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Pius XII.

Von Elmar Walter

Zur Ehre eines großen Papstes

Es entspricht der heute die Öffentlichkeit verpflichtenden p.c., das Pontifikat Pius XII. und seine Persönlichkeit in ungerechtfertigter Weise herabzuwürdigen. Als Beispiel für diese Art medialer Entstellung kann der Beitrag Hans Jakob Stehles in der PRESSE von 8. März d.J. angeführt werden. Stehle hat darin auch implizit Kritik an der Erklärung der Internationalen Theologischen Kommission zur Frage des angeblichen Versagens der mit der  NS-Judenverfolgung konfrontierten Katholischen Kirche geübt. Nehmen wir höflicherweise an, daß dieses Vorurteil Stehles auf historische Unkenntnis und nicht auf ideologische Einäugigkeit oder gar Bosheit zurückzuführen ist. Vielleicht sollten wir dazu das Bonmot eines klugen und weitsichtigen österreichischen Staatsmannes – Bruno Kreisky – zitieren: „Lernen Sie Geschichte“!

Eine Beurteilung des Pontifikates Pius XII. ist nämlich ohne eine Würdigung der 1917 bis 1990 bestehenden kirchenpolitischen Situation nicht möglich. Seit der russischen Revolution sah sich ja die katholische Kirche – und nicht nur sie – der schlimmsten Christenverfolgung seit der Zeit des römischen Kaisers Diokle
tian (230/284–305 n.Chr.) und in der Sowjetunion sowie ab 1944 auch in (Süd)ostmitteleuropa der konsequentesten, öffentlich geförderten Religionszerstörung seit der Französischen Revolution gegenüber. Was wäre wohl in Mittel- und Westeuropa geschehen, hätte die Rote Armee den Atlantik erreicht, das heißt, hätte die Wehrmacht nicht an der Ostfront bis zu ihrer endgültigen Niederlage in Berlin gekämpft. Auch gaben die Ereignisse während des Spanischen Bürgerkriegs 1936–1939 einen Vorgeschmack dessen, was eine Machtübernahme der Kommunisten für Religion und Kirche z.B. in Frankreich oder Italien hätte mit sich bringen können.
Das Dilemma, dem sich Pius XII. gegenübersah, bestand nun darin, daß trotz eines zunehmenden und sich ab 1941 radikalisierenden Kampfes des NS-Regimes gegen Kirchen und Religion sich die neuheidnische Verfolgung der Christgläubigen im Deutschen Reich nach 1933 in keiner Weise mit den gleichgerichteten Gewaltexzessen in jenen Ländern vergleichen ließ, wo Marxisten die Alleinherrschaft an sich gerissen hatten. Im Gegenteil: die Konkordatsregelungen wurden, wohl mehr schlecht als recht, zum Gutteil doch eingehalten.
Heute ist es natürlich bequem, die wirkliche oder angebliche Passivität des Heiligen Stuhls angesichts der besonders mit Beginn des Rußlandfeldzugs im deutschen Herrschaftsbereich ausufernden Judenverfolgung anzuprangern und zu fordern, der Vatikan hätte dieser Entwicklung bedingungslosen Widerstand entgegensetzen und erste, ja alleinige Priorität zuordnen sollen. Aber ganz so einfach, wie es sich etwa Rolf Hochhut in seinem „Stellvertreter“ vorstellt, waren eben die kirchenpolitische Situation des Heiligen Stuhls und die persönlichen sittlich-moralischen Alternativen, denen sich Pius XII. gegenübersah, damals nicht. Der Pontifex wurde ständig vor die Wahl gestellt, zwischen zwei Übeln gleicher Qualität, aber, was seine Kirche betraf, ungleicher Radikalität, zu entscheiden. Man kann also den in jeder Hinsicht persönlich untadeligen Papst nicht um den moralischen Zwiespalt beneiden, in dem er sich während des Höhepunkts des Zweiten Weltkriegs ununterbrochen befand. Seine Optionen waren Scylla oder Charybdis. Hier die rassistische Verfolgung des für das Christentum konstitutiven Volks, dort ein konstitutiv atheistischer Staat, der die Auslöschung von Religion und Kirche zugunsten eines materialistischen Paradieses jetzt und hier auf Erden auf seine Fahnen geschrieben hatte.
Der insgeheime Vorwurf der meisten Kritiker Pius’ XII. besteht nun in der Regel darin, daß er bei der Lösung des ihm gestellten politisch-sittlich-moralischen Problems gewissermaßen „die falsche Wahl“ getroffen, also versagt habe, und daß diese Fehlentscheidung auf des Papstes „unglückliche Liebe zu Deutschland“ (Stehle) zurückzuführen sei. Doch dieser Vorwurf zeugt nur von der Voreingenommenheit derer, die ihn erheben. Zunächst: Was ist an der Deutschfreundlichkeit Pius’ XII. an sich so verurteilenswert? Könnten nicht andere Päpste vor ihm der Franko-, Hispano- oder Italophilie geziehen werden, deren politische Objektivität deshalb in gewissen Situationen ebenfalls getrübt gewesen sein muß. Muß jeder „gute“ Mensch ein Deutschenfeind (gewesen) sein?
Doch unabhängig von der subjektiven Neigung Pius’ XII. gegenüber Deutschland und den Deutschen –, durfte und mußte der Pontifex denn das Verhalten mancher (süd)osteuropäischer Völker bei der Vertreibung von 14 Millionen Deutschen und den Bombenkrieg der Alliierten gegen die Zivilbevölkerung, gipfelnd im Abwurf der (zweiten) Atombombe auf Nagasaki, ausgerechnet dem Zentrum der japanischen Christenheit, nicht genauso verurteilen wie die rassistischen Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden? Eines stand Mitte der vierziger Jahre jedenfalls fest: Ein nach dem alliierten Sieg möglicherweise kommunistisches (Mittel)europa konnte nicht im Interesse des Vatikan liegen. Politisch nicht und gerade auch moralisch nicht.
Daher, um uns abschließend der zeitgeistigen p.c. zu bedienen: Einerseits hatte die katholische Kirche und der Papst die moralische Pflicht, der gnadenlosen Verfolgung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu gebieten. Andererseits war es sicher, daß im Falle einer vorzeitigen Kapitulation des Reichs ähnliches unter marxistischem Vorzeichen in Mittel- und Westeuropa geschehen würde – mit den Christen und ihren Kirchen als Opfer –, und so der Vatikan ebenfalls alles unternehmen mußte, um aus kirchen- und religionspolitischen Gründen eine solche Entwicklung zu verhindern. Leider schloß sich die gleichzeitige Verfolgung beider Ziele gegenseitig aus – ein besonders tragisches Lehrstück für die der Geschichte stets innewohnende Tragik.
Wer unter den moralisierenden Kritikern Pius’ XII. wagt oder vermag sich überhaupt in die Position des Pontifex zu versetzen? Hochmut und historische Einfalt, selbstgerechtes Im-nachhinein-Besserwisser sind immer schlechte Ratgeber bei einer Urteilsfindung.

 
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