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Harry Potter

Von Heinrich Dassel

Ist Harry Potter eine Gefahr für unsere Kinder? Von manchen katholischen Kreisen wird der Welt-Bestseller als schädliches, ja satanisches Buch betrachtet. Der Grund dafür mag darin liegen, daß Begriffe wie „Hexe“ und „Zauberer“ in den Büchern der Joanne Rowling positiv besetzt sind. Analysiert man die Texte jedoch vorurteilsfrei, lassen sich keine Gründe für ein Verdikt finden.

Die Harry-Potter-Bücher basieren auf der Annahme, daß es Menschen gibt, die mit magischen Kräften ausgestattet sind. Diese Begabung aber ist eine durchaus vererbbare. So gibt es Kinder von Eltern ohne jede zauberische Begabung – sogenannte Muggel –, die (über ein offenbar rezessives Gen) zauberische Fähigkeiten geerbt haben, wie es auch Kinder aus Zaubererfamilien gibt, deren Begabung mehr als bescheiden ist. Neben der angeborenen Begabung, den richtigen „Genen“ also, braucht der Zauberer noch zweierlei: eine entsprechende Ausbildung und die nötige Ausrüstung. So muß man Zaubersprüche korrekt aussprechen, damit sie funktionieren, sie üben, wie jeden beliebigen Handgriff. Daneben sind der richtige Zauberstab und die exakten Zutaten bei Zaubertränken etc. von Bedeutung. Was aber für „Magie“ im Verständnis der europäischen Tradition konstitutiv war, spielt hier überhaupt keine Rolle: die Beschwörung von Dämonen und Geistern einerseits, ein Weg zur Gotterkenntnis bzw. zur Überwindung der Schicksalhaftigkeit des Lebens und der Sterblichkeit des Menschen andererseits. Zauberei ist reduziert auf die Beherrschung alternativer Naturwissenschaften. Je teurer und „moderner“ ein Besen, desto besser fliegt er; jedes Jahr kommen neue Modelle heraus, wie bei uns die Autos.
So ist „Harry Potter“ nichts als eine etwas abenteuerlichere Spiegelwelt zu unserer. Hogwarts, die Zaubererschule, funktioniert genau wie jedes durchschnittliche englische Internat. Harry Potter ist kaum etwas anderes als ein Entwicklungsroman unserer Zeit, der den Kindern die Bedeutung von Wissen und Ethik näherbringt. Lernen und Wissenserwerb sind für Harry und seine Freunde immer eine notwendige Voraussetzung, um alle Gefahren zu bestehen. Und die Geschichten sind auch nach einem deutlich ethischen Konzept gestaltet. Die Welt der Zauberer und die der „Muggel“ (also der nichtmagischen Menschheit) überschneiden sich an vielen Orten, ja sind meistenteils ident. Die Zauberer haben die Aufgabe, „unsere“ Welt vor gefährlichen oder bösen Wesen wie Vampiren, Drachen etc. zu beschützen. Doch es gibt Magier, die eine Herrschaft der Zauberer über die nichtmagischen Menschen anstreben. Diese aber sind die Diener des Bösen, verkörpert durch einen mächtigen Zauberer.
In Harry-Potter-kritischen Aufsätzen wird behauptet, daß die Schüler in Hogwarts böse Schadens-Zauber lernen müssen. Das Gegenteil ist der Fall: Drei Arten von Zauber sind den Magiern in der Welt von Harry Potter verboten: Erstens, einem anderen seinen Willen aufzuzwingen, zweitens, ihm Schmerz zuzufügen, drittens, ihn zu töten. Im Unterrichtsfach „Abwehr gegen dunkle Künste“ lernen die Kinder freilich, sich mit diesen Zaubern auseinanderzusetzen. Doch wer sie in der Welt von „Harry Potter“ ernsthaft einsetzt, wird zu lebenslanger Haft auf dem Zauberergefängnis Askaban verurteilt, einem Gefängnis, das seine Insassen nie mehr freigibt und dessen Bedingungen so grauenvoll sind, daß sie von den Verurteilten auch nur wenige Jahre überlebt werden.
Ein weiterer, häufig vorgebrachter Kritikpunkt gegen „Harry Potter“ ist, daß in den Geschichten das Böse nie wirklich besiegt wird, sondern stets in neuer Gestalt auftaucht. Doch ist dies nicht eine Erfahrung auch unserer Welt? – „Es haben wohl gerungen die Helden dieser Frist, doch kaum der Sieg gelungen, übt der Böse neue List“, heißt es im Lied „Wenn alle untreu werden“ von Max von Schenkendorf. Die satanische und absolut böse Natur des Widersachers unterliegt in „Harry Potter“ keinerlei Zweifel, im Gegenteil! Faszination für die „dunkle Seite der Macht“ läßt sich in diesen Geschichten jedenfalls keine finden, die Bösen sind wirklich böse.
Weiters wird Rowling vorgeworfen, in ihren Geschichten zumindestens a-christlich zu sein. Dies mag der Fall sein, so feiert man in Hogwarts zwar Weihnachten, dies jedoch ohne christlichen Bezug. Doch nichts anderes ist heute fast in der gesamten Jugendliteratur der Fall – so wird auch in den Geschichten von Donald Duck zwar häufig Weihnachten gefeiert, ohne daß aber Christus erwähnt oder eine Kirche besucht wird. Dies mag man bedauern oder auch mit Recht kritisieren, Faktum ist, daß eine solche Darstellungsweise nur die Erfahrungswelt der meisten Jugendlichen von heute wiedergibt. Rowling unterscheidet sich da nicht von den anderen heutigen Kinder- und Jugendbüchern.
Im Kern aber gibt die Geschichte von Harry Potter die christliche Botschaft dennoch wieder: Als Voldemort, Verkörperung des Bösen, Harry Potters Familie auslöschen will, weil sich seine Eltern gegen ihn gestellt haben, scheitert er – an der Liebe: Harrys Mutter opfert ihr Leben für das ihres Kindes, und daran zerbricht Voldemorts Macht. Mutterliebe, Liebe, die in den Tod zu gehen bereit ist, überwindet den Bösen, zerbricht seine Macht, stößt ihn hinab in das Reich der Ohnmacht. Sollte dies nicht christlich interpretierbar sein?
Die Harry-Potter-Bücher sind spannend geschrieben, aber schlecht komponiert. Tote Motive, unwahrscheinliche Fügungen, unlogische Wandlungen im Erzählduktus finden sich zuhauf. Doch dies ist nicht das Kriterium. Das Erfolgsrezept von „Harry Potter“ ist, eine Parallelwelt konstruiert zu haben, in der im Prinzip die Gesetze unserer Welt gelten, die aber dennoch mehr an Abenteuer und Aufregung zu versprechen vermag, als dies heutiger Schulalltag tut. Im Prinzip können sich die Jugendlichen, vor allem jene Großbritanniens, unschwer selbst in diese Welt projizieren. Ihre Gesetzmäßigkeiten, sozialen Strukturen und ihre Moral sind nicht anders als die unseren, und doch bietet sie Spannung zuhauf. Diese Doppelfunktion, einerseits den Ausbruch aus unserer Alltagswelt zu ermöglichen, andererseits den Leser aber nicht in eine völlig fremde, bedrohliche Welt zu entführen, macht den Erfolg der Serie aus. Daß die Moral wie der Jahresablauf typisch christlich sind, das aber nicht expressis verbis kundgetan wird, macht das Buch erst recht wieder zum Spiegelbild unserer Zeit.
„Harry Potter“ ist sicher kein großer Wurf der Weltliteratur. Eine dämonische Gefahr ist er aber noch viel weniger. Mit dem, was „Magie“ im Kontext der europäischen Tradition bedeutete, hat die Zauberei bei Harry Potter jedenfalls nicht das Geringste zu tun.

 
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