Besteht eine Vergleichbarkeit mit jenen des Nationalsozialismus?
Schon allein die Fragestellung gilt in Zeiten der „politischen Korrektheit“ für einen Ausweis „neonazistischer Gesinnung“. Das von den Medien vermittelte, volkspädagogisch erwünschte Geschichtsbild erlaubt solche Fragestellungen nicht. Der Autor dieses Beitrags, ein Jesuitenpater, stellt die Frage trotzdem und weist darauf hin, daß man ihm nur schwerlich NS-Sympathien wird vorwerfen können, hatte er doch bereits als 12jähriger ein dreistündiges Verhör durch die Gestapo zu bestehen und 1944/45 zwanzig weitere „Begegnungen“ mit ihr, während sein Vater als Regimegegner zum Tode verurteilt wurde.
Darf man vergleichen? Vergleichen ist jedenfalls etwas anderes als aufrechnen. Ein Verbrechen entschuldigt nicht ein anderes, ein Unrecht kann daher auch nicht gegen ein anderes aufgerechnet werden.
Die „Einzigartigkeit“ des nationalsozialistischen Massenmordes an den Juden soll aber in den Augen vieler auch der Vergleichbarkeit enthoben sein. Manche wollen dies sogar in die Verfassung aufnehmen: So beantragten die Bonner Abgeordneten der Grünen im September 1990 eine befristete Neuformulierung der Präambel des Grundgesetzes zu beschließen. Statt „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ solle künftig mit den Worten begonnen werden: „Im Bewußtsein der Kontinuität deutscher Geschichte und besonders eingedenk der zwischen 1933 und 1945 begangenen beispiellosen Gewalttaten des Nationalsozialismus und in der Achtung vor dessen Opfern…“
Doch eine solche, immer wieder vorgebrachte Haltung bleibt nicht ohne Widerspruch: Kürzlich tagte in Freiburg eine Gruppe von Historikern aus Israel und Deutschland. Es ging, wie nicht anders zu erwarten, um die „Bewältigung von Auschwitz“. Jehuda Bauer, Leiter des Forschungsinstituts von Yad Vashem, bestand auf der Einzigartigkeit des jüdischen Schicksals. Der deutsche Historiker Christian Gerlach hingegen erklärte: „Ich erkenne keine Opfergruppen minderer Klasse.“ Bauers Haltung betrachtet er als Hierarchisierung der Opfer („Die Welt“, 18. Mai 2000).
Auch der estnische Staatspräsident Lennart Meri sagte vor einigen Jahren am Tag der Heimat in Berlin: „…Warum zeigen die Deutschen so wenig Respekt vor sich selbst? Deutschland ist eine Canossa-Republik geworden, eine Republik der Reue… Man kann einem Volk nicht trauen, das rund um die Uhr eine intellektuelle Selbstverachtung ausführt. Diese Haltung wirkt auf mich als ein Ritual, eine Pflichtübung, die überflüssig und sogar respektlos gegenüber unserem gemeinsamen Europa dasteht…“
Schon Kardinal Faulhaber schrieb am 2. Mai 1945 an seinen Diözesanklerus: „…In den Konzentrationslagern Buchenwald und Dachau sind himmelschreiende Unmenschlichkeiten vorgekommen, die jeder vernünftige Mensch verabscheut. Ich bitte aber, für diese schrecklichen Zustände, die von einzelnen Unmenschen verschuldet sind, nicht alle SS oder gar das Volk verantwortlich zu machen, das von diesen Zuständen nichts wußte und für jedes Wort der Kritik selber nach Dachau gebracht worden wäre.“ Er fuhr fort: „Ich bitte nicht zu vergessen: Wenn all diese furchtbaren Leiden, die durch die Fliegerangriffe über unsere Städte kamen, wenn die Leichen der verschütteten oder verbrannten oder in Stücke gerissenen Menschen, auch Frauen und Kinder, auch nur einer einzigen Stadt zusammengestellt und in Lichtbildern aufgenommen werden könnten, ein solches Gesamtbild wäre nicht weniger schrecklich als die Bilder, die jetzt von den Konzentrationslagern aufgenommen werden. Die Welt wird sich entrüsten über diese Bilder von den Konzentrationslagern, der Krieg hat aber auch noch andere Schreckensbilder mit sich gebracht.“
Der Hang, im Massenmord an den Juden eine weltgeschichtliche Einzigartigkeit zu erblicken, ist also schon früh und von verschiedener Seite aus kritisiert worden.
Inzwischen gibt es das Schwarzbuch des Kommunismus, in dem festgestellt wird, daß durch den Bolschewismus bisher etwa 100 Millionen Menschen umgekommen sind. 100 Millionen sind natürlich ein Vielfaches von 6 Millionen. Doch mit dieser Tatsachenfeststellung können jene Morde genausowenig verharmlost wie ungeschehen gemacht werden. Von „Einzigartigkeiten“ zu sprechen, ist allerdings ein Problem.
Lediglich die Art der Tötung in Gaskammern war einmalig, ebenso wie der systematisch geplante Hungertod der Kulaken, dem zahlenmäßig mehr Menschen zum Opfer fielen als in den Gaskammern der Nazis.
In diesem Jahr erschien auch die zweite Auflage des Buches von Adam Hochschild, „Schatten über dem Kongo“. Es behandelt die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen. Im Kongo, der jahrelang Privateigentum des belgischen Königs Leopold II. war, wurden durch Mord, Terror und Seuchen von einer Bevölkerung von ursprünglich 20 Millionen Menschen binnen 18 Jahren etwa 10 Millionen, also die Hälfte der Bevölkerung, ausgelöscht. Dabei wurde Leopold in Europa als „philanthropischer Monarch“ gepriesen. Erst als durch die Berichte einiger mutiger Männer die unvorstellbaren Greuel aufgedeckt wurden, wurde Leopold gezwungen, sein „Privateigentum“ an den belgischen Staat zu verkaufen.
Es geht also nicht darum, Verbrechen zu relativieren, sondern darum, aufzuzeigen, daß man mit Behauptungen wie „das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte“ etwas vorsichtiger sein sollte. Denn das könnte sonst zum Schluß führen, Juden oder andere, wie die Zigeuner, seien wertvollere Menschen als Nichtjuden und Nichtzigeuner, und damit wären wir bei der NS-Ideologie mit verkehrten Vorzeichen.
Die Vertreibung von insgesamt 18 Millionen Deutschen aus Gebieten, in denen sie jahrhundertelang unangefochten siedelten, ja die zum größten Teil ebensolange zu Deutschland gehörten, war nicht bloß ein Unrecht, sondern ein in der Geschichte jedenfalls dem Umfang nach einmaliges Verbrechen, das bis auf den heutigen Tag ungesühnt ist.
Der große Freund der Deutschen, Papst Pius XII., nannte in einem Brief an die deutschen Bischöfe vom 1. 3. 1948 die zwangsweise Vertreibung der Ostdeutschen bei entschädigungsloser Enteignung „ein in der Vergangenheit Europas beispielloses Vorgehen, über dessen rechtliche, wirtschaftliche und politische Gesichtspunkte die Geschichte einmal urteilen wird. Wir fürchten freilich, daß ihr Urteil streng ausfallen wird. Wir glauben zu wissen, was sich während der Kriegsjahre in den weiten Räumen von der Weichsel bis zur Wolga abgespielt hat. War es jedoch erlaubt, im Gegenschlag zwölf Millionen Menschen von Haus und Hof zu vertreiben und der Verelendung preiszugeben? Sind die Opfer jenes Gegenschlages nicht in der ganz überwiegenden Zahl Menschen, die an den angedeuteten Ereignissen und Untaten unbeteiligt, die ohne Einfluß auf sie gewesen waren?...Ist es wirklichkeitsfremd, wenn wir wünschen und hoffen, es möchten alle Beteiligten zu ruhiger Einsicht kommen und das Geschehene rückgängig machen, soweit es sich noch rückgängig machen läßt?“
In der Einführung zum Buch „Der Todesschlaf Europas“ des Innsbrucker Professors Ivo Höllhuber schreibt Dr. Alfred Schickel, der Leiter der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt: „Die deutsche Jugend weiß sehr viel über die Verbrechen der Deutschen, jedoch im allgemeinen recht wenig über die Verbrechen der anderen Seite, vor allem kaum etwas über die Millionen Deutschen, die die Vertreibung aus ihrer Heimat das Leben kostete. Während weit über 100 Filme über die Missetaten der Himmler-Leute im deutschen Fernsehen zu sehen waren, gab es nur einen einzigen kurzen Dokumentarbericht zum Thema ‚Flucht und Vertreibung‘ im Jahr 1981. Tatsächlich kennt fast jeder Oberschüler den Namen ‚Auschwitz‘, aber kaum das Lager Lamsdorf.“
Und der amerikanische Historiker Professor Austin Arp schrieb in „History’s most terrifying Peace“: „Potsdams ‚Aussiedelung in ordnungsgemäßer, menschlicher Art und Weise‘ schloß sogar die Vergewaltigung in sich: dies ist in Wahrheit die niederschmetterndste Scheußlichkeit in der ganzen Geschichte (2 Millionen Frauen und Mädchen – darunter viele Kinder – wurden vergewaltigt, 200.000 sind dabei umgekommen, Anm. d. V.). Es war vorbedacht, brutal und ungeheuerlich – und es ist ein von den Alliierten verübtes Verbrechen. Es ist ein amerikanisches, britisches, russisches Morgentau- und Potsdam-Verbrechen. Neun Millionen Menschen wurden von ihrem Heim vertrieben, all ihres Besitzes beraubt und wie das Vieh aus ihrem Land verstoßen, von denen eine große Anzahl an Hunger und Krankheit starb... Die Massenplünderung und Austreibung ist ein so umfangreiches und schreckliches Verbrechen, angesichts dessen alle wirklichen und zugeschriebenen deutschen (oder NS-) Verbrechen klein erscheinen. Nach all dem haben die Deutschen noch Grund genug, sich vor Gott schuldig zu fühlen. Aber sie haben keinen Grund, sich vor den Großen Drei schuldig zu fühlen. Jeder Deutsche, der sich vor den Alliierten schuldig fühlt, ist ein Narr. Jeder Amerikaner, der meint, er sollte dies, ist ein Schuft.“
Betrachten wir im folgenden, als Beispiel, wie es zur Vertreibung der Sudetendeutschen gekommen ist.
Die Sudetendeutschen waren 1919 gegen ihren entschiedenen Willen und gegen das proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker in den tschechischen Staat hineingezwungen worden. Als sich ihre Kundgebungen häuften und sie energisch die Heimkehr ins Reich verlangten, reiste Chamberlain zweimal nach Deutschland. Hitler verlangte eine Grenze, die mit der Sprachgrenze übereinstimmte. Diese Forderung fand nicht nur die Unterstützung Englands und Frankreichs, sondern auch der USA. Sogar Polen stand auf der Seite der Achsenmächte. Marschall Ridz Smigly äußerte offen, daß „die Tschechoslowakei ein aus verschiedenen, einander feindlichen Rassen zusammengesetzter Staat sei, dazu bestimmt, von der europäischen Landkarte gestrichen zu werden, und daß Polen das Recht habe, nach eigenem Gutdünken zu handeln“. Der polnische Außenminister Beck erklärte: „Wir werden uns nur gegen die Tschechen schlagen.“
Die Münchener Konferenz vom 29. September 1938 führte schließlich zu einer Übereinstimmung, die Hitler gestattete, jene Territorien dem Deutschen Reich einzuverleiben, in denen das Vorherrschen der deutschen Bevölkerung außer Zweifel stand. Die Besetzung des Sudetengebietes wurde auf den 1.–10. Oktober 1938 festgelegt. Die Grenze sollte durch eine internationale Kommission festgelegt werden. Daladier wurde in Paris bejubelt, desgleichen Chamberlain in London. Trotzdem wird heute behauptet, daß das Münchener Abkommen nur durch Gewalt erzielt worden sei. Dem stehen eine Anzahl internationaler Rechtsgutachten entgegen, die besagen, daß die Vereinbarungen von München einen gültigen Pakt darstellen, der nie seiner juristischen Gültigkeit entkleidet werden kann.
Die Tschechoslowakei hatte anfangs den Vorschlag der Westmächte, alle „Gebiete mit mehr als 50 % deutscher Bevölkerung“ an das Deutsche Reich abzutreten, abgelehnt, aber in einer Note vom 21. 9. 1938 an die Westmächte schließlich doch angenommen. Das Münchener Abkommen selbst führte keine Gebietsabtretung herbei, sondern legte nur die Modalitäten fest. Schließlich gingen die ultimativen Forderungen hinsichtlich des Sudetenlandes von den eigenen Bundesgenossen aus.
Otto von Habsburg, ein geschworener Feind Hitlers, erinnert im Zusammenhang mit der Forderung nach der Ex-Tunc-Annulierung des Münchener Abkommens an die Entstehung der Tschechoslowakei in seinem Buch „Damals begann unsere Zukunft“:
„Sie ist ein Schulbeispiel dafür, wie man mit Lüge und Gewalt nicht nur eine große nationale Gruppe um ihr Selbstbestimmungsrecht prellen, sondern auch die sittlichen Grundsätze des Völkerrechts in Mißkredit bringen und das Vertrauen der Menschen in die Idee des Friedens zerstören kann... Im September 1938 haben die vier großen Nationen Europas, Briten, Deutsche, Franzosen und Italiener, denen Polen, Slowaken und Ungarn ausdrücklich zustimmten, den sieben Millionen Tschechen nichts anderes aufgenötigt als die Entlassung der dreieinviertel Millionen Sudetendeutschen aus der ihnen aufgezwungenen Herrschaft... Die Heimatvertriebenen brauchen nicht um Verzeihung zu bitten, weil sie von dem Boden verjagt wurden, den ihre Ahnen schon urbar gemacht haben, als Amerika noch lange nicht entdeckt war.“
Und Starkbaum und Father Reichenberger schreiben in ihrem Buch „Heimat der Sudetendeutschen. Widerlegung der tschechischen Kolonisationstheorie“: Es ist festzustellen, „daß der Haß, der Vernichtungswille und die Feindschaft der Sudetenslawen gegen die Deutschen unvergleichlich größer und grauenhafter war als umgekehrt. So haben die Deutschen während des mehr als tausendjährigen Nebeneinanders mit den Sudetenslawen niemals Grausamkeiten und Bestialitäten in einem derartigen Ausmaß begangen, wie sie sich die Tschechen bloß in der Hussitenzeit und im Jahr 1945 den Sudetendeutschen gegenüber zuschulden kommen ließen.“
Der Einmarsch in die Tschechoslowakei am 15. März 1939 war hingegen eindeutig ein Rechtsbruch, doch kam es weder vor noch nach der Errichtung des Protektorates zu einem wahrnehmbaren Widerstand der Tschechen. Sie erhielten dieselben Lebensmittelrationen wie die Deutschen, und es bestand eine gute Zusammenarbeit zwischen ihnen und der Besatzungsmacht. Diese Entwicklung war für die Alliierten und Benesch unerträglich. Deshalb wurde die Ermordung von Heydrich beschlossen. Die beiden Mörder Heydrichs, Kubic und Gabcik stammten aus Lidice. Daher entstand die Auffassung, daß die Attentäter von Lidice operiert hätten. Um ein Exempel zu statuieren, wurden 184 Männer aus Lidice erschossen, 135 Frauen kamen ins KZ, die Kinder wurden staatlichen Anstalten übergeben und das Dorf dem Erdboden gleichgemacht. Damit hatte die Regierung genauso reagiert, wie es London erwartet hatte. Die unmenschliche Vergeltung sollte die sich anbahnende Aussöhnung zwischen Deutschen und Tschechen zerstören.
Über das Leben im sog. Protektorat findet sich ein interessanter Bericht bei dem Wahlfranzosen Ferdinand Otto Miksche. Er ist gebürtiger Österreicher, ging als tschechischer Oberstleutnant nach Frankreich, um als Oberst im Stab von General de Gaulle gegen Hitler zu kämpfen. In seinem 1990 erschienenen Buch „Das Ende der Gegenwart“ schreibt er:
„Eine verbreitete organisierte Widerstandsbewegung wie in Frankreich gab es nicht. Weder in Böhmen noch in Mähren. Gewiß fühlten sich die Tschechen nicht glücklich, ihre Masse verhielt sich aber nach dem Vorbild ihres Nationalhelden Schwejk.
Dies änderte sich erst nach dem Attentat vom 27. Mai 1942 auf den Reichsprotektor Heydrich. Inzwischen lief die Verwaltung in tschechischer Amtssprache weiter. Hitler bewilligte den Tschechen sogar eine kleine Armee von 16.000 Mann, die an deutscher Seite z. T. in Italien eingesetzt wurde. Erst im Herbst 1944 brach in der Slowakei unter kommunistischer Führung ein größerer Aufstand aus, der von der SS niedergeschlagen wurde. Trotz des Verlustes der Selbständigkeit lebten die Tschechen während des Krieges besser als unter der Herrschaft der Kommunisten. Ihr Land wurde von Bombenangriffen verschont. Sie mußten keinen Militärdienst leisten. Ihre Industrien, von den Deutschen weiter ausgebaut, arbeiteten auf Hochtouren für Hitlers Kriegsmaschine.
Im Bereich wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit dem Dritten Reich lagen die Tschechen an zweiter Stelle hinter den Belgiern. Nie seither kassierten tschechische Arbeiter so hohe Löhne wie in Hitlers Protektorat, während sich die Bauern am Schwarzmarkt bereicherten. Die Verpflegungslage war besser als im Reich und die Zahl der politisch Verfolgten im allgemeinen nicht größer als in Deutschland selbst.
Der mit Unterstützung des Dritten Reiches entstandene slowakische Nationalstaat, bejaht vom überwiegenden Teil der Bevölkerung, wurde damals als eine ‚Donau-Schweiz’ betrachtet.“ Zu Kriegsende aber brauste ein Sturm der Gewalt durch das Land. In Prag wurden verwundete deutsche Soldaten als lebende Fackeln an Straßenlaternen gehängt, in Aussig warf eine aufgehetzte Meute sogar Kinderwagen in die Elbe und schoß auf die ins Wasser springenden Mütter, die ihre Kinder retten wollten.
Drei Millionen Menschen wurden von Haus und Hof vertrieben, und Benesch rief aus: „Laßt ihnen nur ein Taschentuch, in das sie ihre Tränen weinen können.“ 241.000 Sudetendeutsche fanden den Tod, teils bei Massakern, bei Todesmärschen, aber auch in Konzentrationslagern wie Theresienstadt, das von den Tschechen weiter betrieben wurde.
An dieser Stelle muß erneut gefragt werden, inwieweit diese Massenverbrechen vergleichbar sind. Hier ist vor allem ein Punkt festzuhalten. Nach übereinstimmender Aussage von Tätern, also konkret KZ-Schergen, wie auch deren Opfern steht fest: Wenn man von der sog. „Reichskristallnacht“ 1938 absieht, geschahen die Verbrechen des NS unter strikter Geheimhaltung, während die Verbrechen der Vertreibung der Deutschen nicht nur in aller Öffentlichkeit geschahen, sondern an ihnen – im Gegensatz zu den vielleicht Tausenden KZ-Schergen – viele Zehntausende Russen, Polen, Tschechen, Jugoslawen usw. beteiligt waren. Der Name Auschwitz steht heute als Synonym für die Verbrechen, die von Deutschen begangen wurden. Aber nachdem lange Jahre hindurch behauptet wurde, in Auschwitz seien vier Millionen Juden ermordet worden – die entsprechenden Tafeln wurden erst 1991 entfernt –, gilt es festzuhalten, daß nach dem Leiter der historischen Abteilung des Auschwitzmuseums, Frantisek Piper, dort zwischen ein und eineinhalb Millionen Menschen ums Leben gekommen sind. Von ihnen ist eine nicht bekannte Zahl an Seuchen gestorben. Es waren aber unter den Opfern auch zahlreiche Nichtjuden. Am bekanntesten unter ihnen ist der inzwischen heiliggesprochene Maximilian Kolbe. Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, daß die Zahl der Deutschen, die bei Flucht und Vertreibung umkamen bzw. ermordet wurden, mehr als doppelt so hoch ist wie die Zahl der Opfer in Auschwitz.
Noch einmal sei ausdrücklich betont: Das ist keineswegs eine Entschuldigung oder Relativierung der Verbrechen des NS, aber wenn die sog. „Auschwitz-Lüge“, d. h. die Leugnung der Verbrechen des NS heutzutage unter Strafe gestellt ist, muß man doch fragen, wenn keiner Doppelmoral Vorschub geleistet werden soll, ob nicht auch die Leugnung der Verbrechen der Vertreibung unter Strafe gestellt werden müßte. Bei einem so heiklen Thema muß man so unmißverständlich wie nur möglich formulieren: Unleugbar ist der Massenmord der Nazis an Geisteskranken, Juden, Zigeunern und politischen Gegnern. Aber nicht minder verwerflich ist der Massenmord an den Vertriebenen, der ebenso als Völkermord zu qualifizieren ist.
Heute drängen die Tschechen ebenso wie Polen, Ungarn usw. in die EU. Bei seinem ersten offiziellen Staatsbesuch in Deutschland Anfang Mai 2000 äußerte sich der tschechische Präsident Vaclav Havel zu den Benesch-Dekreten, die mit die Grundlage zur Vertreibung, zum Massenmord an Deutschen und zu deren entschädigungsloser Enteignung nach 1945 bildeten. Havel warnte davor, sie zu einem „Politikum“ zu machen, das den von Tschechien gewünschten Beitritt zur EU behindern könnte. Trotz gegensätzlicher Ansichten im Fall der Dekrete müsse die bilaterale Kooperation vertieft werden. Es erhebt sich aber die Frage, ob mit den Benesch-Dekreten ein Europa der Rechtsstaatlichkeit aufgebaut werden kann. So dürften nach einem Beitritt Tschechiens zur EU Europäer, konkret Deutsche bzw. Österreicher, an ihrem Geburtsort in Europa z. B. nicht ihr Wohnrecht ausüben. Es gibt Spekulationen darüber, ob der Widerruf der Benesch-Dekrete gegen einen Entschädigungsverzicht der Sudetendeutschen ein Weg wäre. Mir persönlich scheint aber, wenn noch 55 Jahre nach Kriegsende immer neue Entschädigungsforderungen an die Deutschen erhoben werden, daß es eine zynische Zumutung wäre, von ihnen zu verlangen, sie sollten ihrerseits auf Entschädigung verzichten.
Beim Staatsbesuch Havels wurden die legitimen Anliegen der Heimatvertriebenen seitens der Bundesregierung ausgeklammert. Der tschechische Ministerpräsident Miloš Zeman hatte am 8. März 1999 in Bonn erklärt, „die Wirksamkeit einiger Maßnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg wie der Dekrete des Präsidenten der Republik (sei) inzwischen erloschen“. Diese Erklärung läßt manche Interpretationsmöglichkeit zu. Schröder deutete sie so, als ob in der Tschechischen Republik die Vertreibungs- und Enteignungsdekrete nicht mehr wirksam seien, wodurch das ständige Aufwerfen des Themas durch die Sudetendeutschen als anachronistisch hingestellt werden sollte. Der tschechische Verfasssungsrichter Antonin Prochazka stellte jedoch Ende 1999 fest, daß er immer noch auf der Grundlage der Dekrete entscheide, vor allem bei Restitutionsangelegenheiten. Auch die nach dem Krieg in der Tschechoslowakei verbliebenen Deutschen sind weiterhin Opfer der Dekrete, denn sie wurden ebenso wie die Vertriebenen enteignet, weil ihr Eigentum ebenfalls vor 1948 konfisziert wurde. Häufig wurden sie zur Zwangsarbeit verpflichtet und mußten einen Teil ihres Lohnes an einen staatlichen Fonds zur Erneuerung der Republik abgeben. Darüber hinaus wurden ihnen jahrelang staatsbürgerliche Rechte vorenthalten. Einzig der bayerische Ministerpräsident Stoiber forderte im Gespräch mit Havel, Tschechien solle die völkerrechtswidrigen Dekrete für ungültig erklären. Sie seien Ausdruck einer unseligen Vergangenheit, weshalb sich das tschechische Volk selbst von völkerrechtswidrigen Dekreten und Gesetzen trennen müsse.
Es liegt nicht an den Heimatvertriebenen, wenn Polen und Tschechien heute große Probleme haben, die Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen im Rahmen ihres Beitritts zur EU zu erfüllen, da sie weitgehend versäumt haben, die zur Versöhnung ausgestreckte Hand der Vertriebenen zu ergreifen. Europa hat aber nur eine Chance, auf Dauer zu bestehen, wenn es sich als Rechtsgemeinschaft für alle versteht, und deshalb gehören Polen, Tschechien und Slowenien nicht in die EU, solange die Deutsche diskriminierenden Gesetze, wie die Enteignungsdekrete in Polen, die Benesch-Dekrete in Tschechien und die Avnoj-Dekrete in Slowenien, noch Gültigkeit besitzen. Die deutsche Bundesregierung will ausländische Zwangsarbeiter mit Milliardenbeträgen entschädigen – obwohl bereits weit über 100 Milliarden gezahlt wurden –, ohne in gleicher Weise die Rechte der deutschen Zwangsarbeiter zu berücksichtigen. Mit Recht sprach der estnische Präsident Lennart Meri von einer deutschen Canossa-Republik.
Es scheint, daß Rußland sich zu einem bedeutsamen Schritt entschließen will. Auf einer Anfang April 2000 stattgefundenen Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Schloß Windgräben erklärte Oberst Kopalin, der Leiter der Rehabilitierungsabteilung der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft Rußlands, daß Moskau kurz davor stehe, die Verschleppung von Hunderttausenden Deutschen zwischen 1945 und 1949 als einen Verstoß gegen das Völkerrecht zu bewerten. Dies würde bedeuten, daß mehrere Millionen von Gewaltopfern als rehabilitiert gelten würden und dann logischerweise ihre Entschädigung folgen müßte.
Hinsichtlich der Vertreibung und Ermordung von Deutschen wird immer wieder von deutscher wie ausländischer Seite gesagt, man müsse den Blick nach vorn richten, und was in der Vergangenheit geschehen sei, gehe bestenfalls die Historiker an. Ausgenommen davon scheinen jedoch die von Deutschen begangenen Verbrechen zu sein. Für sie müssen weiterhin Entschädigungen erbracht werden.
Wenn Tschechien es mit der Versöhnung ehrlich meint, muß es sich nicht nur zu den Massenverbrechen von 1945/46 bekennen und sich davon distanzieren, sondern es muß seinerseits zu Entschädigungen bereit sein. Im Gegensatz zu den weitaus meisten Verbrechen des Dritten Reiches, die unter größter Geheimhaltung erfolgten, geschahen diese Verbrechen in aller Öffentlichkeit von einer zu Gewalttaten aufgepeitschten Bevölkerung: Frauen und Kinder wurden massakriert, Säuglinge in Straßengullys geworfen, Menschen von Pferden zu Tode getrampelt, als lebendige Fackeln verbrannt – und dies alles unter Gejohle und Freudenausbrüchen der Bevölkerung. Augenzeugen berichteten, daß in nicht wenigen Fällen sowjetische Soldaten, angewidert von den abscheulichen Bestialitäten, sich schützend vor die Opfer stellten.
Die höchste Instanz der Vereinten Nationen im Bereich der Menschenrechte, der damalige Hochkommissar José Ayala Lasso, stellte bereits vor fünf Jahren anläßlich der Gedenkveranstaltung „50 Jahre Vertreibung“ in der Frankfurter Paulskirche fest: „Das Recht, aus der angestammten Heimat nicht vertrieben zu werden, ist ein fundamentales Menschenrecht...“. Auch wurde die Politik der ethnischen Säuberungen – wie im ehemaligen Jugoslawien – in vielen Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates, der UN-Generalversammlung und der Menschenrechtskommission als völkerrechtswidrig verurteilt. Neben den Millionen deutschen Heimatvertriebenen wurden inzwischen Millionen Menschen anderer Nationen vertrieben. In ihrer Resolution 1996/9 bekräftigt die UNO das Recht jedes Menschen, in Frieden in seinem eigenen Heim, auf seinem eigenen Grund und Boden und in seinem eigenen Land zu leben. Außerdem unterstreicht die Resolution das Recht von Flüchtlingen und Vertriebenen, in Sicherheit und Würde in ihr Herkunftsland zurückzukehren.
Was bedeuten diese Rechtssätze für die vertriebenen Ostpreußen, Pommern, Ostbrandenburger, Schlesier, Sudetendeutschen, Danziger, Posener, Memelländer, Ungarndeutschen, Jugoslawiendeutschen, Rumäniendeutschen und Rußlanddeutschen? Was bedeuten die Konventionen für die Aussiedler? Zwar sind letztere keine Vertriebenen im eigentlichen Sinn, doch ist ihr Schicksal von dem der Vertreibung nicht zu trennen, denn sie wurden durch die frühere Vertreibung von 95 % der deutschen Bevölkerung zu einer winzigen Minderheit degradiert, einer allzu oft diskriminierten und teilweise entrechteten Minderheit. Die Vertreibung der übrigen Deutschen machte das Weiterbestehen der deutschen Gemeinden und die Pflege der eigenen Kultur nahezu unmöglich. Ohne direkt vertrieben zu sein, mußten sie die langfristigen Folgen der Vertreibung erdulden.
Bisher hat die UNO zur Vertreibung der Deutschen geschwiegen. Zwar wurden allgemeine Normen formuliert, die das Recht auf Heimat deutlich machten. Das Rückkehrrecht der vertriebenen Palästinenser, Kroaten, Bosnier usw. wurde anerkannt. Aber hinsichtlich der deutschen Vertriebenen hat die Weltgemeinschaft geschwiegen, als wären es keine Opfer – oder vielleicht deswegen, weil es zu viele Opfer waren und die Schuld bei den Siegermächten lag, die diese Vertreibung geplant und durchgeführt haben. Erinnert sei abschließend an die Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950. Darin haben die Heimatvertriebenen ausdrücklich auf Rache verzichtet, aber sie haben auf das große Unrecht der Vertreibung hingewiesen, um anderen Völkern ein ähnliches Schicksal zu ersparen. Im gleichen Atemzug verlangten sie aber die Anerkennung ihres Rechtes auf Menschenwürde und die Verwirklichung des Rechtes auf ihre Heimat.
In der neuen Weltordnung, die nach dem Ende des Kalten Krieges im Entstehen begriffen ist, braucht man vor allem historische Aufrichtigkeit und Objektivität. Wir hegen die Hoffnung – und wie Abraham hoffen wir wider alle Hoffnung –, daß die neue Generation der Historiker aus Polen, der Tschechischen Republik und Rußland die Vertreibung der Deutschen in ihrer geschichtlichen Tragweite – und Tragik – und damit den eigenen Teil an Verantwortung erkennt und anerkennt. Gute Nachbarschaft verlangt wechselseitige Offenheit und Ehrlichkeit sowie die Bereitschaft, die eigenen Fehler einzugestehen. Mit ihrer Charta haben die deutschen Heimatvertriebenen ihr Bekenntnis zum Recht auf die Heimat und zugleich ihren Verzicht auf Gewalt und Rache verkündet. Darüber hinaus haben sie in den Jahrzehnten nach dem Krieg unübersehbare Beweise geliefert, daß es ihnen um eine aufrichtige Versöhnung ernst ist. Man denke nur an die unzähligen offiziellen und privaten Hilfssendungen an Polen, Rußland, die Ukraine usw. Aber durch ihren Nicht-Verzicht auf Heimat haben sie der Welt noch einen großen Dienst erwiesen, denn sie haben dieses Recht in der öffentlichen Diskussion gehalten und etwas eingefordert, was für alle Heimatvertriebenen in aller Welt von eminenter Bedeutung ist. Hätten die Vertriebenen auf ihr Recht verzichtet, wäre ein böser Präzedenzfall entstanden, daß das Recht auf eine Heimat entbehrlich ist und ein Freibrief für künftige Gewaltpolitiker. In seiner denkwürdigen Rede in der Frankfurter Paulskirche sagte der UNOHochkommissar für Menschenrechte Ayala Lasso 1995: „Ich bin der Auffassung, daß, hätten die Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehr über die Implikationen der Flucht, der Vertreibung und der Umsiedlung der Deutschen nachgedacht, die heutigen demographischen Katastrophen, die vor allem als ethnische Säuberungen bezeichnet werden, vielleicht nicht in dem Ausmaß vorgekommen wären... Es gilt, sich stets für die dignitas humana einzusetzen...“