Vor 100 Jahren, am 25. August 1900, ist mit Friedrich Nietzsche einer der für unser Jahrhundert wirkungsmächtigsten Philosophen nach langer Krankheit gestorben. Dichter und Denker wie Thomas Mann und Gottfried Benn, Robert Musil und Stefan George, Martin Heidegger und Karl Jaspers sind von ihm wesentlich beeinflußt worden. In diesem Beitrag unseres allen Abonnenten der NO lange bekannten Autors wird der entscheidende Anstoß, den Richard Wagner dem Denken Nietzsches gegeben hat, beleuchtet. Ein weiterer, umfassenderer Aufsatz, der in der nächsten Nummer folgen sollte, wird auf Grund des plötzlichen Todes von Erich Nietsch leider nicht mehr erscheinen.
Es gibt Begegnungen großer Persönlichkeiten und zeitloser Denker in der Geschichte des Geistes, bei denen sich, ohne daß sie selbst es wissen, welthistorisch entscheidende Augenblicke, Zeit- und Schicksalswenden leibhaft uns vor Augen stellen, weil sie symbolisch-repräsentative Bedeutung in sich tragen. Große Gestalten werden wie magisch zueinander gezogen und voneinander abgestoßen, wie polare Mächte der Natur. So wird bis heute Wagners und Nietzsches Begegnung und Trennung ein europäisches, wenn nicht sogar welthistorisches Ereignis von Rang und Tragik genannt, ein Wendepunkt der Zeiten, ein Symbol der Überwindung des 19. Jahrhunderts, wobei Nietzsche als „Bote der Morgenröte“ in der Glorie steht.
Aber was erleben wir jetzt? – „Daß Wagner und Nietzsche, deren enthusiastische Freundschaft in Feindseligkeit und Haß zu Ende ging, heute friedlich, brüderlich wie Dioskuren, Hand in Hand, als Ahnen und Wegbereiter des Dritten Reiches vergöttert oder vergötzt wurden. Wagner als Inbegriff deutscher Kunst, ja deutschen Geistes überhaupt verehrt. Bayreuth, Kultstätte des tausendjährigen Reiches, auf der etwa nicht nur der ‚Ring des Nibelungen’, sondern auch der ‚Parsifal’, diese Feier des Mitleids, zelebriert wurde, und als die ‚Götterdämmerung’ dann wirklich geschah und als alles in Feuer aufging, da wurde die Radiobotschaft, die das Ende des ‚Führers’ verkündete, eingerahmt vom Walkürenritt, unter dessen heldischen Klängen der germanische Held in Walhalla einritt, und von Siegfrieds Trauermarsch, der die Totenklage um ihn erhob. Der gleiche ‚Führer’ aber empfing aus den Händen der Schwester Nietzsches, als er das Nietzschehaus in Weimar besuchte, dessen Spazierstock als heilige Reliquie geschenkt, weil er es ja war, der Nietzsches Prophetie verwirklicht hatte. Der ‚Führer’ aber schickte seinem Freund, dem Duce, eine extra und einmalig für ihn gedruckte Prachtausgabe von Nietzsches Werken, weil sich der Duce ja stets zu Nietzsche bekannt hatte, und wirklich jenes Wort Mussolinis, das an jeder Straßen- und Gassenecke in Italien zu lesen war: ‚vivere pericolosamente’ war nichts anderes als die Übersetzung eines Nietzschewortes, das da heißt: ‚gefährlich leben’. Denn so steht es in Nietzsches ‚Fröhlicher Wissenschaft’: „ ,Das Geheimnis, um die größte Fruchtbarkeit und den größten Genuß vom Dasein einzuernten, heißt: gefährlich leben! Baut eure Städte an den Vesuv!’“
Der diese Nietzsche-Interpretation uns hinterläßt mit der einhergehenden Mahnung über ihn „nachzudenken“ ist Fritz Strich in „Richard Wagner – Friedrich Nietzsche“ (In: Der kleine Bund, Bern 1945)
„Wie konnten die Antipoden, Wagner und Nietzsche, von denen Europa und die Welt angenommen hatte, daß sie auf verschiedenen Sternen lebten, so als vereintes Dioskurenpaar, als Ahnen, Zeugen, Götter oder Götzen in Anspruch genommen werden?“ Wobei Strich vorerst an ein Wort Nietzsches erinnert, das am Anfang seiner Schrift „Richard Wagner in Bayreuth“ steht: „Damit ein Ereignis Größe habe, muß zweierlei zusammenkommen: der große Sinn derer, die es vollbringen, und der große Sinn derer, die es erleben. An sich hat kein Ereignis Größe …“
Verfolgen wir nun die „Tragödie ihrer Freundschaft“, die so verheißungsvoll begann und in Haß und Bruch versank, wirklich eine Tragödie. Wie eine Ankündigung der tragischen Muse schien es später Nietzsche zu sein, daß bei seinem ersten Besuch in Tribschen bei Luzern, bevor er noch Wagners Haus betrat, ihm aus dem Fenster ein immer wiederholter, schmerzlicher Akkord entgegenklang, von Richard Wagner angeschlagen, den er später als Musik zu den Worten aus dem Siegfried erkannte: „Verwundet hat mich, der mich erweckt“.
Als Wagner in Tribschen von aller Welt zurückgezogen seinem Schaffen und seinem häuslichen Glück mit Cosima lebte, zählte der junge Philosoph Nietzsche zu den wenigen Besuchern. Wagner lernte ihn im November 1868 gelegentlich einer Reise nach Leipzig im Hause seines Schwagers Hermann Brockhaus kennen. Sie kamen ins Gespräch über Schopenhauers Philosophie und knüpften die ersten freundschaftlichen Bande.
Im Sommer 1869 wurde Nietzsche, erst vierundzwanzigjährig, als Professor an die Universität Basel berufen. Dies gab ihm Gelegenheit, den Verkehr mit Wagner aufzunehmen, der sich bald zu einer Freundschaft entwickelte. In tiefer Verehrung blickte Nietzsche, der Jüngere, zu Wagner auf, und erkannte in ihm den Genius. Er schrieb am 4. August 1869 über Wagner an seinen Freund, Freiherr von Gersdorf: „Ich habe einen Menschen gefunden, der wie kein anderer das Bild dessen, was Schopenhauer das Genie nennt, mir offenbart, und der ganz durchdrungen ist von jener wunderbar innigen Philosophie. Niemand kennt ihn und kann ihn beurteilen. In ihm herrscht eine so unbedingte Idealität, eine solch tiefe rührende Menschlichkeit, ein solch erhabener Lebensernst, daß ich mich in seiner Nähe wie in der Nähe des Göttlichen fühle.“
Auch auf Wagner war die Wechselwirkung mit Nietzsche von bereicherndem Einfluß, wie aus den im Frühjahr 1870 niedergeschriebenen Zeilen hervorgeht: „Ich habe jetzt niemand, mit dem ich es so ernst nehmen könnte als mit Ihnen – die Einzige (Cosima) ausgenommen.“
In der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, dieser ersten schöpferischen Leistung Nietzsches, setzt er Wagner ein zeitloses Denkmal der Anerkennung und Dankbarkeit. Die bewundernswerte Synthese der verschiedenen Gedankenkreise – der griechischen Tragödie, der Schopenhauerschen Metaphysik und der Wagnerschen Kunstlehre – und vor allem die hinreißende Art der Darstellung widerspiegeln die Eindrücke und Erlebnisse, die Nietzsche bewegten.
Wagner und Cosima wurden von dieser Schrift des jungen Nietzsche im Innersten erschüttert, denn beiden war es zur Gewißheit geworden, daß Nietzsche offenbart hatte, was für das Genie Wagner Kunst und Weltanschauung ist.
In einem Brief vom 4. Januar 1872 schrieb Wagner an Nietzsche: „Schöneres als Ihr Buch habe ich noch nicht vorher gelesen! Alles ist herrlich!“ Und im Dezember 1873 gibt er über „Die Geburt der Tragödie“ folgendes Urteil ab: „Ich habe wieder darin gelesen und schwöre Ihnen bei Gott, daß ich Sie für den einzigen halte, der weiß, was ich will.“
Nietzsche erlebte in Wagners Werken, was über die damalige Zeit weit hinausging, dessen Vollendung erst die Angelegenheit kommender Geschlechter sein konnte. An einer Stelle heißt es bei ihm: „Und nun fragt euch selber, ihr Geschlechter jetzt lebender Menschen, ward dies für euch gedichtet; habt ihr den Mut, mit eurer Hand auf die Sterne dieses ganzen Himmelsgewölbes von Schönheit und Güte zu zeigen: es ist unser Leben, das Wagner unter die Sterne versetzt hat?“
Zur Eröffnung der Festspiele 1876 schrieb Nietzsche die Schrift „Richard Wagner in Bayreuth“, eine Huldigung für Wagner und eine Werbung für Bayreuth. Wagner gesteht, er sei erschüttert. Gerade diese Schrift sei es, in der sich Nietzsches tiefstes Verständnis für sein Wollen, Wirken und Schaffen offenbare.
Wilhelm Furtwängler dazu in seinem Beitrag „Der Fall Wagner“ (Wiesbaden 1954): „Diese Schrift ist verräterisch. Sie ist nicht weniger aufschlußreich über Nietzsches wahres Verhältnis zu Wagner, als die Anklageschriften später.“ Wer aber lesen kann, wird hier schon den heimlichen Widerspruch entdecken, und die Entzauberung Nietzsches spüren, die sich zu vollziehen begann. Ja, schon 1874 hat er sich „Gedanken über Richard Wagner“ notiert, die in seinem Nachlaß gefunden wurden und bereits „wie ein Verrat an seiner Freundschaft klingen“.
Wagner aber war ein guter Leser und wurde mißtrauisch, wie Mißtrauen denn überhaupt eine hervorstehende Eigenschaft bei ihm war. Es war schon dadurch erwacht, daß Nietzsche jahrelang Bayreuth fern blieb. Als er dann, 1876, doch kam, geschah das entscheidende Ereignis: Nietzsche kehrte plötzlich fluchtartig Bayreuth den Rücken. Alles dort war ihm zum Ekel geworden: das mit Diamanten und Gold strotzende und protzende Publikum in diesem Volkstheater, der Meister, den er staunend als Theaterdirektor, Unternehmer, Agitator wirken sah, sein Werk „Der Ring“, das ihm Theaterzauber, Massensuggestion zu sein schien, und ganz Bayreuth „ein Kompromiß mit Technik und Kapitalismus“, von welchen Dämonen es doch gerade das deutsche Volk befreien wollte.
Der Bruch war da. Noch einmal sahen sich Wagner und Nietzsche zufällig und kalt in Sorrent und dann nie wieder.
Versuchen wir zunächst zu ergründen, was sie auseinander trieb. Jedenfalls nicht, wie man wohl manchmal hören kann, Nietzsches Leidenschaft zu Cosima, an die kaum ein Mensch glaubt. Kein cherchez la femme! Auch nicht der Neid des mißglückten Musikers Nietzsche. Auch nicht, wie Wagner und Cosima es zu erklären versuchten, daß Nietzsches Abreise von Bayreuth der erste Ausbruch seiner furchtbaren Krankheit gewesen sei.
Nietzsche brachte seine Enttäuschung über die ersten Festspiele in Bayreuth in den Worten zum Ausdruck: „Das wirkliche Bayreuth war nur wie der schlechte, allerletzte Abzug eines Kupferstiches auf geringem Papier. Mein Fehler war, daß ich nach Bayreuth mit einem Ideal kam, so mußte ich denn die bitterste Enttäuschung erleben.“
Dazu Johannes Bertram in „Der Seher von Bayreuth“ (Berlin 1943): „Seine Trennung von Wagner führte ihn immer mehr zu sich selbst, zur Erkenntnis der vom eigenen Genius geforderten Aufgabe. Bald gewahrte er einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dieser und den Bayreuther Bestrebungen. In Wagners Kunst erblickte er die Darstellung und Verherrlichung eines veredelten Pessimismus, dessen Ideal des tiefsten Mitleides zu dem, was ihm, dem begeisterten Bejaher des Lebens, dem angehenden Philosophen des Übermenschentums, dem Verächter alles Schwachen und Kranken, dem künftigen Vertreter der Herrenmoral, in der Seele stürmte und drängte, in krassem Gegensatz stand. Er wollte nicht durch tiefstes Mitleiden erlösen noch erlöst werden, sondern durch die dionysische Bejahung des Lebens, welche Schmerz und Freude mit gleicher Lust zu ergreifen fähig ist, durch den alles zwingenden Willen zur Macht wie ein echter Übermensch sich und die Welt verwandeln. Jeder Untergang ward ihm zur Wiege eines höheren Werdens, jeder Tod zur Möglichkeit einer neuen Lebenform, drängte doch in allem das zentrale schöpferische Wesen selbst zur Bejahung, kehrte doch das Ewiggleiche immer wieder in die Erde zurück.“ Fragen wir weiter: Was hatte Nietzsche denn von Wagner erwartet, seit dieser ihn zum Kampf gegen die moderne Zivilisation erweckte und ihm das Bewußtsein der „Unzeitgemäßheit“ eingab? – Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie und das hieß für Nietzsche noch viel mehr: die Überwindung des lebensfeindlichen Pessimismus – wie er durch Schopenhauer repräsentiert war-, „durch einen heroischen Pessimismus, der gerade durch den Blick in die leidvollsten Tiefen des Lebens den Lebenswillen unermeßlich und zu höchsten Taten der Kultur befähigt, so wie die griechische Tragödie als Rechtfertigung des tragischen Menschenschicksals den Griechen zur höchsten Lebenskraft, Lebenswilligkeit und Lebenssteigerung erregte, zur Schöpfung einer tragischen, heroischen Kultur.“ Das war es, was Nietzsche von Wagners tragischem Kunstwerk, das er zuerst, wie Wagner selbst, erhoffte, wenn er das Leben der modernen Zeit, des deutschen Volkes besonders, von Grund auf wandeln und auf die Höhe des Griechentums emporheben würde.
Wagner war ihm „wie der wiedergeborene Dionysos, der Gott des überströmenden, jauchzenden, durch Leid nur gesteigerten und darum nach Leid verlangenden Lebenswillens erschienen, der dem theoretischen, lebensschwachen, von Moral gehemmten modernen Sokrates ein Ende machen würde“. Bayreuth hatte ihn „die Morgenweihe am Tage des Kampfes“ gedünkt. So Strich.
Nach Wagners Tod erfolgte nun von seiten Nietzsches Schlag auf Schlag gegen den einstigen Freund und als Erwecker der Kunst verehrten Meister: „Also sprach Zarathustra“, worin die Figur des schauspielernden, betrügerischen , alten Zauberer kein anderer als Wagner ist. „Der Fall Wagner“, ein Musikantenproblem (1888 in Sils-Maria vollendet), „Nietzsche contra Wagner“ (auch aus dem Jahre 1888). Im Grunde aber hatte alles, was Nietzsche noch schrieb, Wagner zum heimlichen Hintergrund, war, auch wenn sein Name nicht genannt wurde, ein Kampf gegen ihn, was zu den sicheren Zeichen gehört, daß er von dem einst so geliebten Freund sein Leben lang nicht loskam. Dies war das Ende der Tragödie.
Wir können Nietzsche schon glauben, wenn er sechs Jahre nach seinem Bayreuther Festspiel-Erlebnis am 3. Februar 1892 von Genua aus an seine Schwester schreibt: „Es sind die schönsten Tage meines Lebens gewesen, die ich mit ihm (Richard Wagner) in Tribschen und durch ihn in Bayreuth (1872) verlebt habe. Aber die allmächtige Gewalt unserer Aufgaben trieb uns auseinander und jetzt können wir nicht mehr zueinander. Wir sind uns fremd geworden.“
In seinem Werk „Menschliches Allzumenschliches“ rang Nietzsche noch immer mit sich selbst. Es ist aber wie eine bezeichnende Geste des Schicksals, daß er gleichzeitig, als er dieses Werk Wagner übersandte, von diesem den „Parsifal“, erhielt: „Diese Kreuzung von zwei Büchern“, schreibt Nietzsche – „mir war’s als ob ich einen ominösen Ton dabei hörte. Klang es nicht, als ob sich zwei Degen kreuzen?“
Warum fand Nietzsche nicht zurück zu Wagner? … Dürfen wir dem Jüngeren zumuten, was der Ältere auch nicht vermochte? Da beide es nicht konnten, in der polar notwendigen Gegenreform nicht den Gegner, sondern den Freund im Geiste zu schauen, litten sie beide unter dem Bruch ihrer Freundschaft, die in Wahrheit, d.h. ihren schöpferischen Aufgaben nach, zum polaren Vollzug eines dem deutschen Volksgeist notwendigen Kulturprozesses bestimmt war.
Wilhelm Furtwängler hat sehr treffend dargelegt, warum es zum Bruch zwischen beiden kommen mußte. Denn Nietzsche habe von Anfang an in Wagner hineingesehen, was ihm selbst als Vision der Zukunft aufgegangen war, und der Augenblick mußte ja kommen, wo ihm, dem Kenner des Griechentums, die völlige Unvergleichbarkeit zwischen dem Wagner’schen Gesamtkunstwerk und der griechischen Tragödie aufging. Es ist die Tragödie zwischen Meister und Jünger, die typische, sich ewig wiederholende, die aber dadurch, daß sie sich hier zwischen zwei Genies von solchem Ausmaß abspielt, auch ihr besonderes Maß empfing.
Nietzsche geht zu weit, viel zu weit, wenn er Wagner einen Cagliostro, Rattenfänger, Betrüger, Falschmünzer, Pfau der Pfauen, Meer der Eitelkeit nennt, zu weit, weil eine außerkünstliche Effekthascherei selbstverständlich nicht das Ziel und die bewußte Absicht Wagners war. Wenn man in dem, was Nietzsche ihm vorwirft, einen wahren Kern zu finden meint, so ist es nach Strich der, daß „Wagners Persönlichkeit und Kunst von Natur und Wesen des schauspielerisch-theatralischen Einschlags nicht entbehrt“. Nietzsche aber, durch Wagner aufgerüttelt, stellt nun sogar an alle Kunst die Schicksalsfrage, ob sie nicht notwendigerweise Schauspielerei sein müsse, weil sie der Maske und der Verwandlung bedarf. Hatte er doch in der dionysischen Erregung des antiken Chores, der sich, durch Dionysos verzaubert, in dessen Diener verwandelt, die Voraussetzung aller dramatischen Kunst, das dramatische Urphänomen entdeckt; Dionysos, der Gott der Lebensbejahung, der Verwandlung, der Ekstasis, der Verzauberung: der Gott der Schauspielkunst!
Eine tiefe Skepsis gegen die Kunst überhaupt aber bemächtigt sich Nietzsche erst, als er Wagner unter seine Maske schaute... Nietzsche erhebt sich in immer höhere Einsamkeit, und wenn Wagners Lohengrin sich aus einsamen Höhen nach menschlicher Gemeinschaft sehnend, in die Niederungen steigt, erhebt sich Nietzsche zu immer eisigeren, menschenferneren Gipfeln, und keine Einsamkeit ist ihm einsam genug. Das ist wie eine Flucht vor Wagner.
Nun aber zeigt sich das merkwürdige und in seiner repräsentativen Bedeutung gar nicht auszuschöpfende Phänomen: in der höchsten Einsamkeit nämlich gewinnt sich Nietzsche die Lebensbejahung, die den Schopenhauer’schen Pessimismus überwindet, während sich Wagner durch Lebensverneinung die Welt und die Massen gewinnt, womit wir vor dem allentscheidenden Problem der Décadence stehen. Denn wegen seiner Lebensverneinung war Wagner für Nietzsche der Inbegriff, der Repräsentant der modernen Décadence, der Krankheit des 19. Jahrhunderts, die Nietzsche zu heilen sich berufen fühlte. Was ist aber in seinem Sinne Décadence?
„Die Erlahmung des Lebenswillens, der Wille zum Ende, zur Nacht, zum Tod, die große Müdigkeit, die den einzelnen Menschen, wie ganze Zeiten und Völker befallen kann. Der gesunde Lebenswillen will sich selbst zu immer höherer Kraft emporsteigern und das Leben immer stärker und schöner machen“, so Strich.
Und weiter: „Was solcher Lebenssteigerung dienen kann, das ist der Wille: der Wille zur Macht, die Lebenskraft, die Schönheit, der Mut und alles, was eben Nietzsche unter vornehmen Werten versteht. Die Décadence dagegen zeugt die Moral, die lebensfeindliche, zum Ende verführende Moral, die alle Lebenssteigerung hemmt, weil sie das Mittelmaß zum Maß des Lebens macht und das Mitleid mit dem Leid, der Schwachheit, der Krankheit, der Schlechtweggekommenheit zum höchsten Werte stempelt. Es gibt eine soziale Décadence, die in der Nivellierung und Normalisierung der Gesellschaft besteht, in Demokratie, in allem Sozialismus, allem modernen Fortschritt, aller Zivilisation...“
Nietzsche fühlt sich berufen, dem eine Ende zu machen – durch den wiedergeborenen Dionysos der Lebensmeisterung.
Wenn man nach den tieferen Quellen der Gemeinsamkeiten zwischen Wagner und Nietzsche fragt, so gibt es da ein all-erleuchtendes Selbstbekenntnis Nietzsches, das im Vorwort zu seiner Schrift „Der Fall Wagner“ steht. Da heißt es nämlich: „Was verlangt ein Philosoph am ersten und letzten von sich? Seine Zeit in sich zu überwinden, ‚zeitlos’ zu werden. Womit also hat er seinen härtesten Strauß zu besteh’n? Mit dem, worin gerade er das Kind seiner Zeit ist. Wohlan! Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein Dekadent: nur daß ich das begriff, nur daß ich mich dagegen wehrte. Der Philosoph in mir wehrte sich dagegen. Was mich am tiefsten beschäftigt hat, das ist in der Tat das Problem der Décadence, – ich habe Gründe dazu gehabt.“
Niemand hat tiefer in Nietzsche heinein-, hinuntergesehen als er selbst. Niemand war, so heißt es in jenem Vorwort, vielleicht gefährlicher als er mit der Wagnerei verwachsen. Nur muß man dazusetzen: und ist es geblieben. Denn wenn er von dem großen Erlebnis seiner Genesung spricht und davon, daß Wagner bloß zu seinen Krankheiten gehörte, wie auch Schopenhauer und wie die ganze, moderne Menschlichkeit, so ist auch dies ein Zeichen der Krankheit zu nennen, daß er sich für genesen hielt, für einen, der sich wirklich selbst überwand.
Mit vielen anderen Nietzsche-Interpreten meint auch Richard Wisser: „Wenn Nietzsche den Übermenschen verkündete, das Jenseits von Gut und Böse, die blonde Bestie, den Willen zur Macht, den lebenstrunkenen Dionysos, wenn er endlich selbst den leibhaftigen Antichrist spielte, so war das nicht Selbstüberwindung, sondern Selbstverneinung und Selbstkreuzigung. Der zarteste Humanist verkündigt die Brutalität der blonden Bestie, der lebensschwache Asket den Gott des trunkenen Lebens, der Moralist die ruchloseste Amoralität, der nordisch-deutsche schwerblütige Melancholiker die Heiterkeit und Leichtigkeit des Südens, der protestantische Christ, der Naumberger Pastorsohn den Antichrist. Es ist kein Wortspiel, wenn ich sage, daß er gerade darin, in solcher Selbstkreuzigung, von Anfang an bis zuletzt der Moralist, Asket und Christ geblieben ist, der schwer an sich selbst gelitten und darum nach Erlösung von sich selbst verlangt hat.“
Hat wirklich erst der Parsifal Nietzsches Augen geöffnet? War es denn wirklich so, daß Wagner-Dionysos, Wagner der neugeborene Grieche erst am Ende plötzlich mit dem Parsifal, dem Weihspiel von Leid und Mitleid, vor dem Kreuz zusammenbrach? Erlösungssehnsucht war ja doch von Anfang an das Leitmotiv all seiner Werke, all seiner Deutungen der alten Mythen und Sagen, des Fliegenden Holländer, des Tannhäuser, des Lohengrin, des Tristan und besonders des Ring des Nibelungen, dieses so seltsam mißverstandenen Ring, in welchem doch Wotan, dem Willen zur Macht entsagend, dem er die Liebe opfern mußte, nur noch die Sehnsucht nach dem Ende, dem Nichts empfindet, die dem müden Gott, dem guten Kenner der Schopenhauer’schen Philosophie, denn endlich auch erfüllt wird. Eine Feier des Liebestodes und des Liebesopfers war jedes seiner Dramen schon von Anfang an. Warum merkte es Nietzsche so lange nicht? Er kannte auch schon in der Zeit seiner Freundschaft mit Wagner den Parsifal, dessen Entwurf ja genau so früh entstand wie der Plan zu anderen Werken. Warum hat Nietzsche den Schöpfer des Fliegenden Holländer, des Tannhäuser, des Ring, des Tristan als Überwinder des Schopenhauer’schen Pessimismus, als Erwecker der griechischen Tragödie, als den wiedergeborenen Dionysos begrüßt?
Es muß wohl die Erklärung hinreichen, daß Nietzsche anfangs sein eigenes neues Lebensgefühl oder Lebensideal in Wagner hineingesehen hat und dadurch für den wirklichen und wahren Wagner wie blind gewesen ist, bis ihm, dem Jünger, die Augen aufgingen, als er sich von dem Meister, dem Zaubermeister ablöste, sich von der Erlösungssehnsucht befreite und ein Genius dem Genius gegenübertrat. Da sah er ihn mit anderen Augen, hörte ihn mit anderen Ohren. Da kam ihm die Antipodie in das wachgewordene Bewußtsein. Stille Bedenken, leise Zweifel hatten ihn, wie manche Aufzeichnungen verraten, schon vorher gequält. Aber sie waren durch Wagners Faszination niedergehalten worden. Nun wandelte sich seine Liebe in Haß, obwohl er die Liebe niemals völlig losgeworden ist, und seine Gegnerschaft wächst über alle nur persönlichen Gründe hinaus.
Was ist nun geblieben zwischen den beiden Genies? – Geblieben ist die zeitlose Sternenfreundschaft zwischen Wagner und Nietzsche.
„Wir waren Freunde und sind uns fremd geworden. Aber das ist recht so und wir wollen’s nicht verhehlen und verdunkeln, als ob wir uns dessen zu schämen hätten. Wir sind zwei Schiffe, deren jedes sein Ziel und seine Bahn hat; wir können uns wohl kreuzen und ein Fest miteinander feiern, wie wir es schon getan haben – und dann lagen die braven Schiffe so ruhig in einem Hafen und in einer Sonne, daß es scheinen möchte, sie seien schon am Ziele und hätten ein Ziel gehabt. Aber dann treibt uns die allmächtige Gewalt unserer Aufgaben wieder auseinander, in verschiedene Meere und Sonnenstriche, und vielleicht sehen wir uns nicht mehr: die verschiedenen Meere und Sonnen haben uns verändert! Daß wir uns fremd werden mußten, ist das Gesetz über uns: eben dadurch sollen wir uns auch ehrwürdiger werden. Eben dadurch soll der Gedanke an unsere ehemalige Freundschaft heiliger werden. Es gibt wahrscheinlich eine unsichtbare Kurve und Sternenbahn, in der unsere so verschiedenen Straßen und Ziele als kleine Wegstrecken einbegriffen sein mögen. – Erheben wir uns zu diesem Gedanken. Aber unser Leben ist kurz und unsere Sehkraft gering, als daß wir mehr als Freunde im Sinne jener erhabenen Möglichkeiten sein können. – Und so wollen wir an unsere Sternenfreundschaft glauben, selbst wenn wir einander Erden-Feinde sein müßten ...“
Nietzsche warf dem einstigen Freunde vor, daß er mit seiner Musik verzaubere, umneble, narkotisiere, um so zum Ende zu verführen. Aber war er nicht auch ein Rattenfänger, ein Zauberer, und ein Verführer?
Welch merkwürdige Ähnlichkeit besteht doch zwischen dem „dithyrambischen Tragiker“ Wagner und dem dithyrambischen Philosophen Nietzsche, zwischen dem dichtenden Denker und dem musizierenden Dichter! Wenn überhaupt einer, so hat Nietzsche gar nicht versucht, mit dem einfachen, klaren, logischen Wort die philosophische Vernunft zu überzeugen. Seine Sprache überredet, verzaubert, umnebelt, berauscht, narkotisiert. Es gibt kein einziges Wort in Nietzsches Charakteristik der Wagner’schen Musik, das nicht auf seinen eigenen Stil anzuwenden wäre. Philosophie wird Lyrik und Musik in seinem Munde. Er selbst sagte einmal von sich: „Sie hätte singen, nicht reden sollen, diese neue Seele.“ Hätte sie singen sollen? Sie hat gesungen, und wahrlich einen Gesang von verführerischer Schönheit, und wenn Nietzsche „mit dem Hammer“ philosophierte und Blitze in die Nacht schleuderte, so steht er den Blitz- und Donnergöttern Wagners gar nicht so fern.
Es gehört zu den seltsamsten Phänomenen der Geschichte, daß gerade Wagners Ring des Nibelungen ein Paradestück des Dritten Reiches werden konnte. Denn in dieser Trilogie geht es doch wahrlich nicht um die Totalität des Staates, der nur durch den Willen zur Macht und die Verfluchung der Liebe entstehen und bestehen kann, sondern um seinen notwendigen Untergang durch Verzicht auf die Macht und Gold und durch Opfer und Liebestod. So hat Wagner selbst sein Werk gedeutet. Aber wer hat seine Botschaft gehört und – verstanden? Sie konnte nicht verstanden werden, weil sie von der heroischen und machtwilligen Musik ihres Verkünders übertönt wird. Nietzsches und Wagners Schicksal wurde damit zu einer Tragödie mit allem, was zu einer solchen gehört, und also auch der ungewollten Schuld.
Die Götterdämmerung, die Götzendämmerung wurde Wirklichkeit; das Ende war der Weltenbrand. Nun gilt es eine neue Welt zu bauen ... Neue Künstler und Philosophen kommen. Was aber sollen wir von ihnen wünschen und hoffen? Daß sie mit klarem, einfachem und eindeutigem Wort überzeugen, aber nicht Zauberer und Magier seien. Die Zeit verführender Magie sei vorbei. Daß ihre Verkündigung nicht Selbsthaß und Selbstkreuzigung entspringe, weil aus dem Boden der Krankheit keine gesunde Welt erwächst. Verwandelte Menschen, nur sie, ohne Masken und Larven, können offenen Augen eine gewandelte Welt erblicken und erschauen und beschwören, die es zu verwirklichen lohnt. Vor allem aber und noch einmal: Verantwortungsbewußtsein. „Denn die Wissenschaft hat eine ungeheure Verantwortung vor dem Leben. Nietzsche, der Lebensphilosoph, vergaß in seiner entrückten, menschenfernen Einsamkeit, daß die Stunde der Verwirklichung einmal kommen könne, da sich das magische Wort in Tat und Wirklichkeit verwandelt. Aber auch die Kunst hat diese ungeheure Verantwortung vor dem Leben zu tragen. Denn auch sie beschwört, weit mehr als man es ahnt, eine neue Wirklichkeit herauf, und Wagner beschwor das Ende. Hoffen wir auf eine neue Philosophie und Kunst, also ein neues Leben.“ Hat hier nicht Fritz Strich „hochherrlich-prophetisch“ gesprochen, wie Kritiker der Zeit verkünden?
So nehmen wir heute schmerzlichen Abschied von dem Ausnahme-Denker Friedrich Nietzsche mit dem seine Größe anerkennenden Bewußtsein, daß er, wenn er zu uns sprechen könnte, unsere junge Generation vielleicht selbst davor warnen würde, ihn heute als Führer in der Politik aufzusuchen.
Oh Mensch! Gieb acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht:
Ich schlief, ich schlief –,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht:
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh –,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –,
will tiefe, tiefe Ewigkeit!
Friedrich Nietzsche