppelschläge bestanden in einer Verurteilung durch das Konzil von Sens (1140), die von Papst Innozenz II. bestätigt wurde. Nicht lange darauf starb Abaelard an einer Blutkrankheit. Auch die ähnliche, aber weniger gravierende Erörterung des Konzils von Rheims (1147), das ebenfalls von Bernard angerufen wurde, wird von Guénon erwähnt. Das Konzil sollte die Irrtümer des Gilbert de la Porrée verurteilen, der die reale Unterscheidung von Essenz und Existenz, die nur für geschaffene Dinge gilt, auf Gott selbst übertragen hatte.5 Da Gilbert ansonsten aber im Rahmen der Orthodoxie blieb und die umstrittenen Passagen seines Werkes abändern ließ, kam es jedoch zu keiner Verurteilung.

Der Jnana-Aspekt

Die zahlreichen von Bernard gewirkten Wunder (vor allem Heilungswunder) werden von Guénon erwähnt, dies aber vor allem, um herauszustreichen, wie wenig Bedeutung Bernard ihnen selber zumaß, und dies nicht nur aus Bescheidenheit, sondern: „Diese Haltung war in Einklang mit der Verachtung, die Bernard im allgemeinen für jedes äußerliche und sichtbare Zeigen des Heiligen hatte, wie etwa den Pomp der Zeremonien und die Ausschmückung der Kirchen.“ War nun Bernard, seiner Abneigung gegen äußerliche Entfaltung wegen, ein „Esoteriker“? Wenn man Guénons im allgemeinen vorgenommene Abgrenzung der Esoterik von der Mystik zugrunde legt, anscheinend nicht.6 Denn Bernard war für Guénon primär ein Mystiker: „Die Doktrin des heiligen Bernard ist im Wesentlichen mystisch, damit meinen wir, daß er die göttlichen Gegenstände durchgängig unter dem Aspekt der Liebe betrachtet, es wäre jedoch falsch, dies im bloß sentimentalen Sinne zu interpretieren, wie moderne Psychologen dies tun. So wie viele Mystiker wurde er besonders vom Hohen Lied Salomons angezogen, das er in vielen Predigten kommentierte, die eine Serie bilden, die durch den Großteil seines Lebenslaufes fortdauerte; und dieser Kommentar, der immer unvollständig blieb, beschrieb alle Stufen der göttlichen Liebe bis zu dem höchsten Frieden, den die Seele in der Ekstase erreicht. Der ekstatische Zustand, wie er ihn verstanden hat und den er sicherlich selbst erfahren hat, ist eine Art des Todes für die Dinge der Welt; zusammen mit den sinnlichen Bildern sind alle natürlichen Gefühle verschwunden; alles ist rein und spirituell in der Seele selbst wie in seiner Liebe.“ Diese Zeilen scheinen anzudeuten, daß Guénon Bernard voll und ganz auf die Seite jener Spiritualität rechnet, die man im Hinduismus als „Bhakti“ (Hingabe) zu bezeichnen pflegt. Allerdings ist dies nicht alles, und wenn jene ekstatische Liebe wenig mit dem „intellektuellen“ Guénon zu tun haben scheint, so folgt wenige Zeilen darauf eine Darstellung des „Jnana“-Aspektes7 der intuitiven Erkenntnis, die nicht nur als Charakterisierung Bernards gelesen werden kann, sondern ebenso auf Guénon selbst zutrifft: „Wenn der Abt von Clairvaux immer wünschte, ein Fremder gegenüber den vergeblichen Subtilitäten der Scholastiker zu bleiben, so deshalb, weil er keinen Bedarf für die mühsamen Künste der Dialektik hatte; er würde in einem einzelnen Streich die schwierigsten Fragen lösen, weil sein Denken nicht in einer langen Folge von diskursiven Operationen voranschritt; was die Philosophen auf einer weitläufigen Strecke und durch Ertasten des Weges zu erreichen trachteten, erlangte er unmittelbar durch die intellektuelle Intuition, ohne die keine wirkliche Metaphysik möglich ist und ohne welche man nur einen Schatten der Wahrheit fassen kann.“ René Guénon spricht hier von nichts weniger als einem offenstehenden Zugang zu überrationalem und übersensiblem Wissen, das wie die göttliche Gnade „die gesamte Person des Apostels durchdrang und von ihm reichlich ausstrahlte, sich durch ihn wie durch einen Kanal mitteilend“, um die bereits zitierte Formulierung nochmals aufzugreifen.

Marienverehrung

„Die herausragende Stelle, die die Verehrung der Heiligen Jungfrau in seinem Leben und in seinen Schriften einnahm“, die Guénon als einen nicht zu vernachlässigenden Charakterzug Bernards in Erinnerung ruft, versucht die moderne Forschung heute herunterzuspielen, indem sie den prozentuell geringen Anteil ausrechnet, den Maria in den Schriften des Abts eingenommen hat. Und tatsächlich war Bernard nicht der größte Marienverehrer des Mittelalters. Von Bernard ist es noch weit bis zu Ludwig Maria Grignon von Montfort oder Maximilian Kolbe, und für manche fällt auch ein Schatten auf die marianische Devotion Bernards aufgrund seiner eindeutigen und vehementen Ablehnung des erst in moderner Zeit lehramtlich entschiedenen Dogmas von der unbefleckten Empfängnis Mariens. Das Wesentliche, Bedeutende und Neue an Bernards Verhältnis zur Himmelskönigin wird von Guénon jedoch in wenigen Sätzen erfaßt und ausgedrückt: „Er liebte es, der Heiligen Jungfrau den Namen Notre Dame [Unsere liebe Frau] zu geben, eine Verwendung, die seit seiner Zeit allgemein geworden ist, und dies scheint zu einem großen Teil auf seinen Einfluß zurückzugehen.“ Bernard ist, kurz gesagt, als Mönch ein Ritter der Jungfrau Maria, er überträgt den ritterlichen Minnedienst auf die reine Jungfrau und Gottesgebärerin. In dieser Funktion tritt er als Führer Dantes in den letzten drei Gesängen des Paradieses der „Göttlichen Komödie“ auf und stellt sich dort derart vor: „Die Himmelskönigin, von deren Liebe ich ganz ergriffen, schenkt uns jede Gnade, weil ich ihr treuer Diener bin, Bernhardus.“ Nur auf Fürsprache Bernards kann der Dichter in seiner literarischen Vision die höchste Stufe seiner Himmelsreise, von der Ordnung der Himmelsrose zur Gottesschau selbst, durch die Hilfe Mariens erreichen: „Sieh, dieser, der vom tiefsten Nichts der Welt bis hieher stufenweise schauen durfte die geistigen Lebensformen aller Seelen, fleht jetzt zu Dir. Verleih ihm, Gnadenvolle, noch soviel Kraft, daß er mit Augen sich höher erhebe bis zum letzten Heil.“ Guénon erklärt das Auftreten Bernards in Dantes Göttlicher Komödie mit der Verbindung, die beide zum Templerorden besaßen. Denn es ist gerade die Verbindung von Mönchs- und Rittertum, die sowohl in Bernards marianischem Minnedienst als auch in der von ihm protegierten und propagierten „nova militia“, den Tempelrittern, das Neuartige ausmacht. Bernard war führend an der Ausarbeitung der Ordensregel der Templer (1128–1131) beteiligt und verfaßte die Schrift „De Laude Novae Militiae“ (1131), die man sowohl als Werbeschrift als auch als Skizzierung der spirituellen Grundlagen betrachten kann. Guénons kleine Bernard-Schrift endet daher mit den Sätzen: „Mönch und Ritter zu ein und derselben Zeit: diese beiden Züge waren die eines Mitglieds der ,göttlichen Miliz‘, des Templerordens; diese waren auch, und zuallererst, diejenigen des Autors seiner Regel, des großen Heiligen, der als der letzte Kirchenvater bezeichnet wurde und den manche, nicht ohne einige Berechtigung, als das Urbild Galahads sehen möchten, den perfekten Ritter ohne Fehl, den siegreichen Helden der ,Suche nach dem Heiligen Gral‘.“

Templerregeln

Es ist heute, da wir die Geschichte und das Wirken zahlreicher „Ritterorden“ von den Johannitern bis zum Deutschen Orden präsent haben, schwer nachzuempfinden, welche ungeheure Neuerung und Paradoxie der Templerorden für die Zeitgenossen seiner Gründung darstellte. Wie ist es möglich, Mönch und Soldat zugleich zu sein?8 Hugo de Payns und Gottfried de Saint-Omer gründeten 1118 den Templerorden in Jerusalem. Den Mönchsgelübden Armut, Keuschheit und Gehorsam setzten sie das Gelöbnis des „Kampfes gegen die Ungläubigen“ hinzu.
Bernard verfaßte nun nicht nur den Großteil der Templerregel, sondern auch ein „Lob der neuen Miliz“, gerichtet direkt an den ersten Großmeister Hugo de Payns. Darin betont er gleich zu Beginn, daß die „neue Art der Ritterschaft“ genau in jener Region  errichtet wurde, in der Christus leiblich gelebt hat und die Fürsten der Finsternis niederwarf. Wenn ein Mann sich dem Feind mit seinem Körper entgegenstellt, so ist das nicht ungewöhnlich. Auch wenn ein Mann mit seiner Seele sich den Lastern und den Dämonen entgegenstellt, ist das lobenswert, aber nichts Besonderes, da die Welt voller Mönche ist. Aber wenn sich beides in einem Mann vereint, so ist das nicht nur außerordentlich, sondern auch im höchsten Maße bewundernswert. Dieser Mann fürchtet weder den Dämon noch den Menschen. Er fürchtet auch nicht den Tod, im Gegenteil, er sucht ihn. „Er setzt sich treu und freudig für Christus ein; aber mehr sehnt er sich danach, aufgelöst zu werden und bei Christus zu sein: Das ist nämlich besser.“ Aber auch: „Ein Ritter Christi, sage ich, tötet mit ruhigem Gewissen, noch ruhiger stirbt er.“ Von diesen Grundsätzen aus skizzierte Bernard – in den Worten Guénons – „mit großartiger Eloquenz die Mission und das Ideal der christlichen Ritterschaft, die er die ,Miliz Gottes‘ nannte.“
Wohl hatte Bernard, als er die Verbindung mit dem Templerorden knüpfte, noch nicht im Auge, daß er eines Tages selbst seine Hauptaufgabe in der Mobilisierung zu einem Kreuzzug sehen würde, denn erst die Rückeroberung der Grafschaft Edessa durch die muslimischen Truppen im Jahre 1144 ließ eine solche Aufgabe als dringlich erscheinen. Der äußere Rahmen dieses „zweiten Kreuzzuges“ (der erste wurde 1100 mit der Eroberung Jerusalems gekrönt) interessiert hier nicht, er endete jedenfalls – wie die meisten Kreuzzüge – in einem Desaster. Bernard reiste unermüdlich, um für den Kreuzzug zu werben, und versandte zahlreiche Briefe in dieser Sache. Guénon fragt: „Obwohl das unmittelbare Ziel des Kreuzzuges nicht erreicht wurde, muß man deswegen sagen, daß das Unternehmen vollständig nutzlos war und daß die Bemühungen des heiligen Bernards ohne Gewinn verausgabt wurden?“ Während moderne Historiker nur den äußeren Erfolg von Ereignissen beachten, liege die Bedeutung der Kreuzzugsbewegungen jedoch in tieferen Motiven, so Guénon. Nur eines dieser Motive möchte er in der „Bernard“-Schrift erwähnen, das betont er ausdrücklich. Diese eine wichtige Funktion des Kreuzzuges sei „der Wunsch, innerhalb der Christenheit ein starkes Bewußtsein ihrer Einheit zu erhalten“. Die christliche Welt beruhte zu dieser Zeit noch auf einer traditionellen Grundlage, jedoch „der Verlust dieses traditionellen Charakters würde unweigerlich jedem Riß in der Einheit der Christenheit, von der wir sprechen, folgen“. Ein solcher Riß kam später tatsächlich mit der Reformation zustande, die Guénon mit dem Aufstieg des Nationalismus als Reaktion auf die Zerstörung des Feudalsystems in Verbindung setzt, „und man könnte sagen, (…) daß derjenige, der dem großartigen Gebäude des mittelalterlichen Christentums den ersten Schlag versetzte, Philipp der Schöne war, derjenige, der durch eine keineswegs zufällige Koinzidenz auch den Orden des Tempels zerstörte und damit direkt das Werk des heiligen Bernards angriff“.

Hüter des Heiligen Landes

Dies ist der eine, vielleicht noch eher äußerlich erscheinende Sinn, den Guénon in den Kreuzzügen, unabhängig von ihrem militärischen Erfolg, sehen möchte. Welcher ist nun der andere, auf den Guénon durch die ausdrückliche Erwähnung seines Verschweigens nur um so deutlicher hinweist? Aus den anderen, „esoterischeren“ Schriften Guénons9 wird sofort klar, daß es die Bezugnahme auf Jerusalem als das spirituelle Zentrum und die geistige Präsenz des „Heiligen Landes“ in den Gedanken des Abendlandes ist, die Guénon als eigentlichen und wichtigsten Sinngehalt der Kreuzzüge sieht. In einem Aufsatz über „Die Hüter des Heiligen Landes“, der zur Zeit der Herausgabe des „Bernard“-Buches in einer Spezialausgabe von „Le Voile d´Isis“ über die Templer erschienen ist (wiederveröffentlicht in: Aperçus sur l´Ésotérisme chrétien), ist Guénon der Frage nachgegangen, „was in Wirklichkeit mit dem ,Heiligen Land‘ bezeichnet [wird] und worauf sich exakt diese Rolle der ,Hüter‘ [bezieht], die an eine bestimmte Form der Initiation gebunden zu sein scheint, die man als ,ritterliche‘ Initiation bezeichnen kann“.
„Heiliges Land“, oftmals auch als „Land der Lebenden“ bezeichnet, ist ein Ausdruck, der in vielen Zusammenhängen auftritt. Guénon arbeitet heraus, daß dieser im strengen Sinn als „Ort der Unsterblichkeit“ sich auf das Paradies bezieht. Davon abgeleitet sind „Heilige Länder“ zweiten Ranges, die dieses Urbild widerspiegeln, in der jüdischen und christlichen Tradition ist dies vor allem Palästina. Alle diese „Heiligen Länder“ haben deswegen eine analoge Konstitution, deren Symbolik Guénon aufzuweisen versucht, weil sie „Bilder des einen und höchsten Zentrums sind, das alleine und wirklich das ,Zentrum der Welt‘ ist“, oder, „anders ausgedrückt, es existiert ein ,Heiliges Land‘ par excellence, Vorbild aller anderen, ein spirituelles Zentrum, dem alle anderen Zentren untergeordnet sind, der Sitz der primordialen Tradition, von dem alle besonderen Traditionen ausgegangen sind, dadurch, daß sie sich an die jeweiligen Bedingungen angepaßt haben, die ein Volk oder eine Epoche bestimmen“. Dieses höchste spirituelle Zentrum, das „Herz der Welt“, ist in christlich-jüdischer Sprache das „himmlische Jerusalem“ im Unterschied zum „irdischen Jerusalem“. Andere Ausdrücke, die Guénon hierfür nennt, sind Tula, Luz, Salem, Agartha. Sie alle sind mit dem Symbolismus der Achse oder des Pols verbunden.
Die Hüter des Heiligen Landes, die eine ritterliche und eine spirituelle Aufgabe in sich vereinen, bewahren den Zugang zu diesem Heiligen Land vor Unbefugten, vor dem Eindringen des ungereinigten Profanen. Es erfordert eine Initiation, wie sie in den Gralserzählungen ausgedrückt wird, um in dieses Heilige Land zu gelangen. Die Hüter bewachen also das Geheimnis vor der Profanierung. Eine zweite, davon zu unterscheidende Aufgabe ist, immer diesem Aufsatz Guénons zufolge, äußerliche Verbindungen des Zentrums zu der abgeleiteten, allgemeinen traditionellen Zivilisation überhaupt aufrechtzuerhalten. Es ist weiters ihre Aufgabe, Verbindungen zu Organisationen herzustellen und zu erhalten, die dieselbe Funktion in bezug auf andere Traditionen ausüben. Dies ist es, was man im 13. Jahrhundert den Templern vorzuwerfen begann: zu enge Verbindungen zu muslimischen Gruppen zu unterhalten, nicht zuletzt zu den sogenannten Assassinen, den ismaelitischen Rittern, die so etwas wie die muslimischen Templer waren. Durch die Zerstörung des Templerordens ist jedoch im Jahre 1313 die Verbindung der westlichen Zivilisation zu dem Zentrum der Welt abgerissen, welche äußerlichen Beziehungen zu Palästina auch immer noch bestehen mögen, das „Heilige Land“ ist verlorengegangen, als die „Hüter des Heiligen Landes“ beseitigt wurden. Guénon führt darauf letztlich den Abstieg der christlichen Tradition in den folgenden Jahrhunderten bis zu den materialistischen Tiefen der Gegenwart zurück.
Während der rein geistliche Orden der Zisterzienser weiter besteht, ist Bernards „zweite Ordensgründung“, die die militärisch-geistliche Aufgabe der „Hüter des Heiligen Landes“ vereinte, vernichtet. Abd al-Qâdir al-Jilânî hatte in Bagdad, zur gleichen Zeit, als Bernard seine Orden stiftete, die Sufibruderschaft der Qadiriyya begründet, die sich im Laufe eines Jahrhunderts auch nach Nordafrika ausbreitete und dort 1258 eine Filiation in der von Sidi Abu Hasanu’sh Shadhil gegründeten Shadilyya erhielt. In diese wurde im zwanzigsten Jahrhundert René Guénon aufgenommen, nachdem seine Versuche, den Templerorden neu zu begründen (Ordre du Temple rénové, 1908–1911), fehlgeschlagen waren.

Anmerkungen

(1) René Guénon versuchte, die Freimaurerei auf einen nicht-revolutionären, nicht-subversiven und theistischen Weg zurückzuführen, indem er von der modernen spekulativen (humanitären) Maurerei zur traditionellen operativen (initiatischen) Maurerei zurückkehrte, die der katholischen Kirche nicht nur nicht feindlich gegenüberstehen, sondern geradezu ihre innere Dimension bilden soll.
(2) Guénon war zuvor bereits in Algerien. Zum ersten Mal hatte er am 20. Oktober 1917 den Dar-al-Islam betreten, um in Setif für kurze Zeit als Philosophieprofessor zu unterrichten.
(3) Siehe vor allem Guénons Werke „Le Théosophisme. Histoire d´une Pseudo-religion“ (1921) und „L´Erreur spirite“ (1923).
(4) Es ist bezeichnend, daß der Häretiker Abaelard als einer der ersten die Bezeichnung „Theologie“ verwendet hat, so als Titel seiner „Theologia scholarium“. Die grundsätzliche Gegnerschaft Bernards gegen diese scholastische Form der Gotteserkenntnis verhinderte natürlich nicht, daß Bernard schon bald nach seinem Tod selbst als „Theologe“ bezeichnet wurde. Nebenbei bemerkt richtet sich die Kritik an der Scholastik nicht gegen jene, die nach Etablierung dieser Wissenschaft auf diesem Kampffeld gegen die weitere Ausbreitung von Nominalismus und Rationalismus ankämpften (wie Bonaventura) oder diese in einer umfassenden Synthese aufzufangen versuchten (wie Thomas von Aquin).
(5) Gilberts umstrittene Aussage lautete: „Die Form Gottes und die Göttlichkeit, durch die Gott ist, ist nicht selbst Gott“ (Dinzelbacher, S. 316).
(6) „René Guénon betont immer, daß der Mystizismus vom initiatischen Gesichtspunkt aus einen enormen Mangel aufweist, der darin besteht, der Sentimentalität einen viel zu großen Platz einzuräumen, der ihn aus nur allzu offensichtlichen Gründen daran hindert, eine auf das Individuelle beschränkte Perspektive in Hinblick auf den Gegenstand der Transzendenz hinter sich zu lassen. Diesem ,Einfluß des gefühlsmäßigen Elements‘, schreibt René Guénon, ,bleibt offensichtlich die intellektuelle Reinheit der Doktrin unerreichbar, und er kennzeichnet insgesamt, wie man sagen kann, einen Verlust im Vergleich mit dem metaphysischen Denken‘“ (Vivenza, S. 322).
(7) Bhakti und Jnana sind Sanskrit-Ausdrücke, die Guénon nicht verwendet, um die hinduistische Religion auf das Christentum zu übertragen, sondern um Grundbegriffe der vedischen Metaphysik so anzuwenden wie die Scholastik ihre Begriffe von der griechischen Metaphysik ohne der heidnischen Religion übernommen hat.
(8) Es muß einschränkend gesagt werden, daß der Templerorden eigentlich kein Orden von Mönchen, sondern von Regularkanonikern ist, aber das ist eine kirchenrechtliche Unterscheidung.
(9) Neben dem zitierten Aufsatz siehe auch: Der König der Welt, Freiburg im Breisgau 1987. Écrits pour Regnabit. Recueil posthume établi présenté et annoté par Pier Luigi Zoccatelli; Milano 1999 (darin vor allem: La Terre Sainte et le C¦ur du Monde)
Zitierte Werke:
Bernard of Clairvaux: De laude novae militiae. (http://faculty.smu.edu/bwheeler/
chivalry/bernard.html)
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Deutsch von Karl Vossler. Zürich o. J.
Dinzelbacher, Peter: Bernhard von Clairvaux. Leben und Werk des berühmten Zisterziensers. Darmstadt 1998.
Feydel, Pierre: Aperçus historiques touchant à la fonction de René Guénon, suivis d´une Étude bio-bibliographie; Milano 2003.
Guénon, René: Aperçus sur l|Ésotérisme chrétien; Paris 1954.
Guénon, René: Saint Bernard; Paris 1929.
(http://pages.infinit.net/biblisem/biograph/
guenbern.htm)
Hapel, Bruno: René Guénon et le Roi du Monde; Paris 2001.
Vâlsan, Muhammad: Saint Bernard Vivant; in: Science sacrée. Revue d’Études traditionnelles, nn. 3–4; 9.2001–4.2002; Nuits Saint-Georges 2002.
Vivenza, Jean-Marc: Le Dictionnaire de René Guénon; Grenoble 2002.

 
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