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Johannes Messners Kulturethik

Von Friedrich Romig

Orientierungshilfe für den Homo culturalis

Weder der durch das bereits in 8. Auflage vorliegende Standardwerk über das „Naturrecht“ hochberühmte Verfasser, P. Johannes Messner (1891–1984), noch die Herausgeber des Neudrucks seiner vor rund einem halben Jahrhundert ersterschienenen „Kulturethik“ hätten sich träumen lassen, daß letztere durch den heute in aller Munde befindlichen „Zusammenstoß der Kulturen“ eine kaum noch zu überbietende Aktualität erhalten könnte.

Doch es ist nicht die Aktualität allein, die dieses Buch so lesens- und studierenswert macht, sondern auch die Tatsache, daß in diesem mit rund 700 Seiten doch überaus umfangreichen, aus dem damaligen Zeitgeist heraus geschriebenem Werk kein Satz zu finden ist, der überholt, nicht mehr gültig oder allenfalls nur noch mit Einschränkungen zu akzeptieren wäre. Das hat wohl damit zu tun, daß Messners Schaffen sich an unwandelbaren, immer gültigen und nie aufhebbaren Wahrheiten und Prinzipien orientiert, die in der „Natur“ oder dem „Wesen“ des Menschen begründet sind.
Zu diesem Wesen des Menschen gehört ganz untrennbar „die Kultur“. Mehr noch und in höherer Bedeutung als Homo Sapiens oder Animal rationale ist der Mensch Homo culturalis. Vernunft allein macht ihn noch nicht zum Kulturwesen, sondern höchstens zur „Intelligenzbestie“, erst die Überhöhung und die Ausrichtung durch das sittliche Bewußtsein bewirken, daß der Gebrauch der Vernunft die ganze Kultur mit Geist erfüllen kann. Die Kultur ermöglicht dem Menschen „Lebenserfüllung“, Vollentfaltung seiner Persönlichkeit, ein „Mensch von Kultur“ zu werden. Das aber ist seine Bestimmung, gibt seinem Leben Sinn, ja, ist seine sittliche Verpflichtung.
Kultur ist „Wertverwirklichung“. Alle Lebenserfüllung ist für den Menschen an die Welt der Werte gebunden. Kultur kann daher ganz und gar nur sittlich definiert und aus ihrem sittlichen Ursprung erklärt werden. Sie ist nicht allein erklärbar aus dem Lebenstrieb (z. B. als „Lebenshilfe“, wie bei A. Gehlen, A. Huxley oder K. Lorenz), denn noch keine höhere Kultur hat das irdische und zeitliche Leben als „höchstes der Güter“ angesehen, vielmehr hat jede die „metaphysische Natur“ des Menschen zur Grundlage und zum Ausgangspunkt ihres Kulturbegriffs erhoben. So gilt denn auch „in jedem und allem Ethos der Menschheit bis heute die Hingabe des eigenen Lebens an geistige Werte (der Erkenntnis, des Glaubens) als gut“ (434). Aus dem gleichen Grunde kann Kultur auch nicht auf den Macht- und Herrschaftstrieb (z. B. K. Marx, F. Nietzsche, A. Rüstow) oder den Sexualtrieb (S. Freud) zurückgeführt werden, weil alle Triebäußerungen dem im Menschen immer schon vorhandenen „ursprünglich sittlichen Bewußtsein“ (586) untergeordnet sind, welches ihm gebietet, „das Gute zu tun, und das Böse zu meiden“. Das eigene Gewissen meldet ihm jede Übertretung. So bewirkt wahre Kultur „die Unterordnung der Macht unter das Recht“ (608). Der „Hunger nach Leben“, der ungezügelte Macht- und Sexualtrieb, sie alle treten erst auf, wenn die „Rangordnung der Werte“ gestört ist, der „wesenhafte Wertgrund“ verlorenging, eine Flucht in „Scheinwerte“ eingesetzt hat, „Lust- und Dienstwerte“ an die Stelle der geistigen und überdauernden Werte des Guten, Schönen, Wahren und Gerechten getreten sind (434–437). Auch der materielle oder der „technische Fortschritt“ sind nicht mit Kultur gleichzusetzen oder Bedingung des Kulturfortschritts. „Lebenserfüllung“ ist nur in sehr eingeschränktem Maße von äußeren und technischen Mitteln abhängig, der Mensch kann auch unter weitgehendem Verzicht auf sie glücklich werden: „Ich weiß auch von keiner innerweltlichen Lebenserfüllung, die wir vorgeben könnten zu besitzen und die nicht auch im Zeitalter von Isaias oder Plato, Dante oder Shakespeare möglich war“ (615, unter Hinweis auf H. Butterfield).
Weil Lebenserfüllung des Menschen nur durch sittliche Persönlichkeitsentfaltung erreichbar ist, diese aber wiederum an die Verwirklichung der wesenhaften oder „existentiellen Zwecke“ oder „Werte“ gebunden ist, gehört „Kultur ganz und gar in das Reich der Ethik“ (335): Der „Eigenwert der sittlichen Persönlichkeitsentfaltung ist ihr oberstes Gesetz“ oder Prinzip (334). Konsequenterweise leitet daher Johannes Messner sein in drei „Bücher“ gegliedertes Werk mit der „Prinzipienethik“ (erstes Buch) und „Persönlichkeitsethik“ (zweites Buch) ein. Nur das dritte „Buch“, etwa die Hälfte des gesamten Umfangs einnehmend, ist dem eigentlichen Thema, der „Kulturethik“ vorbehalten.
Die beiden ersten Bücher können hier nicht im einzelnen besprochen werden, wohl aber sei ein Überblick gegeben, der wenigstens andeutet, welch außerordentlich wichtige Themen Messner dort anspricht.
Die „Prinzipienethik“ wird in vier Abschnitte gegliedert, die überschrieben sind mit „Die sittlichen Tatsachen“ (also Werte und Wertbewußtsein, Gewissen, Gewissenseinsicht, Gewissensurteil, Verantwortung, Schuld, Sühne, Naturgebundenheit, Liebeserfahrung, Todesgewißheit, Gottesbewußtsein); „Die sittliche Wahrheit“ (die Verankerung des Guten und Bösen im Sein, der Nötigungsgrund des Sittlichen, die Sittlichkeit als Natur- und als Gesetzesgebot, das Sittliche in seiner Bedeutung für Lebenssinn, Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentfaltung); „Die sittliche Ordnung“ (insbesondere die Rangordnung der sittlichen Güter und Tugenden, die Ordnung des Verhaltens, der Gesinnung, der Neigungen, der Vernunfterkenntnis, das Verhältnis der normativen Ethik zur Situationsethik, die Frage der universalen Bedeutung der Ethik für die Menschheitsentwicklung); schließlich „Die sittliche Erkenntnis“ (Quellen und Methoden der sittlichen Erkenntnis, Verhältnis zur Philosophie und zu den Erfahrungswissenschaften).
Auch das zweite „Buch“, die „Persönlichkeitsethik“, weist vier Abschnitte auf:
„Die Grundpflichten des Menschen von heute“ (Selbstbesinnung, Selbsterkenntnis, Selbstzucht, Selbstlosigkeit); die „Grundtugenden des Menschen von heute“ (Verantwortungsbewußtsein, Nächstenliebe, Demut, Ehrfurcht); die „Grundgüter des Menschen“ (Leben in der Liebe und im wohlgeordneten Gemeinwesen); abschließend die „Grundsituationen der sittlichen Persönlichkeitserfüllung“ (geistig, psychologisch, biologisch, soziologisch).
Diese zwei vorangestellten Bücher erscheinen Messner unbedingt notwenig, um die „Kulturethik“ in dem festen Grund der Natur des Menschen zu verankern, denn nur, was „naturrichtig ist, kann kulturrichtig sein“ (407). Das dritte Buch, also die „Kulturethik“, wird in vier Abschnitte gegliedert, und zwar „Kultur als Lebensform“ (Tradition, Ethos, Recht, Religion), „Kultur als Ordnung“ (Wertgrund, Wertgesetz, Werteinheit, Wertziel) und „Kultur als Aufgabe“ (Weg der Kulturvermittlung, Risiko von Fehlentwicklungen, Tragik in der Geschichte, Hoffnung). Diesen vier Abschnitten vorangestellt wurden zwei Kapitel, das Verhältnis von Persönlichkeitsethik zur Kulturethik sowie den Begriff der Kultur behandelnd.
Zur menschlichen Natur gehört nach Messner das, was die Philosophie seit altersher als „Sozialnatur“ bezeichnet hat. Es war „der tragische Irrtum der rationalistisch-liberalistischen Humanitätsidee…, daß in ihr der Mensch nur als Einzel- und nicht als Gesellschaftswesen gesehen wurde“ (468). Der Mensch ist jedoch ganz unverzichtbar ein Gemeinschaftswesen, ein zoon politicon, eine nur in der polis, der koinonia, „zusammenwohnende“ und vorkommende Species. Daher ist auch die Kultur durch und durch gesellschaftlicher Natur (342), sie ist, wie der Mensch, an Gesellschaft gebunden, eine Ausdrucksform des gesellschaftlichen Zusammenlebens, das sich hier auf Erden in der Zeit vollzieht und damit eine „Geschichte“ aufweist und erzählt. Ihrem vollen Begriffe nach ist daher „Kultur … die gesellschaftlich-geschichtliche Form der Lebensentfaltung eines Volkes als Ganzheit mit dem Grundziel der Persönlichkeitsentfaltung seiner Glieder durch Anteilnahme an dieser Lebensentfaltung auf allen Lebensgebieten“ (343). Eben weil der Mensch „von Anfang an nicht anders als in Gesellschaft, nämlich in der Familie, leben konnte“, hat er auch von Beginn an ein sittliches Bewußtsein und einen ausgeprägten Ordnungssinn entwickelt, sonst wäre er im Unrat seiner Wohnhöhlen erstickt (401). Von Kindheit an wird der Mensch geistig zu innerst durchformt von Überzeugungen und Haltungen gegenüber dem Leben und der Welt (331), er wird eingeführt in die gesellschaftlich überlieferten Vorstellungs-, Denk- und Wertungsweisen und die darauf beruhenden Haltungen, Sitten und Gebräuche, die „man mit einem Wort auch als Volkstum bezeichnet“ (347).
Im Volkstum spiegelt sich „das Gesamterlebnis der geschlossenen Gesellschaft“ im „kollektiv Unbewußten“ (348) oder, wie es Hegel treffend nannte, als „objektiver Geist“, der in der Tradition, dem Ethos, dem Recht und der Religion seine stärksten Ausdrucksformen findet.

Die Religion

Religion ist für Messner „allumfassender Lebensgrund der Kultur“ (379), sie bestimmt die „Grundanschauungen und Grundwerte einer Kultur“ (379), ihr verdanken wir „die Sicherung der Wahrheiten des natürlichen Sittengesetzes“ (386). Sie geht „in das seelisch-geistige Wesen eines Volkes ein“, um „zum Lebensgrund seiner Kultur zu werden“ (388). Sie besitzt die „stärkste Bindungskraft“, denn „sie verwurzelt Tradition und Ethos im Ewigen, Unbedingten und Unwandelbaren“ (377). „Geschichtlich gesehen, ist aber nichts gewisser, als daß die Religion … Kultur im eigentlichen Sinne erzeugt“ (390), Lebensstile und Kunstformen geschaffen hat und in alle Kulturbereiche, die geistigen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen, hineinwirkt: Weil der religiös-sittliche Endzweck „es dem Menschen in keinem Lebensbereich gestattet, sich selbst Gesetz zu sein, läßt er keine Trennung von Religion und Kultur zu. Daher fallen die kulturellen Lebensordnungen mittelbar (,indirekt‘) in die Zuständigkeit der Religion und der religiösen Autorität: ihre Aufgabe ist es, das Gewissen der Gesellschaft zu sein, zu urteilen oder zu verurteilen, soweit die gesellschaftlich-kulturellen Formen oder Einrichtungen die Erfüllung wesenhafter Lebenszwecke in höherem oder geringerem Maße erschweren“ (390).
Als Lebensgrund der Kultur eines Volkes kann Religion niemals nur „Privatsache“ sein. Der Ausschluß des sittlichen und religiösen Gebietes von der Politik ist eines Kulturstaates unwürdig und entspricht liberalistischer und sozialistischer „Blickverengung“ (537). Staatliche Unterstützung für Autorennen, Events, Massenunterhaltung, Sportveranstaltungen etc. zu gewähren, dagegen die Pflege der für das Gemeinwohl viel wichtigeren religiösen und sittlichen Werte einzuschränken oder zu verweigern, zeugt von Verantwortungslosigkeit und irregeleitetem Kultursinn (541). Mit der Schwächung der Religion als lebensformender Kraft beginnt die Kultur zu verfallen (378f). Daher ist eine auf das Gemeinwohl ausgerichtete Kulturpolitik des Staates dazu angehalten, der Religion „im modernen Bildungswesen den gleichen Platz (einzuräumen), den das Studium der griechisch-römischen Tradition im klassisch-humanistischen Bildungswesen einnahm“ (394). Sie muß vor allem dafür Sorge tragen, daß „die verantwortungsvolle Schicht (,Elite‘)“ in den für die Kulturentwicklung und Gesellschaftsgestaltung so entscheidenden religiös-sittlichen Lebensbereich „verwurzelt“ wird, damit sie aus ihm ihre schöpferische Kraft zur allseitigen Entfaltung der Kultur ziehen kann. Gerade die Elite, und vor allem das sittliche Genie, besitzen eine Kulturfunktion höchsten Ranges, indem sie den Blick für jene Werte offenhalten, deren Anerkennung allein die Entwicklung der Kultur in Richtung des vollentfalteten Menschentums zu verbürgen vermag (455).

Die Tradition

In  der Tradition erlangt der menschliche Geist eine Wirkkraft, die „nicht nur die einzelmenschlichen Fähigkeiten wesentlich übersteigt, sondern für alle einzelmenschliche geistige Entfaltung die Voraussetzung bildet“ (350). Der Mensch nämlich ist „das Wesen, das, in völligem Unterschied zum Tier, in einer Folge von Generationen erscheint, die sich vermittels der Tradition das Ergebnis ihrer Erfahrung, ihrer Arbeit und ihrer Erkenntnisse weiterreichen“ (346). So liegen in der Tradition zutiefst Wert und Würde, zugleich aber auch die Pflicht, „das in ihr überkommene Erbe durch eigene Bewährung … zu erhalten, fortzubilden und an die Nachkommen weiterzugeben“ (350). Die Ehrfurcht oder „Pietät“ vor der Tradition ist, um mit Goethe zu sprechen, eine soziale „Urtugend“ des Menschen. Sie wird dadurch verwirklicht, daß „das Ich das Ganze (die Tradition) in sich einbezieht, um sich dem Ganzen geben zu können“ (351, unter Hinweis auf den von Messner immer wieder zitierten Meister der Pädagogik, Theodor Litt).

Das Ethos

Ethos ist „die traditionsgebundene Sittlichkeit einer Gesellschaft“ (385). In den „Ethosformen entfalten die Völker ihre sittliche Individualität mit ihren besonderen sittlichen Werten, wie Tapferkeit, Ausdauer, Gerechtigkeit, Treue, Familiensinn, Arbeitsfleiß, Sparsamkeit, Gleichmut, Mäßigkeit, Nüchternheit, Reinheit“ (357). Mit dem Ethos als Lebensform verbindet sich sittliche Verantwortung: Die einzelnen Glieder der Kulturgemeinschaft sind „für das Heil des ganzen Kulturkreises mitverantwortlich“ (363) und haben diese Verantwortung in ihren Lebensbereichen unter Bewährung zu stellen, also „in der Familie, im Beruf, im Staatsleben sowie in jedem anderen aus ihrer Mitwirkung begründeten Umkreis des öffentlichen Lebens“ (364). Gerade in der modernen Gesellschaft, die auf Partizipation beruht, tragen sie die Gesamtverantwortung für Erhaltung, Verfall und Erneuerung des Ethos der Gemeinschaft mit, der sie angehören. Und mit der Gemeinschaftsverantwortung tragen sie auch die Gemeinschaftsschuld für den „Zerfall des Ethos“ ihres Volkes. „Das Ethos bestimmt schon ihren biologischen Lebenswillen und damit vor allem auch ihr Schicksal in der Begegnung der Völker. Darum sind Geburtenraten so verräterisch und so schicksalsschwer als Zeichen der Selbstmordbereitschaft der Völker und soviel bedenklicher als die Selbstmordstatistiken“ (364).
Ähnlich wie die Baustile, sind auch die Ethosformen der Völker verschieden. In gewissem Sinne teilen sich die Völker in die sittliche Arbeit des Menschengeschlechts und erhöhen so den kulturellen Reichtum der Menschheit (357). Über alle Unterschiede der Ethosformen hinweg ist jedoch „die Einheit des sittlichen Bewußseins der Menschheit, das heißt die Gleichheit der sittlichen Vernunft aller Menschen in ihrer Einsicht in die Wahrheit und verpflichtende Geltung der allgemeinsten sittlichen Prinzipien“, festzuhalten (356).

Das Recht

Recht ist Teil des Ethos. Die ersten Erscheinungsformen des Rechts sind Sitte und Gewohnheit, wie sie sich mit Tradition und Ethos in der Großfamilie, der Sippe und des Stammes bilden. „In seinem geschichtlichen Ursprung ist Recht keineswegs erwachsen aus willkürlicher Vereinbarung der Menschen, wie es die Annahme aller individualistischen und kollektivistischen Rechtstheorien ist, angefangen von den Gesellschaftsvertragstheorien bis zur heutigen Auffassung des Rechts als Ausdruck des staatlichen Mehrheitswillens. Im Gegenteil, im Recht wirkt sich das Ethos eines Volkes in der seinen sittlichen Wertprinzipien gemäßen äußeren gesellschaftlichen Ordnung aus, als Teil des Ethos ist das Recht daher ganz und gar Schöpfung der Gemeinschaft im eigentlichen Sinne des Wortes“ (369). „Kulturgeschichtlich gesehen, ist das Recht auf gesellschaftliche Ordnung nicht im Sinne der Menschenrechte oder bürgerlichen Grundrechte des modernen Rechtsstaates, nicht im Sinne der Übertragung und Ausübung der die Staatsgewalt regelnden modernen Verfassungen“ (368) zu betrachten, vielmehr fließt es aus dem Ethos der Gemeinschaft, ist „somit im Rechtsgewissen des Volkes selbst verwurzelt“ (370), im „Volksgeist“ (369). Recht ist wie das Ethos selbst Ausdruck „der Gesamtperson“, die, wie Max Scheler unterstrich, nicht aus Akten von Einzelpersonen entstehen und abgeleitet werden kann, etwa durch „Anerkennung“ (367), denn das Individuum als geistige Person lebt aus dem Geist der Gemeinschaft. Dies im Begriff von der „Wirklichkeit des objektiven Geistes“ erfaßt zu haben, ist die bleibende Leistung Hegels; „Ähnliches gilt von dem Begriff der als ,Geist‘ verstandenen Ganzheit im Universalismus Othmar Spanns“ (366). Recht als „gesellschaftlich verbürgte Sittlichkeit“ begriffen zu haben, darin besteht der Wahrheitskern der Hegelschen Geschichts-, Rechts- und Staatsauffassung (372). Dieser Wahrheitskern läßt allerdings auch den gegenläufigen Schluß zu, daß nämlich „Völker verfallen, wenn das sittliche Rechtsethos gebrochen ist“ (373).

Die Demokratie

Werden das sittlich bindende Recht und das Rechtsethos geleugnet, „besteht gar keine andere Alternative, als daß an die Stelle des sittlichen Rechts als Prinzip der gesellschaftlichen Grundverhältnisse die Macht tritt, sei es die Macht der parlamentarischen Mehrheit, wie in den liberalen westlichen Demokratien, sei es die Macht der Polizeigewalt, wie in der totalitären östlichen ,Demokratie‘“ (374). Beide sind innerlich verwandt, sie neigen zu Diktatur und Tyrannei: „In der modernen Demokratie mit ihrem Prinzip, daß alles Recht vom Volk ausgehe und daher die Mehrheit des Volkes das Recht schaffe, wächst die Gefahr der Mehrheitsdiktatur, die sich über die ursprünglichen Rechte des Menschen und der natürlichen Gemeinschaftsverbände hinwegsetzt; dabei ist nicht nur an die Ehe- und Schulgesetzgebung zu denken, sondern auch an das Vordringen des Staates in die privaten Freiheits- und Verantwortungsbereiche … „(374f). Das steht ganz im Widerspruch zur älteren Geschichts- und Kulturphilosophie, nämlich der von Kant und Hegel, welche den Sinn der Geschichte und der Kultur in allererster Linie in der fortschreitenden Verwirklichung der Freiheit im Zuge der Entfaltung des sittlichen Rechtsbewußtseins und der sittlichen Rechtswirklichkeit sah (413). Der politische Mechanismus der Demokratie wirkt sich dagegen in der Selbstaufhebung der Freiheit aus (476). Die Demokratie ist heute Wegbereiter des Wachstums staatlicher Übermacht „weil sie mit den ihr heutiges Funktionieren weithin beherrschenden Ideen der Freiheit und Gleichheit den Kollektivierungsprozeß vorantreibt“ (479), kennt doch die individualistisch-liberalistische, formale Freiheitsidee kein anderes Rechtsprinzip als die Mehrheit und ihre Diktatur (476). Der Demokratismus ist „die allgemeine Vergröberung des europäischen Geistes“, die Demokratie „eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen“, „die Ausgestaltung der Sklaverei“ (461, mit Hinweis auf F. Nietzsche). Der Grund für diese Entwicklung in den westlichen Demokratien ist nicht zuletzt die Verantwortungsmüdigkeit, die nach sozialer Absicherung drängt. In der Massengesellschaft führt dieses Drängen nach sozialer Sicherheit zur Übermacht des Staates (472). Die von der Demokratie geförderte Massengesellschaft bewirkt ein „kulturelles Gefälle“ das zur Verdrängung des lebendigen Volkstums durch Massenproduktion, Massengeschmack, Massenreklame und Massenpropaganda führt (558). Hierin sind auch die „kulturschädigenden Wirkungen des Wettbewerbs“ zu finden, der mit „seinem reißenden Absatz“, seiner Überfremdung und „Amerikanisierung“ bis hinein in die Sprache, die Literatur („Bestseller“) und die Musik seine „zersetzende Wirkung“ (562) ausübt.

Kultur als Aufgabe

Gegen die staatliche Übermacht gilt es, die „Eigenrechte, Eigenmacht und Eigenverwaltung der nachbarschaftlichen und der beruflichen Gemeinschaften“ zu stärken (480), den „Kultursinn der Arbeit“ wiederzugewinnen und die Gemeinschaftstugenden, wie Familiensinn, Treue, Gerechtigkeit und Billigkeit, Hingabe und Opferbereitschaft, zu entwickeln. Eine entscheidende Rolle kommt dabei der Sozialordnung zu, durch die der Einzelne in die Gemeinschaft eingeordnet wird und Bedeutung erhält. Denn „was der Einzelne bedeutet, das bedeutet er ganz eigentlich durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie, zu einer gens, zu einem Stande, zu einer Gefolgschaft, das ist er als Vater oder Sohn oder Ahn, das ist er als Soldat, als Redner, als Jurist, als gewesener Magistrat, als Senator“ (470). Die große Kulturleistung sowohl Roms wie des ganzen Mittelalters bestand in der sorgfältigen Regelung der rechtlichen und sozialen Verhältnisse von Menschen untereinander und zwischen den einzelnen Ständen. Diese Regelungen begründeten die Sozialrechte aus der Sozialnatur des Menschen, Gemeinschaftsrechte flossen aus „der natürlichen Gemeinschaftsgerechtigkeit“, die nicht jedem das Gleiche, sondern das Seine gewährte, und die schöpferische Mitbeteiligung am Kulturprozeß ermöglichte.
Auch heute geht es wieder um eine „Gemeinwohlordnung“, welche die Persönlichkeitserfüllung für die Glieder aller gesellschaftlichen Gruppen durch Beteiligung an der gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung in Eigenverantwortung ermöglicht (601ff). Wir sollten nicht übersehen, daß die innerste Wurzel des Sozialismus „verletzte Liebe“ (W. Sombart) ist, weil die Kulturgemeinschaft den Arbeiter nicht als Vollglied annahm, sondern ihn zum Gegenstand des ökonomischen Kalküls, der Rechenhaftigkeit und der technisch-ökonomischen Funktionswelt machte, ohne seine seelisch-sittliche Grundverfassung zu beachten, die von Natur aus nach Persönlichkeitsentfaltung und zur Übernahme von Verantwortung für die Verwirklichung der Gerechtigkeit im sozialen, politischen und kulturellen Sinne drängt. Denn von seiner Natur her will der Mensch, daß die Erde reicher wird, „als sie vor seiner Ankunft war“ (628, unter Bezug auf Michelangelo). Deshalb sind gerade die Kulturvermittler gefordert, die Familien, Schulen, Universitäten und Forschungstätten, die Berufs- und Religionsgemeinschaften und vor allem die auf die öffentliche Meinung einwirkenden Medien und Parteien sowie den Staat selbst anzusprechen. Sie alle und die dort Tätigen haben für solche Wertungen und Haltungen der Gesellschaftsglieder einzutreten, die auf das Wachstum der Kultur einwirken und die Zersetzung des sittlichen und religiösen Wurzel- und Wachstumsgrundes der Kultur verhindern. Wertnihilismus, Wertindifferentismus, Skeptizismus, Agnostizismus oder ein kritizistischer Intellektualismus, der nicht vom Willen zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit bestimmt ist, halten den Kulturverfall nicht auf, sondern fördern ihn.

Die Toleranz

Toleranz darf niemals als Verzicht auf Wahrheit verstanden werden. Sie kann auch nicht die gleiche Gültigkeit aller Überzeugungen und Wertprinzipien fordern, denn das würde zur Prinzipienlosigkeit und zur Suspendierung des Urteils über Wahr und Falsch, Gut und Böse führen. Toleranz ist kein schöpferisches Prinzip, sie bestimmt nur die Kampfesweise, in der geistige Auseinandersetzungen – gentlemanlike – zu führen sind. Sie besteht in der Achtung von Überzeugungen und Haltungen anderer und im Gewährenlassen von deren öffentlichen Äußerungen, solange sie nicht wesentliche Gemeinwohlgüter schädigen. Aufforderung zur Gewalt, Bedrohung der öffentlichen Sicherheit, Meuchelmord zur „Befreiung“ der Gesellschaft vom kapitalistischen Joch sind auch dann nicht zu dulden, wenn die Berufung auf das eigene Gewissen erfolgt. Toleranz darf nicht bis zur Selbstaufhebung der Freiheit geübt werden, sie darf nicht den Freiheitsmißbrauch schützen. So fordert gerade das Prinzip der Toleranz, d.h. die Achtung der Überzeugung anderer, z. B. die Abwehr von herabsetzenden Äußerungen über Inhalt und Ausdrucksformen religiöser Überzeugungen durch die Staatsgewalt und die strafrechtliche Verfolgung der Blasphemie (511). Toleranz ist kein absolutes Prinzip: Wer sich im Krieg befindet, kann keine pazifistische Propaganda dulden. Heute führt die „eifernde Betonung des Toleranzprinzips“ zur weitgehenden Dogmatisierung des naturwissenschaftlichen Weltbildes des szientifisch-atheistischen Humanismus (514) oder zur Verletzung ursprünglicher Sozialrechte (z.B. des Elternrechts auf Erziehung der Kinder) durch das Mehrheitsprinzip der Demokratie. Gerade in der heutigen Gesellschaft, die keine allen gemeinsame Wahrheits- und Wertprinzipen als Grundlage des Denkens und Handelns mehr kennt, gilt es im Meinungskampf zu bestehen und Stellung zu beziehen. Der Meinungskampf kennt keine bloß neutralen Zuschauer, sondern verlangt das entschiedene Verfechten der eigenen Überzeugungen und Wertprinzipien. Nur ein Mensch mit Prinzipien ist fähig, Toleranz zu üben, nur er kann den so notwendigen Willen zur Sachlichkeit aufbringen, von dem allein eine Rettung im Ringen um die Entscheidung über die Wertziele der Kultur der modernen Gesellschaft zu erwarten ist.

Zum Beschlusse

Das Hauptverdienst des Werkes und seines Verfassers besteht nach Ansicht des Rezensenten in der Aufrichtung verbindlicher Maßstäbe für die Kultur, die Kulturethik und Kulturpoltik. Diese werden nicht aus einer bestimmten Religion, aus theologischen Lehren oder geoffenbarten Wahrheiten abgeleitet, sondern aus der „Natur des Menschen“ begründet. Zu ihr gehört die geistige Freiheit, der der Mensch seine sittliche Würde verdankt: Er kann sich stets und in allen Lagen für das „Gute“ oder das „Böse“ entscheiden. Der Begriff des Guten, der Ausgangs- und Zielpunkt jeder Ethik, fällt mit dem Göttlichen, dem Heiligen und Ewigen zusammen. Sich ihm anzunähern, gehört zu den wesenhaften oder existentiellen Zwecken des Menschen wie der Gesellschaft. Diese Zwecke aus der Betrachtung auszuklammern, verstößt angesichts der Zugänge und Ergebnisse, „die empirische und philosophische Anthropologie, die Volkstumsforschung, die Kulturgeschichte, Kultursoziologie und Kulturphilosophie“ ( XX) in jüngster Zeit erschlossen haben, gegen wissenschaftliche Redlichkeit und Wahrheit . Die Leistung der Kultur besteht zuletzt darin, diese Annäherung an den metaphysischen Grund des Menschseins und damit die Erfüllung „der Bestimmung des Menschen“ (X) zu ermöglichen, zu erleichtern und zu fördern. Und eben in dieser Leistung für die Persönlichkeitserfüllung des Menschen findet Kultur ihren ethischen Maßstab. Messner schließt damit an die gesamte ethische Tradition an, die sich von der Antike bis zur Moderne darin einig ist, daß es der sittlich-religiöse Geist sei, der den Menschen als kulturelles Wesen, wie es im christlichen Credo treffend heißt, „lebendig macht“, ihm Führer und „Herr“ ist. Vielleicht wird durch dieses Buch auch langsam klar, daß sich der eingangs erwähnte „clash of civilizations“ weit weniger zwischen den verschiedenen Kulturen als innerhalb der einzelnen Gesellschaften abspielt, nämlich als Zusammenstoß von vollkommen säkularer Zivilisation mit einer metaphysisch geprägten Kultur, die im sittlich-religiösen Grund ihre schöpferischen Wurzeln hat. Für einen vernünftigen Dialog zwischen den Kulturen und der Ordnung ihres Zusammenlebens in Frieden und Freiheit hat Johannes Messner mit der Herausstellung – wenn schon nicht Entdeckung – des apriorischen „ursprünglich sittlichen Bewußtseins“, das über alle Kulturdifferenzen hinweg wirkt, ein wichtiges Fundament geschaffen, das von keiner Religion Konzessionen an die Substanz ihres Glaubens fordert.
Das Buch gehört in die Hand aller Ethik Unterrichtenden, aller Kulturpolitiker und an Kultur Interessierten. Ihm ist schon wegen der so notwendigen Eindämmung des Kulturverfalls größte Verbreitung zu wünschen. Dem Lamentieren über diesen Verfall oder dem nutzlosen Appell an den guten Willen setzt es die Forderung nach aktivem Kampf um die unbestreitbaren, existentiellen Werte mit der für Analyse und Aufbau der Kultur geschärften Klinge des Geistes entgegen. Selbst wenn dieser Kampf völlig aussichtslos wäre (was er nicht ist), müßte er aus sittlicher Verpflichtung heraus geführt werden, ähnlich wie Hector nicht aufgab, obwohl er vom Untergang seiner Heimatstadt im voraus wußte (580, unter Hinweis auf A. v. Humboldt)). Der Mensch ist nämlich „niemals mehr er selbst, als wenn er, den Kreis des ihn persönlich Angehenden überschreitend, es mit den dräuenden Gewalten der Geschichte aufnimmt“ (579, unter Hinweis auf Th. Litt).

Johannes Messner: Kulturethik, mit Grund legung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik. Nachdruck der Ausgabe 1954 im Rahmen der durch Anton Rauscher S. J. und Rudolf Weiler besorgten Herausgabe augewählter Werke von J. Messner. Eingeleitet von Alfred Klose und Rudolf Weiler.Verlag für Geschichte und Politik, Wien, sowie Wissenschaftsverlag Oldenburg, München 2001, XIX + 681 Seiten; Preis: 59,80 Euro.

 
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