Von Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker
1974 veröffentlichte Valentin Rasputin in der Sowjetunion einen Roman, der später auf deeutsch unter dem Titel „In den Wäldern die Zuflucht“ herauskam: Andrej Gussjkow ist vom ersten Tag, da er als Rotarmist im Zweiten Weltkrieg eingezogen wird, von Todesfurcht erfüllt, aber er tut seine Pflicht, erleidet einen Wadendurchschuß, wird zurück an die Front geschickt. Erst im vierten Kriegswinter, als er mit einer schweren Verwundung in einem Lazarett in Novosibirsk liegt, wird seine Sehnsucht nach den Eltern und seiner Frau übermächtig. Mit dieser, Nastjona, hatte er, da sie in den vier Vorkriegs-Ehejahren kinderlos geblieben war, mehr schlecht als recht zusammengelebt, sie auch oft geprügelt. Obwohl er weiß, daß sich der Krieg dem Ende zuneigt, wächst seine Überzeugung, nun dem sicheren Tod geweiht zu sein. So hofft er auf einige Tage Heimaturlaub, will seine Eltern noch einmal sehen und sich bei seiner Frau entschuldigen. Als ihm dieser verweigert wird, fährt er, ohne viel zu überlegen, nicht zurück an die Front, sondern besteigt einen Zug, der ihn weiter nach Osten, der Heimat zu, bringt. Erst langsam erkennt er, daß nun kein Weg mehr zurückführt, daß ihm als Deserteur die Todesstrafe droht. So hält er sich, zuhause angekommen, in einer einsamen Waldhütte versteckt und gibt sich nur seiner Frau zu erkennen.
Von Ideologie ist in dem Buch von Valentin Rasputin keine Rede, weder hört man kommunistische Phrasen noch die patriotischen Schlagworte vom „Großen Vaterländischen Krieg“. Andrej hat seine Entscheidung völlig unideologisch, aus einem Bauchgefühl heraus, getroffen, und als Nastjona beschließt, ihm nach Kräften zu helfen, weiß sie, daß auch sie sich damit außerhalb der eigenen Dorfgemeinschaft gestellt hat. Feinsinnig beleuchtet der Autor den Gewissenskonflikt von Andrej und Nastjona: Bekenntnis zur Schuld, Anläufe zur Rechtfertigung, Verzweiflung und Suche nach einem Ausweg. Nicht nur um den Deserteur und seine Frau geht es, auch um Frauen im Dorf, die den Sieg 1945 nicht wie die anderen feiern können, weil ihre Männer im Feld geblieben sind und sie mit den Kindern allein zurückgelassen haben.
Schließlich wird Nastjona völlig unerwartet schwanger. Andrej sieht darin die Rechtfertigung seines Tuns: sein Blut wird fortleben, seine Flucht hat einen Sinn gehabt. Doch im Dorf traut man seiner Frau kein Verhältnis zu, die Bewohner beginnen zu begreifen, daß ihr Mann sich in der Nähe aufhalten muß. Als sie beim Versuch, ihn zu warnen, verfolgt wird, läßt sich Nastjona in die reißende Angara fallen und ertrinkt. Andrej, der im Laufe des Winters immer mehr zum Gesetzlosen geworden ist, erfüllt vom Haß auf die Gemeinschaft, in die für ihn kein Weg mehr zurück führt, verschwindet in den Tiefen der Wälder.
Viele Wehrmachtsdeserteure, die meisten vielleicht, werden aus ähnlichen Motiven gehandelt haben. Andere, wie der Kommunist Richard Wadani, der desertierte, um sich der „Tschechoslowakischen Exilarmee“ anschließen zu können, haben aus ideologischen Gründen gehandelt. Manche haben Kameraden oder Vorgesetzte ermordet, wie der spätere österreichische Sektionschef und Vorstand des Dokumentationszentrum des österreichischen Widerstands, Dr. Wilhelm Grimburg, der in der Nacht auf den 9. Mai 1945 (!) in Norwegen zwei schlafende Offiziere erschoß, um ungefährdet nach Schweden desertieren zu können und für seine Untat nie zur Rechenschaft gezogen wurde. Andere haben, um nach dem Überlaufen in der Feindarmee gut aufgenommen zu werden, bereitwillig alles erzählt, was sie wußten, und somit indirekt den Tod vieler ehemaliger Kameraden zu verantworten.
Sie alle über einen Kamm zu scheren, wie dies in Österreich schon 2009 mit der pauschalen Rehabilitierung der Deserteure geschah, wird der Sache nicht gerecht. Und wenn Bundespräsident Fischer bei der Einweihung des Denkmals sagte, daß Deserteure ehrenhaft gehandelt hätten und auf der richtigen Seite gestanden wären, dann kommt dies einer moralischen Verurteilung aller Millionen Wehrmachtssoldaten gleich, die nicht desertiert sind. Den ehemaligen Kommunisten Wadani, der einer der maßgeblichen Betreiber dieses Denkmals war, wird das gefreut haben. Die meisten Österreicher denken nach wie vor anders. Tageszeitungen wie die „Presse“ haben es aus diesem Grund vorgezogen, keine Online-Diskussion über das Denkmal auf ihren Netzseiten zuzulassen.
Wenn andererseits die NS-Militärgerichtsbarkeit während des Zweiten Weltkriegs 25.000 Todesurteile wegen Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung vollstreckt hat, die Briten in der selben Zeit jedoch nur 40, stellt sich jedoch die Frage nach den Gründen und es leuchtet auch der Wunsch vieler Familien von Betroffenen ein, diese Urteile überprüft zu sehen. Rußland hat vorgemacht, wie das geht: Zehntausende Wehrmachts- und Waffen-SS-Angehörige sind von der stalinistischen Justiz als „Kriegsverbrecher“ abgeurteilt worden. Sie bzw. ihre Nachfahren haben die Gelegenheit zur Überprüfung der Urteile im Einzelfall bekommen und sind in rund 90 Prozent der Fälle auch rehabilitiert worden. Dazu war Österreich genausowenig wie Deutschland bereit. Pauschale Rehabilitierungen, ja Glorifizierungen, können aber, wie pauschale Verurteilungen, nur eines sein: neues Unrecht.