Für Cyriel Verschaeve, den flämischen Priester-Dichter und Führer seines Volkes in den stürmischen Jahren des 20. Jahrhunderts, äußert sich die Eigenart, der Gehalt des Menschen in seinen beiden Teilen, dem Körper und der Seele. Diese sind, Elementen gleich, wesentlich verbunden, niemals zweigeteilt, sondern immer in einem Menschen vereinigt. Dennoch, so Verschaeve, sind es zwei Elemente, und sie verbunden zu halten, ohne Entzweiung oder Auflösung, sei Lebensaufgabe. Und so darf auch Kunst weder bloß ein „begehrliches Ausstrahlen der Liebe nach einer nur als Stoff materialistisch betrachteten Welt“ sein noch ein „rein sehnsüchtiges Verlangen nach einem nur geistigen, gleichsam verdünnten Reich“. Nur beide Welten vereint sind der wirkliche Lebensraum des Menschen, und sie vereint zu zeigen, ist Aufgabe und Wesen der Kunst. Von diesem Grundgedanken ausgehend, wirft der Autor einen faszinierenden Blick auf die Weltbedeutung flämischer Kunst.
Drei große Kunstwogen heben sich aus den vielen bedeutenden hervor: die indische, die griechische und die nordische. Sie wurden durch die Gewalt des inneren Mächtepaars im Leben emporgetrieben und gestaltet sich in einem Verhältnisausgleich von dessen Polarität.
Die ägyptische Kunst, als zu sehr durch Tod und Wüste – Todesland – bestimmt, lasse ich außer acht, ebenfalls die italienische, weil sie mehr formbedingt als formschaffend mir erscheint. Das Leben schafft sich seine Form, und nicht die Form das Leben, und auch das gewaltige Leben, das man in einer Formkunst fühlt, ist Nachwirkung, immer.
Kunst wird durch Zauber bewogen. Den Zauber festzuhalten, zu bannen, ist ihre Bemühung. Was bringt diesen Zauber hervor? Sonne, Erde und Blut wirken immer zusammen, um ihn zu erzeugen. Die Sonne erhitzt oder streichelt oder erwärmt das Blut; die Erde verschlingt den Menschen in der üppigen Fülle ihrer Gewächse, oder sie breitet sich rings um ihn her klar und hell aus, oder sie umnebelt und umdroht ihn mit Dünsten und Wolken. Jedesmal bezaubert ihn das Leben – entweder als ein sich hingebendes Versinken oder als ein schauendes Herrschen oder als ein siegendes Kämpfen.
Im ersten Fall, dem indischen, löst der Zauber die Menschenpolarität auf. Die Fülle der Erde und der Sonne hat den Menschen überwältigt und Sinn und Seele im Banne der Vielheit gefangen. Dem Zahllosen wird als dem „All“ zugejubelt, und fessellose Vervielfältigung wird das Ausdrucksmittel des innerlichen Zaubergefühls. Dieweil Zauber und Traum in Gott gipfeln, schafft er sich vielgliedrige Göttergestalten und Tempel, welche wie ein Prunkzeltlager einen ganzen Hügel bedecken, wie in Borobudur, und Visionen wie diejenigen des Arjuna im Bishmabuch des Mahabharata, wovon hier ein paar Verse:
Ich schau’ die Götter, Gott, in deinem Leibe alle,
und der unzähligen Wesen Scharen,
Brahma, den Herrn, sitzend im Lotuskelche,
die Weisen alle und die Götterschlangen,
mit vielen Armen, Bäuchen, Mündern, Augen
schau ich dich, Allseit’gestaltiger.
Nicht End’, nicht Mitte und nicht Anfang deiner
schau’ ich.
(Übersetzt von F. Lorinser)
Es ist großartig, aber man fühlt keine Polkraftwirkung mehr. Streben ist unmöglich, wo man sich von der Zahllosigkeit umfangen fühlt. Da siegt nur noch die letzte Lust der Passivität, des Einstellens aller persönlichen Richtungswege und der völligen Hingabe des Selbst, des Vergehens:
In dem wogenden Schwall,
In dem tönenden Schall,
In des Weltatems wehendem All.
Diese Tristanklänge könnten in Indien geboren sein. Wir kennen aber das wirkliche Gefühl des so nordischen Dichters des Tristan. In einem Gespräch mit Cosima äußert Wagner sich über Zahl und Ewigkeit. Er behauptet, Ewigkeit befreie uns von der Vielheit des Daseins und stürze uns ins eine Sein, und er prägt das Wort: „Mit der Arithmetik beginnt die Hölle.“ (Graf Dumoulin: Cosima Wagner I, S. 78). Das ist nordisch: Kein Anbeten der Zahl an sich, worin dem Zahlenumwogten nichts übrig bleibt als Flucht ins Nirwana, sondern Siegen über die Zahl durch das stolze Gefühl: das All ist kein Vielheitsgewimmel, das All ist Eins.
Es sei ferne von mir, der indischen Lebensschau Größe und selbst Polarität abzusprechen. Wenn diese wirklich in einem Menschen ganz verschwände, so würde er aufhören, Mensch zu sein; doch betont soll werden, daß den beiden Polen alle Zügel losgelassen werden, so daß ihr Wirken nur noch Fließen und Ausströmen wird. Derart, daß das Sich-strömen-fühlen selbst als eine Lösung gedacht wird, wie z.B. im Politischen die reine Passivität Gandhis.
Die Vielheit an sich war für die Griechen gar kein Zauber. Aber die Vielheit sollte Harmonie werden. Harmonie heißt im Grunde: Zusammenfügung durch den Menschen. Was zuviel ist, kann man nicht fassen, soll man auch nicht begehren. Nichts zu viel! Keine Hybris! Keine Überhebung! Der Mensch, und was er menschlich fassen kann mit seinen schönen Gliedern, hellen Sinnen und dem Geiste, dem sie dienen, ist ja schon herrlich genug. Der Mensch ist die Mitte. Die Mitte herrscht. Herrschen ist in Gleichheit zusammenfassen, gleichgesinnt, gleichberechtigt, gleichbeteiligt machen, Gleichgewicht der Stände im Volke und der Elemente im Menschen hervorbringen. Alles wurde Mensch in der Kunst der Griechen, und er selbst das Muster für seine Götter. Die Natur verschwand fast gänzlich und erfüllte nur ihre wirkliche Rolle: den Menschen zu tragen. Aber auf dieser tragenden Erde tat der Mensch das Größtmögliche, was er tun kann: zu stehen. Das Standbild, der stehende Mensch, stark und ruhig in der Mitte aller Wesen sich fühlend und daher nirgendwohin orientiert, das ist das Griechische in der Griechenkunst. Wie weit mehr Bedeutung liegt darin als im Sitzen der Ägypter, im Gliederschwenken der Inder, im Theatergebärdenspiel späterer Zeiten! Da tun die Menschen immer etwas, bei den Griechen aber nichts als stehen, und stehen ist sein. Es ist so fürstlich erhaben, daß es in dunkler Ahnung als das Höchste empfunden und im dunklen Drange des Kunstschaffens über alles ausgebreitet, allen Werken eingeprägt wird. So wird die Säule das lebende Stehen eines körpergewordenen Steins; so raunt die griechische Architektur, durch die Säulen bedingt und in der Formensprache ihrer Säulen, das herrliche Wort des Menschen mit: ich stehe. Blöcke liegen, Säule steht. Kann ein Gebäude etwas Stolzeres verkörpern? Kann ein Volk, das Großes leistete und, um seine Größe in ebenbürtigen Gebäuden auszudrücken, die geeignete Form sich sucht, eine bessere finden als diejenige, die mit der Allgewalt der Ruhe: „Ich stehe“ sagt, und „Nach tausend Jahren stehe ich noch“? Sagt Paestums Tempel nicht: „Ich bin in der reinen Seinsform gebaut, ich stehe...?“ Im Stehen verschwindet die Menschenpolarität; ihre Bestrebungen begegnen einander in der Harmonie der Mitte, worin sie sich in Ruhe ausgleichen: da entsteht der selbstgesetzliche, selbstherrliche Mensch, der nur noch seine eigene Schwere trägt. Das ist immer, Gott sei Dank möchte man sagen, noch viel! Da kann er noch Held werden. Er tut’s. Dem scharfzusehenden Auge ist jedes Meisterstück der griechischen Kunst von ungeheurer Spannung erfüllt: die Parthenonsäule, der Wagenlenker von Delphi, Polyklets Doryphor, der Dulder Odysseus des Homer, der Philoktet des Sophokles. Heldenhaft stehenbleiben in unmenschlich schwieriger Lage, das ist der Philoktet, das macht ihn zum würdigen Nachfolger des hehrsten Helden Hellas’, Herakles, wie man es in einem unsterblichen Kapitel von Lessings Laokoon lesen kann. Man bewundert denn auch ein ringendes Stehen in allen Göttergestalten des Pergamonaltars. Denn in den Göttern hat der Grieche das erhöhte Bild seines Selbst geformt und den Rest der Unwahrheit, der immerhin im vollen Ideal des Menschen in Ruhe übrigbleibt, in Göttergestalten ausgemerzt. Selbst Kampf erschüttert bei Göttern kein Gleichgewicht. Das griechische polare Gleichgewicht ist so vollkommen, daß man anfänglich Ruhe ohne Spannung und Kampf ohne Mühe zu erblicken wähnt. Man staunt das an, man wittert Verstecktes, man ahnt, daß diese sich ausgleichenden Kräfte auch nicht vorhanden sein möchten, man erwartet in diesem Falle eine totale Tragödie, und die Weisheit, welche die griechischen Chöre ihrem tragischen Helden zusingen, regt sich in unserem Herzen:
Oh unglückseliges Geschlecht der Menschen,
Dem ein unermeßliches Los zuteil ward!
(Philoktetes 178-9)
Dem Zuschauer wird dabei das griechische Kunstideal als ein Wunschbild, als ein verwirklichter Traum offenbar. Sollte es auch dem Norden ein Wunschbild sein?
Die Frage kann uns zur dritten Kunstwoge, der unsrigen, überleiten. Lasset uns die Menschenpole mit den geographischen Namen der Erdpole nennen und unsere Frage mit zwei Versen von Goethe stellen:
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände...
Würde dieses dem tiefen Wunsch des Nordens entsprechen? Nein, das könnte nicht sein Wunschbild sein. Ein ganz anderes schwebt ihm als Ideal vor. Der Norden kennt und liebt keine Ruhe. Er ist Sturmgebiet. Die uralte Edda schon war ein Tummelplatz ringender Götter und Riesen. Da blüht kein ewiger Mai. Ver ubi longum ist südlich, nördlich aber das Wissen, daß alles Schöne kurz dauert, kämpft, wechselt und wird. Sturmesbrausen und Wogen des Werdens sind die Musik des Nordens, der kein nordischer Mensch je zurufen wird: „Nicht diese Töne“, denn das ist Leben, und sein völliges Aufhören würde das Ende des Alls bedeuten. Denn es entfesselt der nordische Kampf so völlig die Ganzheit in Natur und Mensch, daß er nicht anders kann, als entweder ewig zu dauern oder zu endigen in einer allmitreißenden Götterdämmerung. Das ist der Kampf des Werdens, worin endigen auch aufhören zu sein bedeuten würde. Daß der Werdenskampf kein Ende haben kann, macht aus seiner Gewalt seine Schönheit. Diese Schönheit ist also kein schmelzendes Verschwinden beider Kräfte in einer Harmonie, sondern ein neben-gegen-durch-ineinander wühlendes Bestehenbleiben. Kampf ist ja auch Einheit und Ordnung, sonst siegt er nicht; denn steigert er die Gegensätze, steigert er auch die Einheit. Ringende Kräfte offenbaren sich, messen sich, wie das Wort lautet, und es entsteht eine Harmonie der Kontraste, freilich eine ganz andere, aber nicht weniger glänzende als die griechische, und ihr Sinn ist ebenso groß. Die nordische Harmonie setzt ja die ganze Kraft ihrer Kämpfer ein und aller ihrer Glieder, hebt dieselben vereinzelt und im Zusammenstoß hervor, und läßt in dem vielgliedrigen Ganzen die Einheit leuchten jenes Ganzen, das erstrebt wird: die Vollheit des Lebens.
Nichts kann eine solche Kampf- und Sturmharmonie besser ausdrücken als die Musik. Alle Tonelemente werden darin entfesselt und verbunden; selbständig bleibend, schlingen sich tiefe und hohe Stimmen durch- und ineinander und brausen zusammen. Das ist die Einheit des Brausens. Die deutsche Musik hat die niederländische Polyphonie brausen lassen und ihr so die höchste Weihe gegeben: die Bewegung des Lebens den Kräften des Lebens. Zusammenbrausend entgegenbrausen – das ist das stärkste Wunder des einen Geistes, der alles bewegen soll und kann, des Feuergeistes, den Dante im Schlußvers der Göttlichen Komödie begrüßt:
L’amor che muove il sol e l’altre stelle.
Paul Claudel begrüßt ihn nicht, leugnet sogar dieses Wunders Geistlichkeit, indem er die deutsche Musikhoheit wohl anerkennt, aber diese Kunst barbarisch nennt. Dem könnte das alte große Wort entgegengehalten werden: „Wer ist jener, der selbst die Stürme stillt...?“ Doch kein Barbar! Und Stürme stillt die Musik in höchster Weise, indem sie diese ordnet.
Entfesseln und ordnen – das ist, das tut der Norden. Da ist uns der Lenz Zauber und der Winter Grauen, und im Menschen ist die Lebenslust Rausch und die Höhensucht Entrücktheit. Die Pole zeichnen sich in aller Schärfe ab, um danach in stürmischer Verbindung ein Paar zu werden und Höchstes zu zeugen. Hat Deutschland dieses angeblich Unmögliche zur Tatsache gemacht in der Musik, auch in Flandern und Holland ward’s Ereignis in der Malerei.
In den ragenden Riesen unserer Kunst erblickt man ein Ganz-sich-ergeben der beiden Welten, die wirklich die Menschenwelten sind. Van Eyck, Van der Goes, Brueghel, Rembrandt, Rubens sind ganz Blut und ganz Seele. Mit ihrer gewaltigen Gesundheit, ihrem Mut und ihrem Sinnenleben ergaben sie sich der Erde und ihrer Herrlichkeit. Eine Liebe ist eine Welt. Die Welt war ihre Liebe, deshalb war das Schauen ihres Auges auch Traum und Rausch des Auges, und was man flämischen Realismus nennt, erhielt die Kraft des Zaubers. Zauber aber überwindet die Materie und die Wirklichkeit. Es ist also nicht verwunderlich, daß dieselben Künstler, die Seide und Samt, Gold und Geschmeide liebevoll malten, zur selben Zeit dem Mysterium der glänzenden Überwelt so ganz verschrieben scheinen, daß sie vom Gipfel der Realität den Salto mortale in die Herrlichkeit wagen, und diese ist ihnen die andere, geträumte, aus der Herrlichkeit jener unteren aufblühende, realer als die reale, geglaubte Welt. So verflüchtigte sie sich nicht, sondern strahlte ihr Feuer.
Es besteht also die große flämische Tat in der Kunst darin, daß sie Sinne und Geist, Wirklichkeitsliebe und Jenseitssehnsucht nicht in verschiedenen Künstlern oder im selben nacheinander sich ausleben ließ, sondern beide mit einem Herzensschwung begehrte und in ein Kunstwerk ausgoß. Ist es
das Unbeschreibliche –
Hier wird’s getan,
bei all unseren Großen. So entstehen Werke, gegensätzlich-eins und polar-ganz... Es ist bei uns üblich geworden, von zwei Strömungen im flämischen Volk zu sprechen mit der Redensart: das Volk von Memling und das Volk von Rubens, als ob der erste Künstler die Mystik, der zweite die Erdenliebe verkörperte. Ich kann bei bestem Willen keine Mystik erblicken, wo ich Lebensblässe spüre, noch solche verneinen, wo Lebensfülle strahlt. Auch Mystik soll Ganzheit sein, weil sie Flamme des Lebens ist. Memling ist, meinem Gefühl nach, kein Flame.
Aber Erde und Himmelszauber einen sich im Genter Altar des Jan van Eyck. Da lacht die Aue in tausend Blumen, leuchten die Farben in prangender Pracht, werden die wärmsten erwählt, um zusammen zu blühen in tiefster Glut. Die Kräuter sind selig und die Menschen auch. Im Tanz ihrer Farbenfülle und im Rausch ihrer Glut ergeben sie ein Gegenbild zur späteren berühmten „Flämischen Kirmes“ des Rubens (Louvre). Gerade wie dort ein ruhig-leuchtender erhabener Himmel, wie ein Segen über dem Getümmel ausgebreitet, diesem die beruhigende bejahende Antwort gibt, so antwortet hier die Ferne im Hintergrund mit einem dämmrigen Gewimmel von sprießenden Türmen auf das Farbengeflimmer der Paradieswiese im Vordergrund. Die Türme weisen mit verklärten Fingern nach oben, wo alle diese fast rieselnden Farben ausgebreitete Majestät werden und krönende Bedeutung erhalten in erhabenen Gestalten. Einen Satz kann der Genter Altar aussprechen: die Fülle der Erde führt zum Himmel empor. Er hat die zwei Menschenpole entfesselt und in der Entfesselung selbst zusammengeführt. Dasselbe tut der Montforter Altar des Van der Goes (Berlin), aber in entgegengesetzter Richtung: die Farben ertönen in großen Akkorden in den monumentalen Gestalten der drei Könige und ihres Gefolges, aber sie sterben aus im Antlitz der seligen Mutter, im Zentrum also. Liebesergriffenheit und überseliges Mutterglück vor dem Gotteskind lassen die Farbenglut an ihrer Macht hinsterben. Das ist der Mystiker Tod, der Lebensgewalt bedeutet. Da sagen die Farben, was die entzückten Liebenden alle singen:
O sink’ hernieder,
Nacht der Liebe...
Laß’ mich sterben...
Um ungetrennt,
Ewig einig,
Ohne End’
Der Liebe nur zu leben!
Und Brueghel!
Sein Winterbild, meint ein deutscher Schriftsteller, sei, wenn nicht das Schönste, so doch das Zentrum aller Werke Brueghels. Ich teile diese Ansicht. So totes Halblicht gibt es nicht wieder in der Welt. Es kommt nicht mehr von oben und hat gar keine Richtung mehr. Steigend aus dem Schnee, lastet es auf dem Schnee. Es ward reine Schwere und reine Ausbreitung. Der ganze Himmel ist ein Grabstein. Dennoch entsteht keine japanisch-leere Unendlichkeit. Die Erde und was sie bietet, hat Körper und Stoff. Nur in Flandern kann Licht- und Farbenfreude so ganz und traurig sterben. Nur in Flandern kann man sich im Grabe noch ein Feuer anzünden und Schweineborsten abbrennen. Es mag sich die giftgrüne Himmelsdecke wie die Haut des Drachens auch ausspannen... es flüchtet sich der Flame vor der Hölle in seine Küche!
Wiederum – welch ein Zusammenstoß breitester Vision mit feistestem Realismus! Das wiederholt sich in seltener Mischung in mehreren Werken, bis die Trauerspannung durchbricht und das nackte Grauen herrscht. Realistische Zutaten werden dann nur Begleiterscheinungen und dienen als Narretei und Grimasse. Die „Dulle Griet“ und „El Triomfo de la Muerte“ (Madrid) sind hier die Höchstleistungen. Es ist sonderbar, aber geschichtlich leicht erklärlich, daß der ganz falsch als Sinnenmensch, Fresser und Säufer verrufene Künstler viel mehr Mühe hatte, um die zwei Welten zu verbinden, als seine großen Kunstbrüder, denen es in den Regionen des Glanzes so mühelos gelingt.
Rembrandt und Rubens gelang es ein letztes Mal, die Flämische Tat in der Kunst erschöpfend zu vollbringen. Welt und Überwelt ergreifen, der hiesigen Welt eine überweltliche Schau abgewinnen, das taten beide, auf freilich verschiedenen Wegen.
Rembrandt fährt vom geheimnisvollen Dunkel ins verklärende Licht, Rubens von Licht in Glanz. Ihre Kunstmittel sind die Urelemente: Licht und Feuer, und zwar in der Kraft ihres Urlebens. Anderswo untersuchte ich dieses ausführlich und mußte feststellen, wie unwesentlich der Stoff, der Inhalt des Dargestellten in diesen Malereien sei; nicht der Stoff leiht seinen Sinn dem Feuerleben, sondern empfängt seinen Sinn von ihm.
Die Formen auch sind nicht das Wesentliche. Rubens hatte die Formensprache der italienischen Renaissance übernommen, aber einer totgelaufenen und im Bologneser Akademismus hinsterbenden. Der Renaissance hat er eine neue Renaissance gegeben, indem er ihr soviel direkte Natur eingegossen hat, daß alles aufs neue von Leben strotzte. Rembrandt auch hatte seinen Bibelszenen ein Naturbad im Judenviertel, wo er wohnte, gegeben und den erhabensten Vorstellungen die intensive Realität des Alltags geliehen, so daß sie aufs neue überzeugend und geradezu überwältigend wirkten.
Das war wertvoll bei beiden, aber noch nicht das Wunder ihrer Kunst. Schillers Wort: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ trifft doppelt bei Künstlern zu. Rubens ist nur da ganz Rubens und Rembrandt Rembrandt, wo sie spielen. Und sie spielen mit Feuer, Rembrandt mit seinem Strahlen, Rubens mit seinem Lodern, der erste in der Nacht, der zweite am hellen Tage, beide kosmische Künstler desselben Elementes.
Das Strahlen durchfunkelt Rembrandts Bilder, und da zuckt das Wunder: die häßliche „Bathseba“ (Louvre) wird die Liebesverklärte, der Saul (Den Haag) der dämonisch Unheimliche, das Hundertguldenblatt erhebt eine Pöbelansammlung in einer Straßenecke zur Erhabenheit der Gottesnähe. Das Licht spannt jedesmal die Brücke zur Überwelt, um so stärker, als die Kontraste gesteigert werden: an Wunder glaubt man leicht in der Nacht. Rubens’ Flamme spricht nicht so augenblicklich, denn sie spricht im vollen Tage. Ihr Leben ist ja ihre Gewalt selbst, ihr Schwung. Davon sieht man nur den Ansatz. Dieser ist aber so stürmisch und der Sturm so reißend, das schräg Durchbrausen der Bildfläche so mächtig und so instinktiv richtungwählend, daß man das zu Erreichende erraten muß. Wo und worin dieser Lebensschwung auch anhebe, was er auch mitreiße: tanzende Bauern, stürzende Verdammte, hinfallende Gefährtinnen der Ursula, Triumphzüge und hundert andere Darstellungen... die Gewalt ist so überlegen, daß man überall dasselbe fühlt: hier geht es von Welt zu Welt, die Lebensgewalt entschleiert den Lebensgrund, das Leben ist gottbestimmt.
Feuer ist ein göttliches Element, die Götter, die Prometheus’ Raub straften, wußten es. Blut ist Feuer, und Flamme ist Flügel. Wer Blut entzündet, soll nichts weiter tun: Brand wird ja folgen. Warum sollte Inhalt einen Sinn geben demjenigen, dem an sich mehr Sinn innewohnt als dem Inhalt selbst? Schwung und Lodern sagen Herrliches und Überweltliches genug. Ist dem nicht ebenso mit Hölderlins Hymnik? Jedes Gedicht ist ein Lodern. Lodern hat keine Architektur und läßt sich nicht messen durch kleine Menschenhände. Es ist in der Macht der alleinigen Hand, die Feuer handhaben kann. Es braust das Einfache und Allessagende:
Zu euch! Zu euch!
(Hölderlin)
Rubens braust wie eben dieser Vers, und wo das Leben braust, ahnt man alles, was das immer schimmernde Wort Mystik uns zuraunt. Aber Memling vertritt für die Mystik die geläufige Ansicht, wie ich sie früher erwähnte. Darauf kann ich nur ehrlich sagen: erstens – in fast leb
loser Stille kann ich keine Mystik fühlen, zweitens – auch Ruusbroec nennt Gott den stillen Sturm, drittens – eine Kunst, welche auch den Tod und die Hölle brausen macht, ist mystisch orientiert. Wer den Tod beschwingt, beschwingt noch mehr das
Leben, und dem höchsten Leben wird am besten durch Leben gedient und gehuldigt.
Ich schließe diese flüchtigen Betrachtungen über Wesensbedeutung und Weltort der Flämischen Kunst mit einem Vers von Hölderlin. Alle Deutschen kennen die Ilmenauer Verse Goethes:
Über allen Gipfeln ist Ruh...
Ich bewunderte diesen Vers lebenslang. Kennt jemand einen noch schöneren Vers Hölderlins? Ich wenigstens habe ihn erst in letzter Zeit, irgendwo bei Hölderlin, staunend gelesen, da er fast denselben Wortlaut hat:
In allen Wipfeln rauscht’s...
Das ist ein Vers, der haften bleibt. Ist das nicht schön, nicht wahr, nicht nordisch? Überschreibt es nicht van Eycks Lenzesrausch, Rembrandts Blitzen in der Nacht, Rubens’ Stürmen in der Sonne, Beethovens fessellose Schlußsätze der fünften, siebenten, neunten Symphonie, Wagners Walkürenritt und Feuerzauber? Sie brausten! Sie waren Gipfel!
Nach ihnen kam für uns die Leere. Holland starb fast hin in Reichtum und Flandern in Armut. Fettpolster und Knochendürre taugen nicht zum Weltergreifen: das Haus wird die Lebensmitte, wo man es sich bequem macht oder den Rest seiner Wärme rettet; auch die Religion wird Zufluchtsecke statt Ausmündung des Geistes.