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Cui Bono?

Von Salih Brandt

Die Moskauer Geiselnahme vom 24. Oktober 2002

Eine höchst interessante Analyse der tatsächlichen Hintergründe der Geiselnahme in dem Moskauer Musical-Theater von Ende Oktober d. J. ist uns vom Sprecher der tschetschenischen Vertretung in Istanbul und zugleich Direktor von OSPREA (Office for Stratetic and Political Research) zugegangen.

Es scheint auf den ersten Blick so zu sein, daß die Ereignisse in dem Moskauer Theater eine weitere Zurschaustellung der handfesten tschetschenischen Taktik sei, die die Russen zurück an den Verhandlungstisch zwingen soll. Dies war der Fall im Schlußteil des Krieges von 1994–1996, als Schamil Bassajew der Durchbruch gelang bei seiner Geiselnahme von 2.000 Menschen im Krankenhaus von Budjonnowsk, die zu direkten Verhandlungen mit dem damaligen Premierminister Viktor Tscherno
myrdin führten. Damals wurde keine der Geiseln von den Tschetschenen getötet.

Saudischer Wahhabismus gegen tschetschenischen Sufi-Islam

Jedoch hat sich die Zeit weiter bewegt und wir leben in einer politisch sehr anderen Welt. Der Krieg zwischen 1994 und 1996 wurde von den Tschetschenen gewonnen, die fest an ihrem Hintergrund der Sufi-Tariqas1 festhielten. Sofort nach dem Krieg erlebten wir einen schnellen Zufluss vom Geld der Wahhabiten2, Personal (in Form von fundamentalistischen, ausländischen Muslimen) und neuen Lehren. All dies wurde von Saudi-Arabien zur Verfügung gestellt und geliefert. Diese dreijährige Periode zwischen dem Ende des letzten Krieges und dem Ausbruch des jetzigen war eine der beispiellosen inneren Auseinandersetzungen und des Konflikts in Tschetschenien, der die Gesellschaft auseinander riß, als die Wahhabiten ihre Doktrin und ihre hartnäckige Anti-Sufi-Interpretation des Islam den Leuten aufzwingen wollten.
1998 erlebte man einen Anstieg der Aktivitäten in Daghestan unter der Führung der Saudis Schaikh Umar und Schaikh Bahauddin, was später zum Krieg von 1999 führen sollte. Ein integraler Faktor in diesem Krieg, wie er jetzt allgemein verstanden wird, waren die Machenschaften der Ölfirmen in der Region, die, nachdem die Pipeline von Baku nach Stupsa im Süden des Kaukasus eröffnet wurde, Präsident Maschadow von Tschetschenien zu überreden suchten, die Erdölleitung in seinem Land zu schließen. Nachdem diese Anfrage abgelehnt worden war, sollte es nur eine Frage von Wochen sein, bevor eine Gruppe von Wahhabiten unter der Leitung der beiden saudischen Schaikhs die Ölleitung in Tschetschenien in die Luft jagte. Dies war der erste „Terrorakt“, für den die Tschetschenen beschuldigt wurden und der schließlich die zweite russische Invasion im Dezember 1999 auslöste. Schaikh Umar wurde anschließend verhaftet, aber – seltsam genug – nicht in Rußland vor Gericht gestellt und eingesperrt, sondern den saudischen Behörden übergeben.

Kein Islamismus

Während des letzten Jahres haben sich die Tschetschenen in ständig steigendem Maße vom arabischen Einfluß wieder entfernt. Diese Entwicklung kulminierte in der Ermordung der wichtigen militärischen Figur des Saudis al-Khattab, was im Frühjahr dieses Jahres geschehen ist. Seitdem haben sich die Tschetschenen hinter ihrem Präsidenten, Aslan Maschadow, und dem Chef des Generalstabes, Schamil Bassajew, versammelt. Beide haben ausdrücklich und erkennbar alle Verbindungen mit islamistischen Elementen in Tschetschenien gekappt und Maßnahmen ergriffen, daß all solche Individuen aus dem Land entfernt werden.
Die jüngsten Ereignisse in Moskau müssen deshalb vor folgendem Hintergrund betrachtet werden: der Zusammenbruch der Wahhabi-Doktrin in Tschetschenien, der schwächelnde „Krieg gegen den Terror“ der USA und das Mißfallen der Vereinigten Staaten über Rußlands Widerstand gegenüber ihren Irakplänen.
Der vorgeschlagene Krieg gegen Irak, unabhängig davon wie betäubend die Wiederholung der Phrasen „Massenvernichtungswaffen“ und „Krieg gegen Terror“ auf die westliche Bevölkerung auch sein mag, ist zweifellos der Versuch seitens der USA die Kontrolle der Ölvorkommen des Irak zu übernehmen und wird höchstwahrscheinlich von einer ähnlichen Invasion von Saudi-Arabien gefolgt werden. Rußland ist sich nur zu bewußt, daß eine US-Invasion des Irak Washington die Möglichkeit in die Hand gibt, dessen Rohölreserven zu kontrollieren und es widersetzt sich daher den US-Plänen. Seine Zustimmung ist im UN-Sicherheitsrat von Nöten. Eine Operation wie diese Moskauer Geiselnahme führte daher nur zur Stärkung der US-Ölpläne gegen den Irak.

Die Interessen der Öl-Industrie

Die Geiselnahme in Moskau wurde von Movsar Barajew geleitet. Er war der Neffe des verstorbenen Arbi Barajew, der verantwortlich war für die meisten Geiselnahmen in der Zwischenkriegszeit in Tschetschenien. Er und sein Neffe können am besten als „Mietgangster“ bezeichnet werden mit dem zusätzlichen Element, dass Movsar behauptete der „29. Selbstmordbrigade“ (von der man in Tschetschenien nie etwas gehört hat) anzugehören und Verbindungen mit den arabischen Wahhabiten zu halten. Die Tschetschenen Aslan Maschadow und Schamil Bassajew verneinten kategorisch, von der Operationen im Vorfeld gewußt zu haben und da beide am Wiederaufbau eines offenen Dialoges mit dem Kreml arbeiten, was in den letzten Monaten auch schon einige Resultate erzielt hatte, lief diese Aktion auch vollkommen gegen ihr Interesse und das ihres Volkes.
Das gleiche läßt sich (für diejenigen, die an eine Verwicklung des FSB3 denken) auch für die Russen sagen, da es sowohl ihre Fähigkeit, in Tschetschenien Frieden zu schaffen, schwächte, als auch ihre Argumente im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Sehen wir hier, zum zweiten Mal in dieser Arena, daß in der Stunde der Not die Wahhabiten der Ölindustrie auf mysteriöse Weise zu Hilfe kommen?

1 Als „Sufi-Tariqas“ werden Orden bzw. Bruderschaften bezeichnet, die wie Geheimbünde organisiert sind und deren Mitglieder oft nur dem einen oder anderen Clan angehören. Diese Sufi-Bruderschaften haben den tschetschenischen Islam seit dem 18. Jh. geprägt.
2 Radikale sunnitische Richtung des Islam, die insbesondere von Saudi-Arabien und dessen Herrscherhaus vertreten wird. Ihr Gründer Wahhab stellte sich im 18. Jh. gegen alle „fremden“ Einflüsse im Islam, insbesondere der empirischen Wissenschaften und des Sufismus, der islamischen Mystik, die er als christliches Element betrachtete. Im wahhabitischen Saudi-Arabien dürfen z.B. noch heute Frauen kein Auto lenken.
3 FSB: Ein russischer Geheimdienst, KGB-Nachfolgeorganisation.

 
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