Anlaß zur Wahl dieses Themas war das Erscheinen eines Buches unter dem Titel: Ein Jahrtausend deutscher Romantik. Doch mit der Romantik als solcher sich zu befassen, würde einen viel zu umfangreichen Stoff ergeben, es geht also nur darum, wie Deutsche und Franzosen sie erlebten. Ein Strom – zwei Strombetten! Das Faß gibt der Flüssigkeit die Form. Der Unterschied ist hier wirklich so tiefgehend, daß er mich von dem vorhin genannten Titel träumen läßt: Tausend Jahre deutsche Romantik! Das ist vielsagend!
Tausend Jahre Leben bei dem einen Volk – und bei dem anderen der Untergang nach fünfzig Jahren! Das bedeutet eine Wesensverschiedenheit zwischen den beiden Völkern. Sie haben verschiedene Seelen. Die Geister unterscheiden sich nach ihrer verschiedenartigen Einstellung. In meiner Vorlesung „Raffaels ‚Disputa‘ und van Eycks ‚Lamm Gottes‘“ deutete ich ausführlich auf diesen großen Unterschied in der Auffassung der nordischen und der südlichen Seele hin.
Es bedeutet besonders für die Romantik, daß sie aus der Fremde nach Frankreich hineingeweht war und stets fremd blieb. Nicht aus eigenem Boden gewachsen, stimmte sie nicht mit der eigenen Volksart überein; Unnatürlichkeit, Verschrobenheit waren ihre Kennzeichen. Es war Mode und keine Natur. Wie es mit der Mode ist, lebte auch sie auf – und erstarb wieder; erst viel Geschäftigkeit, Gelärm und Glanz und danach ein plötzlicher Zusammenbruch.
Ein glänzendes Äußeres blendet zuerst und verblüfft, bleibt aber trotzdem oberflächlich und spektakulär. Spektakel gefällt Anfängern und Blasierten des Lebens; wer das volle Leben tragt und liebt, erschaudert vor der Gewalt des Scheines. Mit Wasserblasen labt man sich nicht, man wäscht sich nicht einmal damit. Was man wegen des Spektakels sagt, sagt man für die anderen und wegen der Launen der anderen, aber nicht aus sich selbst, aus dem Zwang des inneren Lebens heraus. Doch alsbald kommt eine vernichtende Reaktion. Der Genius des Volkes schüttelt grinsend den bunten Mantel ab, der seinen Gang hinderte. Nachdem er herunterfiel, erkennt er sich und lacht sich selbst aus, wieso er jemals auf solche Art aufgeputzt sein konnte! Ein Kleid war es, aber auch eine Zwangsjacke. Damit lag der französische Geist in Ketten, sein Genius entartet, das eigene Wesen konnte sich nicht entfalten. Weg also! Weg?
In Deutschland sang die Romantik die Gesänge der Heimat. Sie klingen vertraut und eigen. Da verblüfft nichts und macht nicht einmal eine Sensation. Die Dichter denken nicht, daß sie etwas Besonderes tun, und benutzen durchaus keine hochtrabenden Worte. Der erste Eindruck ist lange nicht so glänzend, doch der Ton ist echt und dringt durch; nichts geht davon verloren. Die Melodie erscheint uralt; horcht man lange hin, lauscht man immer tiefer; das Horchen geht in die Tiefe; die Melodie klingt aus den Dingen auf, ist fest mit ihnen verwachsen, erschüttert vom Wesentlichen. Öffnet sie sich auch nicht so weit – sie öffnet sich doch bis zum Grunde. Sie ist Natur!
Gegen Natur gibt es keinen Widerstand; kommt er doch, dann zerstiebt er wie Sand, und die Natur singt weiter, gleich dem Vogel, der sein Lied schmettert, an dem alle Geschlechter sich ergötzen. Kein Programm, kein Manifest für diese Art des Gesanges! … Wer sie am meisten verspottet, ist am meisten von ihr besessen. H. Heine ist der echteste Romantiker! All seinen Ruhm verdankt er nicht seinem Spott, sondern seiner Romantik.
Folgen auch andere Strömungen auf den eigentlich als romantisch bezeichneten Zeitraum, sie wenden sich nicht dagegen, sondern folgen ihm in ihrer innerlichsten Art. Hier zieht die ewige Romantik ein anderes Gewand an, aber sie bleibt dieselbe. Richard Wagner hat nur die uralten romantischen Brunnen wieder geöffnet, und sie wogen wie Flutwellen über alle germanischen Völker. Wie kommt das? Weil die Romantik die Stimme einer Rasse ist. Deutsch und nordisch war und ist sie. Jahrhunderte um Jahrhunderte folgte sie dem Leben der nordischen Völker und ist dabei und überdies noch fest verbunden mit einer der möglichen großen Einstellungen, die gegenüber dem Leben eingenommen werden können.
Diese Bestimmung ist wohl etwas schulmeisterlich abstrakt und allgemein und bleibt es auch, wenn man Alleinherrschaft durch das übliche „Vorherrschaft von ungezügelten Gefühlen“ ersetzt. Das Gefühl ist immer vorherrschend und ungezügelt gewesen in all den großen lyrischen Augenblicken der Welt. Wie sollte es auch anders! Trifft die höchste Macht der großen lyrischen Bestimmungen einen echten Künstler, muß sich das Gefühl hemmungslos entladen. Hiobs Rede zu Gott am Schluß seiner Zwiesprache mit ihm war ungestümes Gefühl, auch der ganze Liebesrausch des „Hohen Liedes“, die Melancholie des „Ecclesiasten“, das Erhebende und Niederdrückende in den Psalmen, die Berufung auf Gott in den griechischen Chören, Lucretius’ kosmischer Zorn, Catullus’, Tibullus’ leidenschaftliche Begeisterungen … und so bricht durch die Jahrhunderte in all den größten und schönsten Kunstwerken unter dem Peitschenschlag des grenzenlos Größeren das Gefühl durch. Beherrscht zu sein in der gewaltigsten Erschütterung, dürfte unwahr sein.
Das ist eine ganz normale Erscheinung, bei der nicht die geringste Romantik zu finden ist, wenn Romantik als etwas Besonderes angesehen werden soll. Aber es kann sich auch etwas anderes ereignen.
Das Gefühl kann – nicht nur in den großartigen Stunden des Lebens, sondern fortwährend – die Seele beherrschen, sie immer wie in Stromschnellen weiterjagen und sie aus sich selbst sich ergießen lassen; ein immer donnernder Niagarafall, ein jahrelang anhaltender Sturm. Dann bleibt die Seele ununterbrochen nach dem gewaltig Großen ausgerichtet, das mit ihr spielt wie der Wind mit einem Blatt.
Immer fortdauernde Gewalt ist jedoch anormal; Rührung kann Zerrüttung werden, das immerwährende Vorherrschen des Gefühls kann zu einem bleibenden Bruch des Gleichgewichtes führen: Ruhe wird dann unmöglich, das Hetzen zu einer Notwendigkeit, Fieberhitze zur gewöhnlichen Lebenstemperatur. Die Seele ist aus den Fugen geraten. Der Zustand ist erzwungen und schmerzvoll, aber nicht unnatürlich. Es liegt immer in der Art der großen lyrischen Werke, zu erschüttern. Was sollen sie auch von ihrer Natur aus anderes tun, als zu erschüttern, sie, deren Namen neben anderen lauten: Gott, Natur, Tod, Leben, Liebe ... Und sie sind nicht fremd, sondern ganz vertraut, sie beherrschen das Leben, also das Leben eines jeden. Jede Zeit birgt sie in sich. Manchmal bleiben sie bewegungslos wie unsichtbare Saaten, manchmal schießt ein ganzer Wald aus ihnen auf und überschattet eine ganze Zukunft.
Worin besteht nun dieses „manchmal“? – In der Beschaffenheit des Bodens. Die Saat ist immer und überall da, aber der geeignete Boden nur hier und da. „Der Boden ist das Entscheidendste“, dies ist in wenigen Worten der Sinn des Gleichnis Christi vom Sämann.
Nachdem er lange brachgelegen hat, wird er umgewühlt und warm von den Strahlen der Sonne, die ihn durchdringen. Man spürt es, wenn nah und fern die Saaten aufbrechen. Zur gleichen Zeit schießen sie in weit abgelegenen Ländern auf. Wie kommt das? Durch geistige Wechselwirkung? Durch Befruchtung von Völkern durch Völker? Das sind unsere üblichen Annahmen für gleichzeitig entstehende Lebensformen. Sie sind nicht begründet. Weitherrschende, übervölkische Kräfte haben aus der Ferne gewirkt. Das Gebot an den Frühling schallt von oben, und ganze Weltteile gehorchen auf einmal. Konfuzius (551–479), Buddha (560–480), Aischylos (525–456) wissen nichts voneinander, und sie vollziehen doch im gleichen Augenblick eine gleichartige Neugestaltung ihrer jeweiligen Religionen. Der Sämann sät die seelische Unruhe, die zu solchen Taten zwingt, von den Sternen aus, aus dem Reich der Sterne. Das ist das Reich der Ideen und der Gnaden.
Zwischen 1750 und 1850 wurde die Romantik keine Krankheit, sondern eine europäische Epidemie. Was säte sie von dort oben?
Über ganz Europa war ein anderes Lebensgefühl gekommen. Galileis, Newtons, Keplers Entdeckungen hatten die Erkenntnis von der Welt verändert: Der Mensch bewohnte nun keine große Insel mehr, von einem Wall von Ozeanen umgeben, sondern ein kleines Bällchen, an allen Seiten von Abgründen umgeben. Alle Maße, die er nun fallen ließ, sanken ins Verlorene. Alle Zahlen, die er dahin aussandte, kehrten stumm daraus zurück. Er fühlte die Unendlichkeit, er fühlte sein eigenes Leben und Schicksal mit einer ganz anderen Hand. Gott wurde größer, aber ein wenig schemenhaft; die Natur erwuchs zu solcher Größe, daß sie die Persönlichkeit ihres Schöpfers fast unvorstellbar machte; sie schien selb
ständig, das Leben fühlte sich in den furchtbaren Abgründen erzittern. Das Mysterium tat sich weit auf und wurde hundertfach unergründliches Mysterium; die Helle wurde zur Nacht. Kein Wissen kann es ergründen. In den Abgrund sendet man keine Gedanken aus, sondern Träume. Gedanken wollen ein Ende, und es gibt kein Ende; Träume wollen weiter – und das ist immer möglich. Wie sollen Träume den Abgrund ermessen? Mit der Maßlosigkeit ihres Grauens, ihrer Ehrfurcht, der Bewunderung und Anbetung, mit ihrem grenzenlosen Erbeben. Ein zitternder Stern in der endlosen Nacht, zitterndes Herz in den es umgebenden Abgründen, ein Bröckchen Leben in dem unendlich scheinenden Tod, kaum spürbares Klopfen des Ich inmitten einer unpersönlich-schweigenden Stille. Gefühl des Unendlichen, unfaßbar und einziger Besitz, erhebend und niederschmetternd, Strahl und Schleier der Welt, wie verloren und einsam, wie umgeben von ungeheuren Nachbarn machst Du uns!
Pascal war sich als einer der ersten dieser kosmischen Erschütterung bewußt geworden. Er hatte sie bebend ausgesprochen, und seine Worte waren still geworden vor eigener Gewalt. Nicht das Übereinstimmen der neuen Weltall- und Lebensanschauung mit der eigenen Art, sondern eher der Zusammenstoß mit ihr in einem kristallhellen und -harten Geist brachte das Blitzen in seine „Pensées“! Pensées! Keine Pensées (keine Gedanken), sondern Blitze des Gefühls, Ideen, zu denen das Denken nie imstande gewesen wäre. Nach Pascal erkannte niemand mehr klar das Gefühl, das ihn bedrängte. Doch ging das neue Gefühl des Lebens seinen Gang weiter, drang immer weiter durch, in sich selbst nicht erkennbar, wohl aber in seinen Wirkungen. Die Sehnsucht nach weiten Reisen, nach wilden, einsamen Berglandschaften mit weiten Fernsichten, das Aufsuchen der Einsamkeit, der Freiheit von Plätzen, wo man träumen kann – man schuf sie sich selbst in den „Englischen Gärten“, aus denen Winkelmaß und Zirkel verbannt wurden und wo Hügel und Ebene, Weide, Wasser und Wälder Ecken der Überraschung schufen, Weitsicht, Verborgenheit, Freiheit, Traum. – Die Vorliebe für das Werdende und Verfallende, für Frühling und Herbst gegenüber dem Sommer; der Winter findet Gnade, weil seine Nacht, Finsternis und Tod auch die Phantasie mitreißt. Das Klopfen eines Herzens, die Seufzer einer Seele, die Tränen eines Augenpaares offenbaren das einzig Wichtige für den Menschen: sein Wohnen im Weltall! Aus der Tiefe seiner Leidenschaft, mit der Torheit seiner Unruhe, mit der Größe in seiner Kleinheit, so klein zu sein in solcher Großartigkeit, spricht der Mensch von der Unendlichkeit. Es lohnt sich, nach dieser Unendlichkeit zu lauschen. Politik, Geschichte, Herrscher... wie klein sind sie alle.
Kernworte waren sie beide, aber wie verschieden!
Das erste schwingt sich lachend auf und brandmarkt eine Modekrankheit mit ihrem Namen, das andere erhebt ein tiefes Gefühl des Menschen in die bleibende Ewigkeit. In dem einen knistert und zuckt schon das, was die französische Romantik mit grellem Auspfeifen vertreiben wird, im anderen rauscht und dröhnt, was dem Deutschen ein Lied für alle Jahrhunderte ist.
Unmittelbar nach dem großen Umbruch brach die französische Romantik endgültig aus. Als Reaktion gegen den Umbruch? In jedem Fall nicht als Fortsetzung von Rousseau. Die unumschriebene, schwankende Religion, die wie ein glänzender Nebel die Fernen erblauen läßt, wächst nicht aus den Ideologien des Vicaire Savoyard, sondern stammt direkt aus der Natur.
Chateaubriand „saugt“ Gott aus der Natur wie eine Biene den Honig aus der Blume. Nicht auf Blumen schwebt er, wohl aber über allem Großen in der Natur, das von dem Großen kündet. Sein Werk, selbst seine Sätze erstrecken sich weit wie der Horizont einer Waldlandschaft. Auch über die Religion und ihre Geschichte schwebt er und entnimmt ihr ihre Schönheit. Unmittelbar erlebt, bleiben sein Gott und seine Religion auch schwankend, aber nicht falsch. Um Lehrstoff und Lebensregeln werden zu können, haben sie dringend das Lehramt der bestimmenden Kirche nötig, aber sie sind echte Grundlagen, mit weiten, umfassenden Griffen zusammengetragen. Chateaubriand schreibt in großlinigen Sätzen, sich selbst verratend, gleichen sie auch ausgebreiteten Adlerflügeln. „Atala“, „René“ könnten englische und deutsche Väter haben, „Les Martyrs“ könnte ein Wettstreit mit Milton und Tasso sein; fremder Einfluß ist sicher vorhanden, aber steht Chateaubriand vor seinem Meer oder seinen Mississippi-Landschaften oder vor den Weiten seiner Religionsgeschichte –, dann sieht er mit eigenen Augen und sieht so groß damit, so groß, wie das ihn zwingende, aber nicht bewußt gewordene Weltgefühl ihn treibt. „Les déserts ont pris de notre culte un caractère plus triste, plus grave, plus sublime; le dôme des forêts s’est exhaussé; les fleuves ont brisé leurs petites urnes pour ne plus verser que les eaux de l’abîme … le vrai Dieu, en rentrant dans ses oeuvres, a donné son immensité à la nature“ (Le Génie du Christianisme). Es kann wohl auch anders herum sein: Unser Wissen von der Maßlosigkeit des Abgrundes der Natur hat uns das Gefühl der Unendlichkeit des Schöpfers erst lebendig werden lassen und uns mit Ehrfurcht erfüllt.
Die Vertiefung des Gefühls durch die erweiterte Kenntnis lebt in ihm; er wußte es nicht. Was er wohl wußte, war, daß es dem Leben eine religiöse Färbung gab. Und das tat er nicht nur bewußt, sondern systematisch. Das Unendliche, der Kern aller Religiösität, ist aber der Körper und kein Kleid. Kunst weiß nicht, was sie tut; sie folgt der Beseelung, der Kraft des Inneren, dem dunklen Gefühl, aber schafft Wesen.
Lamartine ist ein Chateaubriand in Versen, aber ein Dichter mit wunderbar reichen Anlagen. „L’homme n’enseigne pas ce qu’inspire le ciel,“ ein Dichter, der nicht zu lernen brauchte, der durchaus keine Kunstfertigkeiten erwerben mußte, seine Kunst war Können aus der Natur heraus. Seine Gabe wallt, fließt, strömt wie Wasser – nein, wie Luft. Das Wasser ist in seinem Lauf noch zu gebunden; als Luft strömt, weht, reibt, dampft, schwingt sie spielend, schwebend, schmeichelnd durch die Natur. Schweben und formlos sich ins Endlose verlieren, schien sein eigenes Ziel..
Que ne puis-je, porter sur le char de l’Aurore,
Vague objet de mes voeux m’élancer
jusqu’a toi!
Sur la terre d’exil pourquoi reste-je encore?
Il n’est rien de commun entre la terre et moi.
(L’Isolement)
„Vague objet“ … Vages Objekt, unklares Objekt, was ist das eigentlich? Groß und überwältigend? Das „Unendliche“ wird für den Menschen als etwas Natürliches gefordert.
Borné dans sa nature, infini dans ses voeux,
L’homme est un dieu tombé qui se souvient des cieux.
(L’Homme)
Aber ist das „Unendliche“ ein Klischee oder wohl das wesentlich Endlose, sinnlich als solches erfühlt? Jedenfalls gebärt es wenig suggestive Bilder. Das Stück „Les Etoiles“ muß aus seiner Art solche Gefühle zum Durchbruch bringen, und sieh: bei dem Vers:
„Souvent pendant la nuit, au souffle du zéphire,
On sent la terre aussi flotter comme un navire ...“
bebt man trotz des süßen Zephirs. Da haben wir das Gefühl in einem direkten Bild: die Erde im Weltall schwankend wie ein Schiff auf dem Meer.
Doch meist, wie in den fast endlosen wiegenden Strophenreihen von „Il est une langue inconnue“ (es ist eine unbekannte Sprache) oder „Vois sur les mers“ (Sieh auf das Meer), geht es um die Entfaltung der dichterischen Seele, aber das Echo des Unendlichen hören wir nicht; wir gleiten über den prächtigen Glanz der Bilder, aber wir versinken nicht darin.
„La poésie sera de la raison chantée“ (Die Poesie wird die gesungene Vernunft sein), so verkündet es uns der Dichter selbst in seinen „Destinées de la Poésie“.
Ja, das macht der französische Genius: zu den Ideen gehen. Zum unmittelbaren und daher konkreten Erfühlen der Natur kommt er so selten. Auf einen gewöhnlichen Eindruck, einen erkannten Gedanken, ein scharf umrissenes Gefühl baut er die zweite Etappe der Poesie auf, mit den Wolken als Grundlagen. Dabei schafft Lamartine freilich mit der ganzen Macht seines ihm arteigenen Genies und bringt wahre Meisterstücke zarter, sangbarer Melancholie und Grazie wie „Le Lac“ und „Le Crucifix“ hervor.
Und Victor Hugo, der Poseur als Denker,
„Que savons nous? Qui donc connaît le fond des choses?“
(Le Crapaud)
gibt er uns das Gefühl von der Tiefe der Welt, des Lebens, des Schicksals? Das am wenigsten. Als Denker bringt er es nicht weiter als zu der Antithese und erreicht nicht das echt Paradoxe, das eine endgültige, notwendige Antithese ist, in natürlicher Weise sich verbindend und schöpfend. Antithese kann, gleich welche, wie eine aufeinandergestoßene Schar Nachteulen sein, paradox ist eine Verbindung von Gedanken, die so verschieden wie Mann und Frau sind, aber zusammen ein Lebensgrundsatz werden. Der Denker Hugo zeigt uns nur ein Spiel verblüffender Zufälligkeiten, aber er vermag es, eine eigene Welt zu schaffen, eine Wirklichkeit des Traumes. Sie ist sonderbar fremd, phantastisch, selbst ein wenig töricht, aber sie besteht. Wenn er vor dem eigentlichen Thema der Romantik steht, der Empfindung des Unendlichen – z.B. in „Les Contemplations“ VI „A la fenêtre pendant la nuit“ –, dann schöpft seine Vorstellung aus der Unendlichkeit gewaltige Bilder.
Nuits, serez-vous toujours pour nous ce que vous êtes?
Pour toute vision, aurons-nous sur nos
têtes
Toujours les memes cieux? …
Ne verrons-nous jamais briller de nouveaux astres?
Et de cintres nouveaux, et de nouveaux pilastres
Luires à notre oeil mortel
Dans cette cathédrale formidable porches,
dont le septentrion éclaire avec sept torches,
L’effrayant maître-autel?
Sicher ist die Vorstellungskraft hier mächtig gewesen. Aber auch das Herz? Wäre das Herz die Macht dieser Verse, dann hätte seine unbezähmbare Unruhe ihnen einen ganz anderen Schwung gegeben: Nächtlicher Abgrund, du bist mir zu klein! Dann stünde man wahrlich vor dem wirklich Unendlichen, das alles Zahlenwerk überragt. Das massig Unendliche ist aber nicht das Unendliche. „La Cathédrale aux formidables porches“ ist für das Herz schließlich doch ein kleines Bild. Einen Blankenberger Fischer fragte ich einstmals: „Aber was fühlt Ihr auf hoher See, wenn’s stürmt?“ Und er antwortete: „Dann sage ich ‚Kleines Meer, großer Gott!‘“ Das war der Sprung ins Unendliche.
Bei Georges Sand und de Musset findet man ein anderes herausragendes Gefühl der Romantik: das Gefühl der Grenzenlosigkeit der Lebensmacht, sie nennen sie Oberherrschaft der Leidenschaften, und sie fühlen sich ebenso klein und machtlos auf ihnen treibend wie ein Stern am Himmelsabgrund. Georges Sand rechtfertigt sie als Tugend, ehe sie sie in ihren Romanen leben läßt: „Dans quelque situation une passion profonde nous place, jamais je ne croirai qu’elle soite éloignée de la veritable vertu“ (In welche Lage eine tiefe Leidenschaft uns auch bringen möge, nie werde ich glauben, daß sie von der wahren Tugend entfernt ist). Diese dogmatische Torheit ist auch in Hinsicht auf die Kunst zu bedauern; sie nimmt der Passion ihre teuflische Größe.
De Musset fühlt dies wohl mit der Maßlosigkeit seiner Machtlosigkeit und hat davon zitternd ihren wahren Charakter stöhnend hinausgeschrien:
„Mais si loin que la haine
de cette destinée aveugle et sans pudeur
Ira, j’y veux aller. J’aurais du moins le coeur
De la mener si bas que la honte l’en prenne.“
(Les voeux suriles)
und in dem berühmten Vers:
La mer y passerait sans laver sa souillure
Car l’abîme est immense et ta tache est au fond.
(La Coupe et les Lèvres, VI.1)
Auch in seiner Kleinheit kann man die Größe und in seiner Machtlosigkeit die Allmacht fühlen, mit der man in Verbindung lebt. De Mussets Müdigkeit, seine Erschöpfung und die Leere seines Lebens in den „Nuits“ geben auch eindrucksvoll das Gefühl von der gewaltigen Lücke wieder, die ein von Leidenschaft ausgebrannter Krater hinterläßt. Doch de Musset gelingt es nicht, diese Leere, diese Leidenschaft positiv zu schaffen. In „Rolla“ und „Lucia“ u.a. bricht er das Bild der Leidenschaft bereits am Anfang ab, um in Deklamationen zu verfallen, wie: „Oh, Christ, je ne suis pas de ceux que la prière …“ oder „Dors-tu content Voltaire …?
De Vigny scheint mir der einzige Franzose zu sein, in dem Pascals Gefühl für die Tiefe wieder auflebt. Sein Geist greift unerbittlich durch in all die Dunkelheiten, die er gewahrt, und er gewahrt fast nichts anderes, wie es sein Herz auch kränkt. Der Weg des Geistes zur Unendlichkeit geht durchs Herz. Wer es nicht wagt, sein eigenes Herz zu durchdringen, verzichtet auf den höchsten Weg des Menschen. Zwischen Geist und Gott steht nämlich das Herz.
De Vigny hat es gewagt, stoisch wie ein Japaner, der Harakiri vollziehen will. Sein Werk wird dadurch kalt, grausam und etwas trocken. Doch, was man auch gegen sein Werk sagen mag: eine Glocke ist es, die Tiefen der Unendlichkeit, die es ausgehöhlt haben, hört man widerdröhnen. Dröhnte er nur selbst mehr in ihm. Spränge sein Gefühl, warm und lebend, nur in die Tiefe wie Schillers einzigschöner nackter „Taucher“, wie vollendet romantisch wäre sein Werk! Er wäre Pascal-Dichter. Doch Pascal ist mehr Dichter als er. Pascal entkleidet sein Gefühl bis zur Nacktheit, so muß es auch stehen und zittern in der Nacht von „le silence éternel“. De Vigny umpanzert sein Herz und hält seinen Geist, in Verachtung gestählt, als einen Schild gegen Gottes „Schweigen“ hoch!
Seine Symbole bekommen daher dann auch scharfe Klarheit, mitleidloses Licht: Eloa, La Filte, La Mort du Loup, Moise, Le Mont des Cliviers usw. Hätte seine Phantasie mehr Farbe und sein Gefühl mehr Klang, hätte – mit einem Wort – sein Werk mehr Leben, dann wäre er der König der französischen Romantik und ein echter Romantiker überall, das heißt ein Schwimmer über dem Abgrund. Doch er steht nur: ein über den Abgrund Gebeugter, und die Tiefe bleibt für ihn eine Frage, sie wird kein Geheimnis.
Nur im Leben erwächst das Mysterium. Am Ende einer eher schwierigen, denn lebendigen Beschreibung von Paris ruft er: „Je ne sais si c’est mal, tout cela! Mais c’est beau“ – und geht dann daran, es zu beweisen, kleinlich wertend, kritisch menschlich. Wie läßt uns das kalt: Aber, wenn Goethe ungefähr dasselbe singt:
„Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gewesen,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön!
(Lynceus der Türmer)
dann sind wir mit dabei! Und das ganze Mysterium vom Licht unseres Lebens, von der Begeisterung, zu sein und zu sehen – oh, in dem am meisten Sichtbaren verbirgt sich am meisten das Mysterium! Probleme sind nur Geist, Mysterium ist Leben. Das Problem sieht man von ferne, das Mysterium fühlt man lebend, ganz in der Nähe; man packt das Problem an, das Mysterium packt uns an. Und doch reagieren die Menschen ganz anders auf das Mysterium des Lebens. Es gibt Seelen, die nach der unerklärlichen, unermeßlichen, dunklen Seite des Alls sich neigen, und es gibt Menschen, die eher und lieber der klaren, scharf umschriebenen, genau meßbaren Seite zuneigen. Es gibt einen Genius der Klarheit und einen Genius der Düsternis. Ein Schlag erschreckt die Seelen, je nach ihrer Art und ihrem Genius. Auch hier fallen die Bäume nach der Seite, nach der sie sich neigen.
Der französische Genius zeichnet sich aus durch Klarheit, Ordnung, Maß, Geist und geistreiche Form, die bündig und gedrängt dem Erfassen des Geistes dient. Nur wenige Dichter, reich mit Gefühl begabt, fühlten die Abgründe, die sich in der Romantik auftaten, aber sie blieben Einzelgänger. Und selbst jene, die zu den größten Dichtern gehören, welche Frankreich je besaß, vermochten es nicht, auf eigenen Füßen zu stehen und sich von ihrer nationalen Eigenart freizumachen. Dieser rasseeigene Genius hemmte das persönliche Genie und verhinderte es, rückhaltlos den Sprung in den Abgrund zu tun! Dies brachte unerträgliche Opfer für das Genie des Südens mit sich, wollte es wahr, wollte es lebendig bleiben. Das Unendliche zieht zwar von ferne an, aber hat man erst sein eigenes Leben hineingeworfen, und lebt man erst in ihm, dann lebt man in ihm auch mit der eigenen Ohnmacht gegenüber seiner Macht, mit dem Erfassen gegenüber seiner Unfaßbarkeit, mit der Ordnung gegenüber seinem nie zu ordnenden Chaos – deswegen lieber von ihm träumen, verschwommen nach ihm streben, sentimental um es weinen, es sofort in Gott leben als einen Kern ordnungsschöpfender Ideen, statt es selbst als Unendlichkeit zu empfinden. Also das Leben so wenig wie möglich mit ihm in Berührung bringen; die eigenen Leidenschaften im Zaum halten, ohne sie nach dem Abgrund rufen zu lassen; in Natur, Leben, Liebe und Tod nicht das ferne Gebrause gehört, das schrankenlose Rauschen ihrer Rhythmen. Nein, halbwegs in einem phantastischen Land eigener Schöpfung geblieben (Victor Hugo), in einem Triebleben voller Zerstreuung (Georges Sand und de Musset), in einem Träumen, durch keine Leidenschaft mitgerissen (Lamartine), in einem verzweifelten Denken, durch bitteren Mutwillen gehemmt (de Vigny). Hier an das Dort gedacht. Von ferne von der Ferne geträumt. See geblieben, um kein Meer zu werden.
In Deutschland, dem Land der Leidenschaft, der Macht der Musik, der Macht von all dem Strömenden, Stürzenden, Zerrenden, von „Schwärmen“ und „Sehnsucht“, da mußte die große Unruhe eine allgemeine Strömung zuwege bringen. Die Art der Erschütterung und die Geartetheit des Volkes verschmelzen miteinander. Keine Gewalttätigkeit, aber Gewalt; keine Absicht, sondern innerlicher Drang, kein Prahlen mit Formen und ruhmsüchtiges Großtun, aber Einfalt des Lebens und wirkliche Leidenschaftlichkeit. Die Sänger scheinen aus dem Gefühl von vielen zu singen und nicht auf eine Zuhörerschaft einzutrommeln, wo sie dann auch etwas Neues, Fremdes, Verblüffendes auftischen müßten; alles klingt uralt, gewohnt, wohlbekannt, natürlich-echt.
Alles, was „Sehnsucht“ nähren kann, ist willkommen: Nacht, Tod, Weite in Raum und Zeit, wolkig-verhangene Vergangenheit und glänzende Zukunft, alte Geschichte, Osten, Traumland, Triebseligkeit, geheimsinnige Tiefe der Liebe und innerlichen Lebens, Schicksalsspiel und Tragödie, Teufelei, Mystik, Zauber der Märchen. Utopeia! ... Alles, dies alles, war deutsche Romantik, Thema ihrer Liebe, ihr Traum und Lied. Es scheint selbst eine klassische Aufzählung der romantischen Themen, und es ist die Inhaltsangabe der Lieder der romantischen Dichter. Nacht, Frühling, Liebesglück, Märchen und alte Balladen sind beinahe bei allen zu finden. Novalis ist der Dichter der Nacht, des Todes und des religiösen Träumens (Hymnen an die Nacht), Chamisso der Dichter der Liebe, Rückert der des Morgenlandes, Hölderlin der Dichter des Geheimnisvollen, Kleist der wilden Leidenschaft, Brentano der Mystik, Görres und Hoffmann Dichter des Dämonischen, Eichendorff der des Traumlandes und des innerlichen Lebens, Uhland der des Märchenlandes und der Utopeia, Heine der der Leidenschaft, des Verhängnisses und der Tragödie ...
Und so natürlich singen sie es; es ist ihnen zu mächtig:
Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand,
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leibe entbrannte,
Da hab‘ ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!
(Eichendorff, „Sehnsucht“)
Sie selbst singen nicht, die Stimmen kommen aus den Dingen, so heftig haben sie ihre Macht erfahren, daß sie von ihr durchdrungen werden und daß die Dinge nicht außerhalb, sondern in ihrem Inneren leben. Die Stimme aus den Dingen ist das Geheimnis der Dinge:
„O wunderbares tiefes Schweigen,
Wie einsam ist’s noch auf der Welt!
Die Wälder nur sich leise neigen,
Als ging‘ der Herr durch’s stille Feld.
(Eichendorff, Morgengebet)
Audivi arcana verba! ... (Ich habe geheime Worte gehört“, Paulus II. Kor. 12.4)
Ist’s nicht, als ob der Dichter hörte, was niemand hören noch sagen kann?
Das ist der Tag des Herrn!
Ich bin allein auf weiter Flur;
Noch eine Morgenglocke nur,
Nun Stille nah und fern.
Anbetend knie ich hier.
O süßes Grau’n, geheimes Wehn,
Als knieten viele ungesehen
Und beteten mit mir!
Der Himmel nah und fern,
Er ist so klar und feierlich,
So ganz, als wollt’ er öffnen sich
Das ist der Tag des Herrn!
(Uhland, Schäfers Sonntagslied)
Hier sagt der Dichter nicht: „Wenn die Seele lauscht, spricht das All eine Sprache, die lebt.“
Aber hier lauscht seine Seele so leise, daß sie hört und sieht: das Innerste der Dinge, das Innerste der weitausgebreiteten Welt ist Gott. Da ist Er gestaltlos als „eine einfache Gegenwart“, wie die Mystiker sagen. So mag man von Gott in der Natur singen, denn so ist Er in ihr, und so hört man Ihn unermeßlich mehr als in „ce que l’on entend sur le montagne“.
Was sie schauend singen, füllt unendlich mehr als der Augenblick des Liedes ihr ganzes Leben, und grenzenlos weit strömt es darüber fort:
„Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
Man weiß nicht, was noch werden mag,
Das Blühen will nicht enden!
Es blüht das fernste tiefste Tal,
Nun, armes Herz, vergiß der Qual!
Nun muß sich alles, alles wenden!“
(Uhland, Frühlingsglaube)
Das ist ein „espoir en Dieu“ (Hoffnung in Gott), aufklingend aus dem Maijubel, allmählich anschwellend, wie es die Hoffnung immer tut. Ein Blümchen ist der Hoffnung Wurzel, ihre Krone ist alles.
Sie gebrauchen den kleinsten Schlüssel, um das Tor des Abgrundes zu öffnen, meistens ein Märchen. In Uhlands „Rache“, in Rückerts „Chidher“ und in anderen gähnt das Menschenlos uns mit weitgeöffnetem Schlund des Abgrundes entgegen … Eine sehr kurze Ballade diene als Vorbild, die sehr bekannte von Heine:
Es war ein alter König,
Sein Herz war schwer, sein Haupt war grau.
Der arme alte König,
Er nahm eine junge Frau.
Es war ein schöner Page,
Blond war sein Haupt, leicht war sein Sinn;
Er trug die seidene Schleppe
Der jungen Königin.
Kennst Du das alte Liedchen?
Es klingt so süß, es klingt so trüb?
Sie mußten beide sterben,
Sie hatten sich viel zu lieb.
(Neuer Frühling, 29)
Wollen wir kurz einige Schicksalsgesetze aussprechen, die uns die Ballade vor Augen hält? Ein König darf nicht alt werden. Das Königtum ist Leben. Der König ist aber ein Mensch, und er wird alt. Der König will sich gegen sein Schicksal aufbäumen, er erkennt den Menschen in sich selbst nicht. Der König begeht einen Anschlag auf das Menschsein einer anderen; mit ihrer Jugend will er von seinem Alter genesen. Das gibt die erste Strophe wieder, und das ist lange noch nicht alles. Die zweite sagt: Aus dem Heilmittel erwächst Unheil! Vergewaltigte Natur zerschmettert den Vergewaltiger und leider auch die Vergewaltigte … Sie treibt Spott mit dem König; sie gebraucht all ihre niedrigsten Waffen: blondes Haar, seidene Schleppe. Gerade die kleinen Dinge sind allmächtig: gewaltige Schicksalsschläge haben allezeit geringfügige, kleine Ursachen. Ein Maulwurfsgang läßt bei einem Deich den Strom durchbrechen. Die Mächte des Todes liegen auf der Lauer in blondem Haar, leichtfertigem Gemüt, seidener Schleppe. In den Lachgrübchen, in dem zarten Blühen jugendlicher Wangen liegt die allmächtige Liebe im Hinterhalt, sang Sophokles in „Antigone“.
In Blumen ist das Todesurteil geschrieben! Der Weg des Menschen nach dem Erschreckendsten ist seine Blüte und das Lachen seines Lebens:
„Doch – alles, was mich dazu trieb,
Gott! war so gut! Ach! war so lieb!
(Goethe, Faust)
Gott! Ach! Zwei gewaltig vielsagende Ausrufe. Der erste beruft sich auf das ganze Weltall und der zweite auf das eigene Herz: den Zwang des Lebens! Die ganze große Geschichte in einem kleinen Geschichtchen. „Mehr Menschheitsoffenbarung in den kleinen Erzählungen der Dichtkunst als in allen Folianten der Geschichte“, dieser Ausruf von Bacon wird bewahrheitet in der Erfühlung der Tiefe des Lebens in der deutschen Romantik, ohne Redewendungen. Alles Gefühl, keine Worte in ihrer verstandesgemäßen Beschränktheit, sondern in ihrem uferlosen Klingen.
Liebe denkt in süßen Tönen,
Denn Gedanken stehn zu ferne
(L. Tieck, Glosse)
Was die deutsche Romantik mit Gesang allein, mit Tonfarbe und Macht des Tones und Rhythmus alles offenbart – davor weicht man zurück. Mit einem Glas probt man ein Faß, muß hier ganz und gar gelten; anders ist es nicht auszudrücken, wieviele Dutzende an Beispielen sollten nötig sein, um eine Vorstellung von diesem Reichtum zu geben. Wer mit der deutschen Romantik vertraut ist, wird sie unmittelbar in seiner Erinnerung klingen hören:
Novalis:
Getrost, das Leben schreitet
Zum ew’gen Leben hin …
(Hymnen an die Nacht)
wo der Rhythmus und die Töne hell und still sind wie ein Sommerhimmel in friedvoller Weite.
Hölderlins:
O Melodien über mir, ihr unendlichen,
Zu euch, zu euch,
wo heilige Besessenheit aufbricht, die dann in schmachtenden Rhythmen von
„Nur einen Sommer, gönnt ihr Gewaltigen!“
(An die Parzen)
erstirbt.
Körners:
Du Schwert an meiner Linken
(Schwertlied)
stählerner Gesang eines Heldenherzens, machtvoll blitzend gegen den dunklen Tod. Und so viele andere, durch Musik geweihte und weltbekannt gewordene.
Lassen wir es hier nun genug sein und still zurückschauen.
War weniger Glanz in der deutschen Romantik, war bei den Dichtern dieser Zeitspanne weniger Genie als bei den Franzosen, dann aber war mehr Echtheit, mehr Natürlichkeit, mehr Fülle im Geben und Empfangen. Sie war Ausdruck der eigenen Art, sprach in der eigenen Sprache. Sie benützte die einfachsten, echten Mittel, den Stoff erbat sie, und die Erde gab ihn. Die Güte der Kunst liegt nun einmal im Gebrauch ungesuchter, in der Natur selbst gegebener Mittel. Ihre Kunstwerke waren dann auch ganz und gar Harmonie, Güte, Ganzheit.
Die Offenbarung des Lebens durch die deutsche Romantik mußte schließlich doch die tiefste sein. Außer in Wahrheit und Echtheit keine Tiefe. Sie entlehnt dann auch ihren Wert einer Lebensauffassung und nicht einem Zeitgeist oder einer Mode. Sie war unvergänglich wie das große Lebensgefühl, dem sie diente.
Unvergänglich nicht allein in ihren Werken, auch in ihrem Geist. Der Geist war das Verlangen nach einem Lebensgefühl, wie es die großen Entdeckungen unter die Menschen gebracht hatte, das es immer gegeben, sich in Traum oder Frömmigkeit begnügt hatte, nun aber durch die Erkenntnis der Endlosigkeit der Welt gereizt, sich selbst erkannte und begehrte und als bewußtes Verlangen sich entfaltete: Ein Jahrtausend deutscher Romantik. – Die These müßte heißen: solange deutsch – solange romantisch. Für mich ist es keine These, die bewiesen werden muß, sie ist selbstverständlich. Dazu kann – als Gegensatz – das Schicksal der Romantik in Frankreich diese These um vieles verdeutlichen.
Durch ihre eigenen Dichter wird die Romantik zur Zeit ihrer höchsten Blüte nicht wirklich begriffen. In den Franzosen war es die französische Klarheit, der Geist und die Vernunft, das jahrhundertelange Fehlen der Lyrik und des persönlichen Gefühles, was den Zügel anlegte und das Gefühl teilweise zurückhielt. Will das Gefühl aber gewinnen, muß es verlorengehen; Streben ist sich wegwerfen. Halbes Gefühl verfehlt sein ganzes Ziel. Es kann kein Leben und keine vollgültige Kunst vollbringen. Die romantische Kunst war in Frankreich mehr künstliche Kunst als natürliche. Darum konnte sie nicht dauern. Das Künstliche stürzt bei der ersten Reaktion zusammen. Und diese konnte nicht ausbleiben. Die französische Natur war es, die nun zum Angriff auf der ganzen Linie zurückkehrte.
Die Religiösität griff die Romantik an, namentlich ihre „religiosité“, ihr „déchainement du moi“ (Entfesselung des Ich – der persönliche Ton, das Rhetorische war in Frankreich ungewohnt). Der literarische Geschmack, der Geschmack also, fiel darüber her und rückte mit den alten wohlbekannten „Truppen“ an: Ordnung, Klarheit, Bestimmtheit, Unterschiedlichkeit. Ach, so ein Trommelfeuer war gar nicht nötig. Die Romantik erlag ihrer eigenen Fülle in einer völligen und dauernden Niederlage.
Bald konnte die Reaktion spotten: „Homais à Pathmos!“ so Lemaitre über Victor Hugo – oder, dogmatisch ausgelegt: „le romantisme ne correspondait à rien de durable“ (É. Zola in „Préface des Annales du Théatre de la Musique“ 1878).
Barrès orakelte: „est barbare quiconque nous prèche la révolte contre nos limites naturelles“.
Mit diesen Worten kann man das Wesen romantischer Lebenshaltung ausdrük-
ken. Vor dem Geheimnis verhalten sich die Menschen ganz verschieden. Man kann ablehnend davorstehen, gleichgültig, a priori feindlich, oder in Angst vor „le mal de l’inconnu“ (Das Böse des Unbekannten). Man kann nicht mit ihm rechnen, man verbannt es gern außerhalb seiner eigenen kleinen Welt. Man kann für das Vollendete, Abgerundete, Geschickte, Anmutige sein und seine ganze Vorliebe dem Gutgelungenen, dem bereits Eroberten und Klassierten widmen und das chaotische Mysterium schief ansehen, das nie eine gefestigte Ordnung zuläßt, sondern sie jeden Augenblick mit dem Wachsen des Lebens stört und auseinanderbrechen läßt. Das Mysterium, ebenso revolutionär wie das Leben, das das Gebiet des Geistes sich immer ausdehnen läßt und dem Geist nie erlaubt, ein Haus zu bauen, in dem er für alle Zeiten seinen Einzug nehmen kann, sondern ihn zu einem Ahasver der Philosophie und Poesie in alle Ewigkeit macht.
Das alles kann man, das ist menschlich. Aber menschlich ist auch, das Mysterium mehr zu lieben als die „vérité humaine“, weil es die größte Wirklichkeit des Unendlichen ist, weil das Unendliche einen Trost für den Sterblichen und ein Versprechen der Unendlichkeit für ihn in sich birgt, weil derjenige, der sich da hineinwirft, von ihm getragen; weil, was uns entgeht, uns deswegen entgeht, weil es uns übertrifft, und das, was uns übertrifft, doch unsere wahre Freude ausmacht; weil, was uns entgeht, zwar nicht unsere Wahrheit, die begriffene, sondern unsere Liebe, die begehrende werden kann, die nicht zu unserer Vergangenheit, wohl aber zu unserer Zukunft gehört. Das ewige Wandern kann selig sein, und singend und jubelnd können wir die „Wandervögel“ der Ewigkeit werden. Die Fahrt ist dann unser Zuhause, die Strömung unsere Wohnung; das ist für uns das echte und wahre Antlitz des Lebens, und in dieser Wahrheit des Umherschweifens finden wir den ewigen Frieden, der beruhigt und für immer beschwichtigt.
Es gibt ein großes Träumen, das weder Laune, noch Willenlosigkeit, noch schwächliches Stirnrunzeln über das Wehen jedes aufkommenden Windchens der Leidenschaft ist, noch sich gegenüber der von uns erwarteten Tat verweigert, sondern das das Gefühl der Weltverachtung der hohen Freiheit gegenüber allem Fesselnden und Hemmenden, von Mut und mächtigen Waffen, von edler Trauer und heiligem Verlangen ist.
Die Wissenschaft hatte ungefähr um 1600 das Weltall entdeckt und das Mysterium vertieft. Sie hatte Gottes Weltall so unermeßlich werden lassen, daß Gott da zum Mysterium erwuchs und der Mensch darin so klein war, daß das Leben ein Mysterium wurde und des Lebens Taten in dessen Abgrund so bedenklich, daß Trieb und Tat und Tod alles ein unsagbares Mysterium darstellte. Wissenschaft vertrieb nicht, sondern machte das Mysterium gewaltig.
Zwei große und schöne Völker standen vor diesem Mysterium, zwei Volksgruppen. Der Süden mit seinem fordernden und vorherrschenden Verstand, der Norden mit seinem empfangenden und singenden Gefühl. Völker, im Geist so verschieden, fast wie die Geschlechter.
Ehre demjenigen, der seine Art, das heißt Gottes Wille und Werk, achtet: Doch was mich, den Menschen des Nordens, der hier spricht, mitreißt und stolz macht auf ihre groß-menschliche, vollendete jahrhundertelange Haltung gegenüber dem Mysterium, ist unsere, die ganze volle Romantik.
Sie scheint mir derart menschlich, daß ich selbst mich mit ein wenig Verwunderung nach Frankreich umsehe. Sollte da wirklich niemand? … Doch ab und zu, klingt ein echter romantischer Schrei bei Baudelaire, Veraíne, Rimbaud … auf. Léon Bloy ist nicht nur in Worten, sondern auch im Rausch seiner Haßliebe gegen seine Welt ein „pélerin de l’absolu“, ein romantischer Wanderer, und fast von gestern ist die sonderbare Bemerkung von de Montherlant zu der „libre pensée“ voll romantischer Unruhe.
Wie aufsprühende Funken, sporadisch lebt dort die Romantik dann doch, muß sie leben, sie, die „correspond à l’éternel durable!!!“
In Deutschland aber rollt der Strom ungebrochen aus den fernsten Jahrhunderten heran.
Stromaufwärts! Da brausen die o! so romantischen großen Klassiker. Goethe mit seinem ganzen Faust, mit zahllosen lyrischen Gedichten voll romantischem Grauen vor der unverstandenen Macht der Natur:
Was zur Verzweiflung mich beängstigen könnte,
Zwecklose Kraft unbändiger Elemente
(Faust, II, 4)
vor Leben, Schicksal, Geschichte ...
Der Schiller von „Die Räuber“, von „Die Freude“ usw., Klopstock von den „Oden“, Angelus Silesius mit seinem „Cherubinischen Wandersmann“, der wahrlich als „der Cherub vor Gott steht“ – hört nur ein paar Sprüche daraus:
Freund, wenn man Gott beschaut, schaut man auf ein an,
Was man sonst ewig nicht ohne ihn durchschauen kann.
(Geistreiche Sinn- und Schlußreime, V, 212)
Ich selbst muß Sonne sein, ich muß mit meinen Strahlen
Das farbenlose Meer der ganzen Gottheit malen.
(ibid. I, 115)
Von Spee und Seuse sind fließende Seelen, Tauler und Eckehart vor allem haben eine Seele voll ungeheurer Stille der maßlosen Räume; sie schreien manchmal den wilden Schrei des Adlers, den der Abgrund zurückwirft. Danach fallen sie zurück in eintönige, ohnmächtige Wiederholungen, Geräusche von nie ausgesprochenem Sprechen, rauschendes Singen.
Das ist der Klang des Abgrundes; dem Mund des Mysteriums zwingt er sein Wort ab. Gefährlich! Der Mund des Mysteriums muß gähnen und nicht sprechen. Ein Wort daraus scheint wie die Formulierung des Unausdrückbaren. Die Kirche hört ängstlich zu. Die Lehre des Abgrundes ist geängstigt durch den Klang aus dem Abgrund. Dieser erklingt bei Dichter-Theologen. Theologie erschreckt vor den Dichtern auf ihrem Gebiet. Vielleicht mit Recht: Diese singen, und sie muß formulieren. Der Fall mit Eckehart ist bekannt. Ob er Ketzer war, ja oder nein, mögen die Theologen ausfechten. Aber ein wunderbarer Verehrer des Mysteriums war er, ein Mensch, der das Unendliche in der Gottheit fühlte, Seele und Leben, ein stolzer Taucher in den Abgrund, ein echter Sohn des Landes von Winternacht und Frühlingspracht, von Musik, von Leidenschaft im Denken, von lyrischer Wissenschaft und träumendem Sehen. Warum nicht „Vollblut-Romantiker“?
Über die Mystik am Horizont des deutschen Geisteslebens domen die gewaltigen Volksepen auf: Parsifal, die „Sehnsucht“ selbst über Montsalvat und Kundry aufsteigend bis zum Brunnen der Erlösung und der Schöpfung. Die „Nibelungen“, wo Triebe und Kräfte der Menschen, miteinander kämpfend, einander durchdringen wie Tag und Nacht als kosmische Kräfte, ein wehmütig großes Spiel von Liebe und Schönheit, von Haß und Tod, woraus sich über einer prächtigen Menschenwelt die verzweifelte Frage erhebt: Warum doch der Tod in dieser Welt?
Da sank er in die Blumen, der schönen Kriemhilde Mann,
Das Blut aus einer Wunde vor ihren Augen rann.
(Das Nibelungenlied, VIII)
Blumen … Blut! Mysterium ist Zwiespalt, der sich im Unsichtbaren versöhnt, aber sich vor uns auftut wie ein Wunder der Welt.
Und über diese gewaltigen Visionen von Sünde, Blüte und Tod ragen die Eisgipfel der Edda in einer Kette auf, die sich erstreckt vom Auf- bis zum Untergang unter dem düsteren Nordlicht.
Begrenzung von Leben und Schicksal, alles gesehen im Zeichen beklemmender Größe! So wie eine nordische Epenszenerie sah Mechthild von Magdeburg das Land ihrer Seele sich bis zu Gott erstrecken:
„Herre, meine Schuld, durch die ich Dich verloren hab‘,
Die steht vor meinen Augen gleich dem größten Berge
Und hat lange Finsternisse gemacht zwischen mir und Dir
Und ewige Fernung von Dir und mir.“
(Das fließende Licht der Gottheit)
Ein Jahrtausend deutscher Romantik. Stromaufwärts bis in die Nebel der Zeiten haben wir sie verfolgt. Stromabwärts bleibt sie unverändert. In Heine, Geibel, Storm, Fontane, Möricke, Greif u.a. strömt sie weiter, und als Wagner am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wieder die ganze romantische Urzeit zum Leben heraufbeschwört und als die Schleuse der „Sehnsucht“ aufmacht, da hat er mit einem Zauberschlag sein ganzes Volk, alle nordischen Völker mitgerissen. Alle träumen seine Träume, verlangen maßloses Verlangen, ziehen auf seiner Fahrt zwischen Himmel und Hölle nach der Erlösung mit. Nietzsche eilte zunächst als weißsiedender Schaum auf Wagners Brandung mit, kehrte sich dann ebenso heftig gegen ihn, findet jedoch nichts anderes als eine neue Romantik. Romantik mit umgekehrten Vorzeichen. Nicht die Richtung des Traumes oder die benutzten Mittel machen die Romantik aus. Nach der Vergangenheit mit Träumen, Seufzern, Leiden, Tod … nach der Zukunft mit Willenskraft und Tatengedröhn um des Zieles willen, alles einerlei, die Zielsetzung der Maßlosigkeit des Lebens, der Sprung in den Abgrund, das ist Romantik. Zarathustra kann Parsifal die Hand reichen.
Mystik und Romantik haben nur das gemeinsam, daß sie mit ihrem Gefühl vor dem Mysterium stehen, sonst unterscheiden sie sich fast in allem.
Die Grundlage der mystischen Lehre empfing die Kirche, genauso wie die Grundlage der Philosophie, von Griechenland; Platon und Plotin sind die ersten Lehrer. Platons „Symposion“ bringt den Grundgedanken; der ist: der „Eros“ der Wahrheit; das ist das Sehnen, sich vom Endlichen zum Unendlichen auszuweiten und sich mit unvergänglichem Inhalt zu füllen. Leben und Denken können dabei nicht helfen, sie sind beide immer unerklärlich: der Eros der Wahrheit, die Poesie, ist die einzige Sprache der Gottheit. Der von der Poesie Beseelte fühlt das Göttliche in seiner Brust. Seine Seele sieht er in diesem Licht als das Bild von der Idee der Gottheit und bestimmt zu einer Gemeinschaft mit Gott.
Plotin formte diese platonischen Gedanken zu der „Materia proxima“ der christlichen Mystik, als er eine Art System der Gott-Mensch-Polarität schuf. Beide bewegen sich aufeinander zu: der allmächtige Gott strömt in die endliche Schöpfung; das Endliche strömt zurück ins Unendliche. Diese Rückkehr durchläuft ansteigende Stufen der Reinigung, Erhellung, einzig in ekstatischem Schauen, bis der Tod das Endliche seines schattenhaften „Seins“ erlöst und es zurückgießt in das unbestimmt göttliche „Sein“.
Man sieht es: das Unendliche gegenüber dem Endlichen, das absolut Vollendete gegenüber dem auf jede Art der Beschränkung Unterworfenen sind „Kette und Schuß“ (aus der Webtechnik) dieser Lehre. Darauf beruht das ganze Seelenleben. Für das Endliche bleibt das Unendliche doch immer ein ungeheurer Abgrund von unauslotbarer Tiefe und Dunkel in der Ferne und in der Nähe eine überwältigende Fülle; seine Berührung mit dem Leben ist tödlich gewaltig, ist ein Sturm, ein Brand; seine Liebe ist wild und wütend … Die unendliche Unausgeglichenheit der unendlich aufeinander Angewiesenen verrät sich in jeder Lebensäußerung. Ungefähr um 500 nach Christus hat der Pseudo-Dionysos die griechische Mystik verchristlicht und sie der Kirche überantwortet.
Alle Völker haben „dieselbe“ empfangen. Das „ad modum recipientis“ mußte dann auch klar die Art der Völker offenbaren. Nicht ein Volk aus dem Süden gab seine Seele und seine Liebe an das Unendliche in der Mystik. Das Ungeheuerliche in ihr fühlten sie nicht als das Wesentliche, noch machten sie aus einem solchen Empfinden das eigentliche Leben für sich selbst daraus.
Und Johannes a Cruce, der Dichter und Verfasser von „Dunkler Nacht“? Nein, auch er nicht. Sicher behandelte er besonders unmittelbar die Tiefe und das Dunkle von Gott. Der Sprung in die Tiefe geschieht jedoch nicht. Die dunkle Tiefe Gottes zieht nicht an. Johannes vom Kreuz bricht mitten in der Lyrik sein Symbol von der dunklen Nacht ab und endet in Bildern des „Hohen Liedes“ und der „Brautmystik“. Er hat sich also nicht der Macht seines Symboles ausgeliefert. Und der Theologe zergliedert spitzfindig die sittliche Läuterung von Platon; Stufe um Stufe wird wunderbar psychologisch geprüft; seine eigenen Schritte vorsichtig zählend und ausrichtend, geht der Gelehrte weiter und stellt – wunderbar! – das klare und umsichtige Werk in das Zeichen des Nachtsymboles. Er läßt träumen von dem ungeheuren Reichtum dieses Nachtsymbols, aber er selbst träumt nicht davon.
Dasselbe genaue psychologische Abwägen, scholastische Sichten und Trennen erhebt Theresia von Avila zur Lehrerin in der Mystik – und mindert ihren Wert als Dichterin der Mystik. Mystik ist doch immer sich nähernde Liebe. Davon ist die echte und direkte Sprache die Poesie. In der Wissenschaft wird die Mystik gelehrt, in der Poesie lebt sie. Wenige Seiten der großen spanischen Heiligen sind Gedichte und beben von unmittelbarem Erleben. Dieses Erleben hatten sie sicher, aber sie untersuchten es angstvoll und in vielen Bedingungen und „Wie’s“ und „Warum’s“ zum unsterblichen Vorteil von allen kleinen Schülern in diesem allerhöchsten Fach.
Aber Angelus Silesius dichtete:
„Die Ros’ ist ohn’ Warum; sie blühet, weil sie blühet;
Sie acht’t nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.
(ibid. I,289)
Das bringt uns in eine ganz andere Welt, wenn auch die derselben mystischen Lehre. Die Schule ist fern; draußen im Feld, in der Freiheit, im Leben sind wir; im Norden!
Der Norden hat nichts zu verändern an der einen, der Mystik vieler Völker, aber er doziert sie nicht … er singt sie, er erlebt sie. Wie Augustinus’ Theologie unterwies und betete, sprach und sang zu gleicher Zeit, so taten es auch Eckehart, Tauler, Seuse, Ruysbroec, Silesius und der Verfasser von der „Cloud of Unknowing“.
Schreibend schauen sie, schauend singen sie, denn ihre Seele lebt von ihrem Schauen, das Mysterium von Gott, Seine dunkle Unendlichkeit entzückt sie, weil sie unendlich ist wie das Nachtgewölbe voller Sterne, weil es so gewaltig tief ist. Gottes einmalige Stille selbst ist der Gesang, der sie entzückt; die maßlose Einsamkeit von Gottes All-Einigkeit wird ihnen die Wüste, die zu blühen beginnt. Die Grundlosigkeit des Abgrundes ist für sie die Schönheit des Abgrundes. Sie schauen begierig in ihn hinein, und Taumel springt ihnen aus seinem Schlund entgegen. Die Liebe läßt schwindeln.
Das Auge der Seele sieht immer fernere Abgründe, über und unter den Abgründen. Gott wird ein wirbelndes Gewühl von Abgründen, ein Erbrausen, ein Sturm. Die Seele fühlt beim Sehen, daß sie klein wird bis zum völligen Vergehen. Aber dann: dann bringt die Liebe, die dieses ganze Schauen beseelte, diese Ungleichen zusammen, und während durch die Macht des Schauens alles darin ungleich geworden war, werden sie nun gleich. Gerade darum. Nur das Unvereinbare wird eins. Liebe bindet am besten, was verschieden ist. Liebe bildet keine Antithesen, sondern Paradoxe. Paradox ist die Wahrheit der Liebe, und Liebe erschrickt nicht vor ihren Widersachern, denn sie ist ihnen gegenüber mächtig.
Wie gleicht das Erfühlen Gottes durch die unendliche Liebe in der nordischen Mystik dem Erspüren Gottes und der begreiflichen wissenschaftlichen Wirklichkeit von der Unendlichkeit Seiner Natur in der nordischen Romantik!
„Diesen Kuß der ganzen Welt!“
(Schiller, Lied an die Freude)
Ich rühme dies nicht als Lehre, sondern als Leben. Eckehart wird verurteilt, gegen Ruysbroec erhob Gerson mahnend seine Stimme. Ach ja! Das Leben ist gefährlich. Sein Wachsen geht notwendig weiter, denn was ist, bricht notwendigerweise das Gewordene, aber setzt es fort. Und nennt man das Gewordene Ordnung, wohlan, dann bricht es notwendigerweise die Ordnung, aber entwickelt sie weiter und schöner. Das Leben ist ein ewiger Morgen, Wangenröte ist sein Zeichen!
Der Süden ist „le parti de l’ordre“ (die Partei der Ordnung), manchmal wohl gegen das Leben und mit einer Beständigung der Vergangenheit.
Beide sind zu ehren, denn beide bauen auf einem Grund, den Gott gab: Die Vernunft, die die Wahrheit und das Gefühl, das das Wesentliche heftiger anpackt. Die beiden Arten, Gott als den Nahen, als den Fernen zu erfühlen, geben Gott große Ehre. Und ich erinnere mich eines schönen Wortes aus der griechischen Mystik, das in höchsten Sphären beide Richtungen zusammenführt. Ich erinnere mich dessen nur noch ungefähr in der lateinischen Fassung:
„Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est.“ (Durch das Größte nicht bezwungen, in das Kleinste sich fügen können, das ist göttlich.) – Oder freier: „Im Allerhöchsten kein Reich, im Kleinsten ein Haus finden können, das ist göttlich.“
Gekürzte Fassung.
Übersetzung: Ilse-Carola Salm