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Kriegsgefangene und Zwangsarbeit

Von Alfred Schickel

Was man nicht erfährt

Auf die notwendige Differenzierung, mit der der Themenkomplex Zwangsarbeit betrachtet werden muß, wurde in der Neuen Ordnung schon mehrfach hingewiesen. Auch die neueste wissenschaftliche Literatur kann, selbst wenn der Autor links steht,  nicht umhin, jene Fakten zu nennen, die von den Medien so gerne unter den Tisch gekehrt werden. (Siehe unsere Rezension auf S. 29!) Weitere Beispiele, die nicht zu dem heute verbreiteten Bild passen, schildert in diesem Beitrag der Leiter der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt.

Wer heute von Sklavenarbeitern hört oder liest, denkt unwillkürlich an ausgemergelte KZ-Häftlinge oder geschundene NS-Deportierte. Die jahrelange Verdeutlichung dieser Bezeichnung in Wort und Bild läßt kaum mehr eine andere Vorstellung zu. Entsprechend ordnet sich für den  „festgelegten“ Zeitgenossen der verbürgte Bericht einer „Gruppe Arbeiterinnen“ wie selbstverständlich in die Zeit des „Dritten Reiches“ ein. Die mitfühlenden Frauen schreiben darin:
„Die ... Gefangenen, die auf der Eisenbahn beschäftigt sind, werden wie Sträflinge behandelt. Sie werden wie die Hunde geschlagen und schlecht ernährt. Das bricht uns Frauen und Müttern das Herz, denn wir sehen, daß diese Männer vor Hunger sterben.“ Und weiter: „Obwohl es uns selbst an Brot fehlt, können wir nicht anders, als ihnen von Zeit zu Zeit, wenn der Zufall es gestattet, Brot zuzuwerfen. Sie stürzen sich darauf wie ausgehungerte Tiere.“ Aber: „Die … Wächter behandeln sie roh, nur wegen eines Bissens Brot.“ Um schließlich ihren Adressaten zu beschwören: „Wir hoffen, daß Sie in dieser Angelegenheit einschreiten werden, um ihr Los zu verbessern.“ Denn: „Wir haben deswegen schon an mehrere Stellen geschrieben, leider aber ohne jeden Erfolg.“
Für den Leser dieser Zeilen ein geradezu „klassisches“ Beispiel für Leben und Leiden von Sklavenarbeitern und zugleich ein Zeugnis moralischer Verpflichtung zu Wiedergutmachung. Erdrückender Beleg für die zu sühnenden Unmenschlichkeiten, geliefert von den eigenen Landsleuten, die sich noch ein Maß an Mitleid und Barmherzigkeit bewahrt hatten.
Freilich nicht in einem deutschen Staats- oder Firmenarchiv überliefert, sondern als „Annexe“ zu den „Actes de la Conference de la Paix“ von 1919–1920 in Paris; und nicht an eine deutsche Autorität gerichtet, sondern an Ministerpräsident Georges Clemenceau.
Die Schreiberinnen waren nämlich „Arbeiterinnen von Saint-Etienne du Rouvray“, einem Städtchen in der Nähe von Rouen, und schilderten unter dem Datum des 15. Februar 1919 die schier unerträglichen Arbeitsbedingungen der „deutschen Gefangenen“ („prisonniers allemands“) auf der Eisenbahn („qui travaillent sur la voie ferrée“). Verabreichte Prügel („battus comme des chiens“) und Hungerrationen („pas nourris“) machten sie zu wahren „Sträflingen“ („forcats“) und ließen sie sogar daran sterben („car nous voyons que ces hommes meurent de faim“). Tatbestände, die der aktuellen Vorstellung vom Schicksal der NS-Zwangs- und Sklavenarbeiter weitgehend entsprechen und die den Unkundigen die geschilderten Verhältnisse daher fast wie selbstverständlich auf einer reichsdeutschen Arbeitsstelle vermuten lassen.
Fast hält es der zeitgenössische Beobachter darüber kaum mehr für möglich, daß die barmherzigen Arbeiterinnen von Saint-Etienne zwischen 1939 und 1945 deutsche Nachahmungen fanden und sich die Szenen von 1919 zwanzig Jahre später vielfach wiederholten. Und zwar nicht selten unter ungleich gefährlicheren Umständen; herrschte in jenen Jahren doch ein diktatorisches Regime im Reich und stellte allzu freundlichen Umgang mit „ausländischen Arbeitskräften“ unter Strafe. Die vertraulichen „Berichte der Regierungspräsidenten 1933– 1945“ über das Verhalten der Bevölkerung gegenüber den Kriegsgefangenen und „Fremdarbeitern“ vermitteln ein aufschlußreiches Bild. Danach hielt man sich beispielsweise vielerorts auf dem Lande nicht an die Vorschrift, beim Kirchenbesuch auf die „vollkommene Trennung der Gefangenen von der Zivilbevölkerung“ zu achten, sondern besuchte gemeinsam „den allgemeinen Gottesdienst“. Das habe dazu geführt, „den nötigen Abstand gegenüber den Gefangenen zu vergessen“ und sich „mit ihnen gemein zu machen“. In einem bayerischen Landkreis wurden laut „Regierungsbericht“ sogar „polnische Kriegsgefangene in die Wirtschaft mitgenommen und zechfrei gehalten“. Und mit ihrer Bewachung nahm man es auch nicht sonderlich ernst, trug es sich doch zu, daß „die in der Turnhalle untergebrachten Polen von Kindern von der Arbeitsstätte ins Lager zurückgeführt wurden“, wie der besorgte Ministerialdirigent der „Regensburger Bezirksregierung“ an die Staatsregierung in München meldete. Mitmenschlichkeit und der gemeinsame katholische Glaube erwiesen sich letztlich stärker als so manche bürokratische Anordnung „von oben“. Mit der Folge, daß die totalitäre Obrigkeit zuweilen ihre deutschen Volksgenossen und die ausländischen Arbeitskräfte gleichermaßen mit Strafmaßnahmen einzuschüchtern suchte, um sie zum gewünschten „Abstand“ zu bringen. Etwa bei der „Neigung der Bauern, an den abgeschafften Feiertagen (Fronleichnam, Peter-und-Paul-Fest) nicht zu arbeiten und auch die ausländischen Arbeitskräfte feiern zu lassen“, die „Wegnahme der Kriegsgefangenen und ausländischen Zivilarbeiter“ anzudrohen, „falls diese an solchen Tagen nicht zur Arbeit eingesetzt würden“. Daß auch diese „Trennungsversuche“ Einheimische und „Fremdarbeiter“ nicht ganz auseinanderzubringen vermochten, gesteht der „Regierungsbericht“ vom November 1942 ein. Er bescheinigt dem in Oberbayern „herkömmlichen Leonhardi-Ritt“ eine „sehr große Anzahl Zuschauer“ und notiert sodann: „Die Pferde wurden meist von jungen Burschen geritten. Nachträglich wurde in Erfahrung gebracht, daß sich an dem Ritt auch ein polnischer Zivilarbeiter beteiligte, der das P-Abzeichen nicht trug und deshalb unerkannt blieb.“ Ein serbischer Kriegsgefangener hatte sogar „ein Pferd seines Dienstherrn zu diesem Zweck mitgebracht“, vermeldet der Bericht weiter. Was den „staatlichen Lauschern“ und ihren Spitzeln entging, waren die vielfältigen menschlichen Aufmerksamkeiten, die man sich in Haus und Hof auf dem Lande erwies. Sie reichten von persönlichen Geschenken zu Geburts- und Feiertagen über die Beteiligung am Familien- und Gemeinschaftsleben bis zur Versorgung in Krankheitsfällen. Ein Umgang, der manchmal bis zur Entscheidung des „Ostarbeiters“ führte, nach dem Krieg auf eine Rückkehr in die „sowjetische Heimat“ zu verzichten und sich im Westen eine neue Existenz aufzubauen.
Wie etwa der im Gefangenenlager („Oflag“) Murnau internierte polnische Offizier Porucznik Pfaffenhofen-Chledowski, der sich schließlich in Koblenz niederließ und der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI) von einem denkwürdigen „Sonderurlaub“ zur Teilnahme an der Beerdigung seines Vaters berichtete. Oder der nachmalig bekannte Maler Marian Bohusz-Szyszko, der in London zu Ruhm und Ansehen kam und während des Krieges in verschiedenen Lagern der Wehrmacht gefangengehalten war. Sein vorliegendes Zeitzeugnis über die Jahre von 1939 bis 1945 hebt sich auffallend von den verbreiteten Versionen über die Kriegsgefangenen in deutschem Gewahrsam ab. Ihm zufolge war „paradoxerweise die Zeit der Gefangenschaft eine der schöpferischsten seines Lebens“, konnte er doch „etwa 400 Portraits mit Bleistift und in Öl malen, da sich die deutschen Behörden diesen Tätigkeiten niemals widersetzt hätten“. Folgerichtig pflegte der 1901 in der Nähe von Wilna geborene und 1939 in deutsche Gefangenschaft geratene Künstler auch nach dem Krieg freundschaftliche Beziehungen zu deutschen Zeitgenossen und warb für eine deutsch-polnische Verständigung.
Anatol I. Zverev aus Leningrad durfte während der Kriegsgefangenschaft sogar an der Universität Berlin studieren und machte später bei der „Westinghouse Electric Corporation“ in Baltimore/ Maryland Karriere.
Lebensläufe, die zwar nicht exemplarisch für ihre Landsleute waren, die jedoch auch zur Wirklichkeit der Geschichte gehören und angemessene Erinnerung verdienen.

 
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