Gerne wird uns in der liberalen Presse die Globalisierung als eine Art Naturgesetz verkauft wie der Schneefall im Winter. So wäre es sinnlos, sich dagegen zu wehren, nur vorbereiten müsse man sich auf die künftigen Bedingungen, wie man sich durch Kauf von warmen Mänteln und festem Schuhwerk für den Winter rüstet. Doch dem ist nicht so, bei dieser Behauptung handelt es sich genauso um ein Propagandamärchen wie bei jener, das freie Spiel der deregulierten Märkte würde sich letztlich zum Segen aller auswirken. Viele, und sehr prominente Autoren haben bereits ihre gegenteilige und wohlbegründete Sicht der Dinge kundgetan. Ein Literaturbericht.
Sir James Goldsmith war ein interessanter Mann. Sein Vater entstammte der Frankfurter Familie Goldschmidt, den ersten jüdischen Baronen im deutschen Kaiserreich, und war schon vor dem Ersten Weltkrieg nach London gegangen, wo er zum Großhotelier (Ritz etc.) aufstieg. Sohn Goldsmith (geb. 1933) lehnte jede Erbschaft von seinem Vater ab und machte sein – auf 25 Milliarden Dollar geschätztes – Vermögen mit vielerlei Geschäften selbst, vor allem in Amerika, mit sogenannten „unfreundlichen Übernahmen“. Dabei werden Schwachstellen in gutgehenden Firmen und kleinen Konzernen gesucht, dort angesetzt, um den Betrieb in die Ecke zu treiben, dieser dann günstig übernommen, und, in seine Einzelteile zerlegt, mit riesigem Gewinn weiterverkauft. Kein angenehmer Zeitgenosse also.
Doch dann, im Laufe der 80er Jahre, änderte sich das Weltbild Goldsmiths, und er wurde zu einem der vehementesten Kämpfer gegen GATT und Maastricht, gegen industrialisierte Landwirtschaft und liberalisierten Welthandel. In England und Frankreich ist er in diesem Sinne sogar parteipolitisch tätig, in seinem 1996 erschienenen Buch Die Falle argumentiert er mit vielen Beispielen gegen multikulturelle Gesellschaft und Masseneinwanderung nach Europa, gegen den Euro, die Kernenergie, die Gentechnik u. v. m. Um es gleich zu sagen: Kein anderer hier besprochener Autor geht das Problem so grundsätzlich und umfassend an, und keiner vollzieht in Leben und Werk so entschieden und glaubhaft den Bruch. Die anderen hier zu erwähnenden Bücher widmen sich nur den zerstörerischen Folgen der wirtschaftspolitischen Globalisierung, ja oft nur einem Teilaspekt, nämlich den deregulierten Finanzmärkten als dem Damoklesschwert unserer näheren Zukunft. Goldsmith, der von einem Europa der Vaterländer träumte und mit seinen Thesen in vielerlei Hinsicht bahnbrechend wirkte, war da ein größeres Kaliber. Ein plötzlicher und vorzeitiger Tod beendete vor etwas mehr als einem Jahr das Leben dieses bemerkenswerten Mannes und riß eine kaum zu schließende Lücke in die dünnen Reihen der Streiter für ein neues Europa.
Ebenfalls einen bemerkenswerten Sinneswandel vollzogen hat John Gray, unter Margret Thatcher spiritus rector der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Eisernen Lady, des sprichwörtlich gewordenen „Thatcherism“. Heute aber glaubt der Professor an der London School of Economics nicht mehr an das Funktionieren eines völlig freien Weltmarktes und Laissez-faire-Kapitalismus. Wie er eindringlich deutlich machen kann, wirkt dieser ungemein zerstörerisch auf den sozialen Zusammenhang der Gesellschaften, ihre gewachsenen Kulturen und ihre Werte, und nicht zuletzt auch in ökologischer Hinsicht. „Schlechtes Geld verdrängt gutes Geld“, Unternehmen, die eine soziale und ökologische Verantwortung wahrnehmen, haben keine Chance gegen Konkurrenten, die dies nicht tun. Für Gray ist es zudem ein Aberglaube der Aufklärung, daß die Verbreitung des westlichen Wirtschaftsmodelles auch zu einer Durchsetzung von politischen Prinzipien wie Demokratie und Menschenrechte führen wird. Er zeigt auf, wie sich völlig unterschiedliche Kapitalismen herausbilden, die, je nach den Grundstrukturen der verschiedenen Kulturen, auch anders funktionieren.
Dabei lehnt Gray – das ist festzuhalten – Marktwirtschaft und Kapitalismus (wie alle hier besprochenen Autoren) nicht ab, und er weiß auch, daß die Globalisierung der neuen Informationstechnologien die Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen jedes Landes verändern wird. Ihm aber geht es um einen sozialen und ökologischen Kapitalismus und darum, daß jede Kultur eine ihr gemäße Form der Marktwirtschaft entwickeln muß. Laissez-faire und freie Marktwirtschaft wurzeln nun – so der Autor – allenfalls in der anglo-amerikanischen Welt, schon in Mitteleuropa herrschen andere Vorstellungen: Kaum ein europäisches Land würde das Ausmaß an sozialem Elend akzeptieren, das in Amerika selbstverständlich und Triebkraft der wirtschaftlichen Entwicklung ist. Gray macht in seinem Buch auch die selbstzerstörerischen Tendenzen dieses Systems, das die USA der ganzen Welt aufzuzwingen suchen, deutlich. In der Warnung vor dem Kapital, das auf der Suche nach immer größeren Profiten immer schneller und unberechenbarer um den Erdball rast, trifft er sich mit George Soros, dem dritten bemerkenswerten Autor aus dem innersten Kreis der Insider des internationalen Monokapitalismus. Sohn eines jüdischen Rechtsanwaltes in Budapest ist Soros heute einer der mächtigsten Männer der Welt. 1992 erschütterten seine Spekulationen die britische Währung: Der Pfund mußte massiv abwerten und aus dem europäischen Währungssystem ausscheiden, Soros verdiente rund eine Milliarde US$ (eine ähnliche Attacke auf den österreichischen Schilling wurde aber von der damaligen Nationalbank-Präsidentin Maria Schaumayr erfolgreich abgewehrt).
Als Marktteilnehmer verhält sich Soros nach wie vor gemäß den Regeln der deregulierten Finanzmärkte und verfolgt das Ziel der Gewinnmaximierung, als politisch denkender Mensch fordert er von den souveränen Staaten aber die Durchsetzung neuer Spielregeln, damit eben diese Finanzmärkte in Zukunft keine zerstörerische Wirkung mehr entfalten können. Denn in letzter Zeit hätten sie, so schreibt er „wie eine Abrißbirne funktioniert: Eine Wirtschaft nach der anderen haben sie zusammenbrechen lassen.“ Und ehrlich bekennt er: „Wenn Leute wie ich Währungsregime stürzen können, stimmt das System nicht“. Wie Gray setzt Soros als Realist aber wenig Vertrauen in die Regelungskompetenz der Politik: eine tiefgreifende Reform vor einem durch die ungeregelte Spekulationstätigkeit verursachten Kollaps des gesamten Weltwirtschaftssystems gilt ihm als unwahrscheinlich.
Über diese für die Wirkweise der Finanzmärkte aufschlußreiche Analyse hinaus bietet Soros’ Buch allerdings nur wenig Substantielles: Das liegt daran, daß es vor allem der Selbstdarstellung des Autors dient, der gerne als „Philan
throp“ (so mehrfach wörtlich) angesehen werden möchte und kapitelweise über seine diesbezüglichen Aktivitäten (mittels hochdotierter Stiftungen in aller Welt) berichtet. Ziel dieser Stiftungen ist es, die „offene Gesellschaft“ voranzutreiben. Darüber hinaus träumt Soros wortreich von einer möglichen Weltregierung und ähnlichen Utopien.
Im Unterschied zu den eher allgemein gehaltenen Proklamationen des Spekulanten George Soros ist Peter Warburtons Buch Die Schuldenmaschine ungleich substantieller. Der Autor, Jahrgang 1954, ist einer der angesehensten Finanzanalysten und Wirtschaftskommentatoren in Großbritannien, mehrfach ausgezeichnet für die Genauigkeit seiner Prognosen. Auch sein Buch ist vor allem der Problematik der Finanzmärkte gewidmet, aber dabei so tiefschürfend und genau erklärend geschrieben, daß der Leser tatsächlich den Eindruck erhält, nun – endlich – einen echten Einblick in die behandelte, hochkomplexe Materie gefunden zu haben.
Warburton warnt auch detailreich vor dem Projekt des Euro, das er als völlig verfrüht und wirtschaftspolitisch katastrophal einstuft, darüber hinaus hält er eine Deflation für die eigentliche, und zwar massive Gefahr der näheren Zukunft, wobei auch hier die Analyse in ihrer Detailgenauigkeit weit über das Maß anderer Bücher hinausgeht. Der Autor schließt seine Ausführungen mit dem Satz: „Und nun müssen wir uns auf eine Explosion vorbereiten, die das westliche Finanzsystem bis in seine Grundfesten erschüttern wird.“
Das vielleicht materialreichste Buch zum Thema hat William Greider unter dem Titel Endstation Globalisierung geschrieben. Auf 912 Seiten analysiert er die wirtschaftliche Entwicklung in Malaysia, Japan und China, in Europa und – mit Schwerpunkt, denn Greider gilt als amerikanischer „Starjournalist“ – in den USA. Greider bekennt sich offen als Keynesianer, er hofft auf eine „Europäisierung“ der amerikanischen Wirtschaft, Stichwort „ökosoziale Marktwirtschaft“. Letztlich sieht auch er in der Einführung von Schutzzöllen die Grundbedingung für eine gedeihliche weltwirtschaftliche Entwicklung. Ihrer zeitgerechten Durchsetzung jedoch räumt er wenig Chancen ein und sieht die Welt am Vorabend „einer ökonomischen und sozialen Katastrophe“. Gerade der naturgemäß amerikanische Standpunkt der Analyse macht das Werk auch für den europäischen Leser interessant: Nach Greider übernehmen sich die USA schlichtweg durch die jahrelange Übernahme der weltweiten Überschüsse, die sich negativ auf ihre Außenhandelsbilanz auswirken. Die Folge wird sein, daß die Amerikaner bald weniger reich und mächtig sein werden als bisher, was, so der Autor in erfrischender Ehrlichkeit, eine Aussicht ist, die vom Standpunkt der Menschheit als solcher „weder tragisch noch ungerecht, sondern eine positive Entwicklung für die Welt als Ganzes“ sei.
Im Unterschied zu Gray aber, der auf eine „Ethnisierung“ der Marktwirtschaft setzt, hofft Greider auf die Herausbildung eines „Weltethos“, da im Zuge der unaufhaltsamen technologischen Globalisierung die Unterschiede zwischen Kulturen und Völkern geringer und das Gemeinsame stärker erkannt wird; die Nationalstaaten bleiben als einzig denkbare Kontrollore und Regulatoren freilich nach wie vor bedeutsam.
Aus der großen weiten Welt in die heimischen Gefilde zurückkehrend, ist ein erst in diesem Jahr vom sozialistischen Landeshauptmann-Stellvertreter der Steiermark, Peter Schachner-Blazizek, herausgegebenes Buch zu erwähnen. Bedeutende Experten widmen sich hier unter dem Aspekt der Globalisierung den Fragen Ökonomie, Landwirtschaft, Nationalstaat und Sicherheit. Da es sich um die Dokumentation einer Enquete handelt, sind – leider – auch alle Diskussionsbeiträge, sogar aus dem Publikum, getreulich wiedergegeben. Sinnvoller wäre es gewesen, den Referenten Gelegenheit für die Ablieferung eines ausführlicheren Beitrages zu geben, womit ein ungleich höheres Niveau erreicht hätte werden können. Nichtsdestotrotz: Die Enquete, in die auch Persönlichkeiten wie Josef Riegler und Andreas Mölzer eingebunden waren, macht deutlich, daß auch das sozialistische Österreich den Handlungsbedarf des Nationalstaates im Zeitalter der Globalisierung begriffen hat. Ja, in mancherlei Hinsicht könnte die gestandene Sozialdemokratie für jeden echten Globalisierungsgegner ein wichtigerer Verbündeter sein, als die von neoliberalen Ideen reichlich durchtränkten „bürgerlichen“ Parteien FPÖ und ÖVP.
Wobei wir hier vielleicht nochmals deutlich machen sollten: Eine „Globalisierung“ durch neue Kommunikations- und Produktionstechnologien ist unzweifelhaft gegeben und unaufhaltsam. Sowohl in diesem Artikel als auch den hier abgehandelten Autoren ging es also ausschließlich um Kritik an einem durch eine fehlgeleitete Wirtschaftspolitik angestrebten, deregulierten Weltmarkt mit fatalen Auswirkungen auf die jeweiligen Nationalökonomien.
Dabei ist der interne Klärungsprozeß in den Reihen der Sozialdemokratie leider noch bedauerlich gering fortgeschritten. So macht einerseits die österreichische Arbeiterkammer gemeinsam mit dem Konzern Libro Stellung gegen die Buchpreisbindung und unterstützt damit ein (momentan gerade noch abgewendetes) Paradebeispiel für die Ausweitung der Macht der Händler gegenüber den Produzenten ebenso wie der Macht der Konzerne gegenüber den kleinen Händlern und den Konsumenten. Andererseits erscheinen Bücher wie Die zehn Globalisierungslügen, geschrieben von einem deutschen Sozialdemokraten und einem Grünen, in dem altsozialistische und historisch überholte Vorurteile breit ausgewalzt und als „Alternativen“ zur Globalisierung verkauft werden, erstaunlicherweise im dtv-Verlag. So beklagen die Autoren, daß Menschen die im Laufe ihres Lebens geschaffenen Werte ihren Kindern vererben dürfen, oder daß Frauen die Kindererziehungszeiten via Sozialversicherungssystem auf die Rente angerechnet werden. Ein Klärungsprozeß innerhalb der Sozialdemokratie hinsichtlich eines Abschieds von altmarxistischen, klassenkämpferischen und kinderfeindlichen Modellen ist dringend nötig; ob er in Österreich von einer nach 30 Jahren Regierungstätigkeit in die Opposition gestoßenen Partei bewältigbar ist, wird die Zukunft weisen.
Doch was wäre die Alternative? Das Buch Die Krise des Kapitalismus gibt Auskunft: Die hier versammelten Autoren haben für Die Welt im Rahmen einer Artikelserie Beiträge geliefert. Mehr oder minder internationale Wirtschaftsexperten, deren Credo – mit wenigen Ausnahmen – sich wie folgt zusammenfassen läßt: Nur grenzenloser Kapitalismus bringt Wohlstand. Wenn wir heute von einer Krise des Kapitalismus sprechen, dann nur, weil er eben noch nicht grenzenlos ist: Also muß Europa all seine kulturellen, familiären und religiösen Traditionen über Bord werfen, um fit zu werden für den globalisierten Kapitalismus, der keine Schranken hinsichtlich Arbeitszeitbeschränkungen, Arbeitnehmerschutz oder des kulturellen Zusammenhalts der Gesellschaften mehr kennt.
Brave new world? Nicht zuletzt die Richtungsentscheidung innerhalb der Sozialdemokratie wird es weisen, ob noch rechtzeitig eine breite, europaweite, lagerübergreifende Allianz gegen den mörderischen Raubtierkapitalismus und seine fatalen sozialen, ökologischen und kulturellen Folgen gefunden werden kann.