Als ich im Sommer 1948 in China war, befand sich das Land im Bürgerkrieg zwischen den Nationalisten von Marschall Chiang Kai-shek und den Kommunisten Mao Tse-tungs. In Begleitung eines alten Chinesen kam ich bei Sonnenuntergang in einen der Paläste Pekings, von dessen Dach aus man eine herrliche Aussicht nach Norden hatte. Die Anhöhen waren bereits in den Händen der Kommunisten.
Der Alte sagte, daß die Kraft, die dort stünde, seine Heimat verschlingen werde. Er sei bei deren Entstehen Zeuge gewesen, als er am kaiserlichen Hof Dienst tat. Nach der Niederlage des Boxer-Aufstandes hatten die Europäer China einen harten Frieden auferlegt. Deutschland, dessen Gesandter ermordet worden war, forderte, es müsse ein Prinz der Dynastie nach Berlin kommen, um vor Kaiser Wilhelm II. den Kotau zu machen, den Gruß, der nur dem Kaiser von China vorbehalten war. Das war der Tag, an dem der chinesische Kommunismus entstand, da damals die führenden Schichten des Landes erkannten, wie tief ihre Heimat gesunken war.
Die Forderung Kaiser Wilhelms war taktlos und politisch unklug. Sie hatte aber weltweite Folgen. An diese Tatsache denkt man, wenn man die heutige Politik des Europäischen Rates und seines Präsidenten sieht. Denn was in letzter Zeit gegen Österreich getan wird, kann Folgen haben, die sich noch lange Zeit auswirken werden. Gewiß haben die Beschlüsse der EU Herrn Guterres augenblicklich genutzt. Man hat zum ersten Mal jenseits der Grenzen Portugals von seiner Existenz erfahren. Sicherlich werden ihm seine Kollegen in der Sozialistischen Internationale dankbar sein, denn er hat gezeigt, daß es in diesen Kreisen eine internationale Solidarität gibt, die bei anderen politischen Kräften fehlt. In Frankreich wiederum ist es gelungen, die Gegensätze zwischen dem Präsidenten und der Regierung zumindest zeitweise abzubauen. In Belgien konnte Außenminister Michel einen Buhmann schaffen, der die Skandale in Liège oder die Kinderschänderei des Dutroux wenigstens einige Tage vergessen läßt. Michel hätte allerdings besser auch daran gedacht, daß sein Aufruf gegen den österreichischen Fremdenverkehr nur zu sehr an jene Tausend-Mark-Sperre erinnert, mit der der „Führer“ versuchte, Wien wirtschaftlich in die Knie zu zwingen.
Es stünde gewissen Mächten gut an, Österreich nicht allzu laut wegen der Nazi-Vergangenheit anzugreifen. Dies könnte an den Tag bringen, was in der tragischen Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg einige Staaten und Regierungen getan haben. Nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland war es eines seiner ersten Ziele, Österreich zu erobern. Der Angriff setzte bereits 1933 ein. Es gab brutalen Terrorismus mit zahlreichen Bombenanschlägen. Die Demokratien schwiegen und machten Geschäfte mit Berlin. 1934 kam es zur Ermordung von Kanzler Engelbert Dollfuß, dem einzigen Regierungschef, der im Kampf gegen Hitler für sein Vaterland fiel. Nur Italien hat Österreich in dieser Stunde geholfen. 1937 versicherten der britische Botschafter Henderson und der Herzog von Windsor Berlin, es würde nichts geschehen, wenn das Dritte Reich sich Österreich einverleibt. Das hat zu der militärischen Aktion vom März 1938 ermutigt. Durch viereinhalb Jahre hat Österreich sich allein gegen die gewaltige Macht des Dritten Reiches gewehrt. Auch haben sich nach der Okkupation Österreichs die Demokratien sehr beeilt, dem Sieg des „Führers“ zuzustimmen. Mit den USA an der Spitze haben sie alle die Anerkennung ausgesprochen. Einzig Mexiko hatte den Anstand, die Eroberun Hitlers nicht zu legalisieren. Man hat im Laufe des Krieges, auf Drängen Rußlands, das bestrebt war, den Hitler-Stalin-Pakt und die Verbrechen in den baltischen Staaten vergessen zu machen, Österreich der Mitschuld am Kriege geziehen. Dies war umso grotesker, als Österreich bereits seit März 1938 ein besetztes Land war. Dadurch sollten aber die eigenen Schwächen verschleiert werden. Es gab nämlich Akte der Kollaboration mit den Nazis auch in Staaten, die heute zu Gericht über Österreich sitzen. So gab es in Frankreich die „Legion Volontaire Francaise“, die an der Seite des Dritten Reiches bis 1945 kämpfte. In Belgien gab es große Einheiten von Freiwilligen, wie die „Division Charlemagne“, die unter der Führung von Léon Degrelle und Staf De Clerq zu Hitler standen. In Holland wirkte Mussert, in Norwegen Vidkun Quisling und in Frankreich Ministerpräsident Pierre Laval, Darnand, Déat oder der frühere Kommunistenführer Doriot. Es ist verständlich, daß diese Länder an einer Nennung dieser Namen wenig Interesse haben. So ist es nicht erstaunlich, daß man Österreich als Prügelknaben herausstellt und sich freut, hier die seinerzeit unterlassene Widerstandsbewegung an einem neuen und ungefährlichen Objekt nachzuholen. Was derzeit geschieht, ist nicht nur juristisch untragbar, da man ein Land, bevor noch irgend etwas geschehen ist, verurteilt, ohne ihm auch nur einen Augenblick das Recht zuzugestehen, sich zu verteidigen; es schadet auch Europa mehr, als die Herren im Rat erkannt haben. Die EU hat viel von ihrem Ruf eingebüßt, denn die Menschen sind mehr an Gerechtigkeit interessiert, als man glaubt. Nur zu oft kann man das Wort „Heuchelei“ hören. Es ist unerträglich, daß man zugleich vor dem KGB-Massenmörder Putin das Knie beugt. Es ist aber auch schwer zu verstehen, wenn ein Land gegen Österreich zum Kampf für die Demokratie aufruft, das in seiner Regierung den Kommunisten Schlüsselstellungen einräumt, wo doch diese genauso totalitäre, demokratiefeindliche Kräfte sind, wie seinerzeit die Nationalsozialisten. Es ist nur zu hoffen, daß die Österreicher vernünftiger sind als diejenigen, die heute die Hetze gegen das Land veranstalten. Sie sollten nicht wild gewordene Demagogen und politische Ignoranten mit Europa verwechseln, das trotz Guterres, Michel und anderen noch immer die Hoffnung der Völker Europas ist.