Von Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker
Ich sehe nur selten fern. Vielleicht ein guter Film pro Woche, manchmal eine Dokumentation oder ein Kulturbericht, Sondersendungen rund um Wahlen oder bedeutende Ereignisse. Zu mehr fehlt mir die Zeit oder vielmehr: Ich bevorzuge, meine Abende lesend zu verbringen. Doch zweimal pro Woche gehe ich ins Fitness-Studio. Die Heimfahrräder und Laufmaschinen dort sind mit Bildschirmen ausgestattet. So klickt man sich durch die Programme, auf der Suche nach einer Sitcom, die einem die Trainingszeit verkürzt. Eine ganz persönliche Statistik: In den letzten Monaten bin ich auf sechs bis sieben Übertragungen von Feierlichkeiten anläßlich der Befreiung eines Konzentrationslagers gestoßen bzw. auf Dokumentationen über solche, zweimal immerhin auf den Film „Der Untergang“, der das Kriegsende aus deutscher Sicht beeindruckend behandelt. Sonst: Fehlanzeige. Vertreibung, Massenflucht, Bombenkrieg, Vergewaltigungen: nichts.
Diese persönliche Statistik kann keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen. So brachte der Sender ORF III eine vierteilige Dokumentationsreihe unter dem Titel „Die Vergessenen des Zweiten Weltkriegs“, in der der vertriebenen Alt-Österreicher und Volksdeutschen gedacht wurde. Und auf ZDF konnten die Historiker Sönke Neitzel und Miriam Gebhardt fordern, es sei an der Zeit, endlich auch die Gefangenenerschießungen und Vergewaltigungen seitens der Westalliierten zu Kriegsende zu thematisieren. Aber die Tendenz, die ich wahrgenommen habe, stimmt natürlich: Das mediale Gedenken hatte massiv Schlagseite.
Noch schlimmer freilich das Gedenken der politischen Eliten: Der deutsche Bundestagspräsident Norbert Lammert erklärte anläßlich der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages, der 8. Mai 1945 sei eine „Befreiung für ganz Europa“ gewesen. Doch was für KZ-Häftlinge zweifellos zutraf, gilt für die achtzehn Millionen Deutschen, die in der Folge des Kriegsendes ihre Heimat oder gar ihr Leben verloren, wohl eher nicht. Es gilt auch nicht für die Staaten Osteuropas, die, ob Verbündete des Deutschen Reiches oder von diesem besetzt, einer neuen, blutigen Diktatur ausgeliefert wurden. So erklärte der polnische Präsident Komorowski zeitgleich: „Nicht allen Völkern Europas hat dieser Triumph die volle Freiheit gebracht.“ Und der polnische Ex-Präsident Lech Walesa erklärte anläßlich seines Besuches in Graz zum siebzigsten Jahrestages des Kriegsendes, daß „für Polen und Ost-Mitteleuropa der Krieg in Wahrheit erst 1993 beendet war, als die sowjetischen Soldaten die einstigen kommunistischen Staaten verlassen haben…“ In der Ukraine wiederum wurden zu den offiziellen Gedenkfeiern erstmals nicht nur Veteranen der Roten Armee, sondern auch der Ukrainischen Aufständischen Armee UPA eingeladen, deren Partisanenkampf den sowjetischen Besatzern gar noch mehr als den Deutschen galt.
Von all dem oder den eigenen Verlusten an jahrhundertealtem Siedlungsboden in den Ostprovinzen, an Stein gewordener Geschichte, die die alliierten Bomber in Trümmer schlugen, oder auch vom millionenfachen Tod der Vertriebenen, der Bombenopfer und der Soldaten in den Hungerlagern sprachen unsere Politiker nicht. In Wien wurde ein „Fest der Freude“ zelebriert, das seine einseitig-verzerrte Sichtweise schon im Titel trug. Und der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck beschränkte sein Gedenken ausschließlich auf den „opferungsvollen Kampf der ehemaligen Gegner in Ost und West“, insbesondere jenen der Roten Armee. Bei seiner Kranzniederlegung an einer sowjetischen Kriegsgräberstätte in Brandenburg hatte er für die direkt daneben begrabenen deutschen Soldaten weder Wort noch Gesteck übrig.
Der erste deutsche Bundespräsident nach 1945, Theodor Heuss, stellte vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch fest, daß der 8. Mai die „tragischst-fragwürdigste Paradoxie für jeden Deutschen darstelle, da die Deutschen erlöst und vernichtet in einem gewesen“ seien. Thorsten Hinz merkte dazu in der Jungen Freiheit vom 8. Mai an: „Die Deutschen wurden erlöst vom Krieg und von der Furcht, durch Bomben, Granaten oder Kugeln zu sterben. Erlöst wurden sie vom nationalsozialistischen Regime, das seine infernalische Zerstörungskraft je länger, desto konsequenter entfaltete. Selbst diejenigen, die dem Nationalsozialismus 1945 noch immer anhingen, sahen mehrheitlich bald ein, daß er im Begriff gewesen war, Deutschland von jenem Guten, Edlen und Schönen abzuschneiden, das es weltweit einzigartig machte.“ Und Ernst Jünger hat angesichts des bevorstehenden Zusammenbruchs im April 1945 geschrieben: „Man kann das Notwendige sehen, begreifen, wollen und sogar lieben, und doch zugleich von ungeheurem Schmerz durchdrungen sein.“ Und am 11. Juni 1945 lautete sein Tagebucheintrag: „Einäugige Humanität ist widriger als Barbarei“ (zitiert nach Günther Scholdt, JF 18/15). Erlöst und vernichtet zugleich also. Eine Formel, auf die man sich einigen könnte. Von solchen Differenzierungen sind unsere heutigen Politiker weit entfernt; niederträchtig feiern sie ihre einseitigen Freudenfeste und Befreiungsfeiern.
Je nach dem Schicksal der eigenen Familie und des eigenen Volkes wird der Blick auf das Kriegsende sehr unterschiedlich ausfallen. Kolja etwa hat überlebt: In eine der uralten Buchen unseres Gartens hat der junge Rotarmist seinen Namen in die Rinde geschnitten. Bis heute sind die Buchstaben lesbar. Für andere kam das Kriegsende zu spät, für Anne Frank etwa. Meine Großtante wiederum hat auch überlebt, aber sie wurde von den Tschechen in ein Konzentrationslager gesteckt, und nur die Übernahme dieses Lagers durch die Rote Armee hat ihre beiden kleinen Kinder vor dem Hungertod bewahrt. Ihre Heimat haben sie trotzdem verloren.
Auch der Umgang mit den Opfern ist sehr unterschiedlich. Mancher wird in würdigen Feiern gedacht, andere sind vergessen und finden offiziell keinerlei Erwähnung mehr, wieder andere werden instrumentalisiert und vermarktet. In Amsterdam findet sich an der Prinsengracht, nahe dem Haus, in dem sie jahrelang versteckt lebte, ein Souvenirgeschäft, das von siebenarmigen Leuchtern über Madonnen bis hin zu illuminierten Buddhafiguren Touristenkitsch jeder Art anbietet. Und eben auch eine Kerze mit dem Aufdruck von Anne Franks Haus. Praktischerweise kann man diese niederbrennen.
Da kommt einem Martin Walsers Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahre 1998 in den Sinn, in der er von „Meinungssoldaten“ sprach, die mit „vorgehaltener Moralpistole“ jeden in den „Meinungsdienst“ zwängen. Und erklärte, „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung“. Heuer, siebzehn Jahre später, hat sich Martin Walser von seinen Worten wieder distanziert. Ihre Gültigkeit haben sie dennoch nicht eingebüßt.
Wofür standen die einzelnen Mächte, die diesen Vernichtungskrieg gegeneinander führten? Die Weltanschauung, unter der Sowjetrußland damals kämpfte, hat keinesfalls den Weg in eine bessere Zukunft der Menschheit gewiesen. Und wie sah es mit dem Westen aus? Der große Schriftsteller John R. R. Tolkien schrieb etwa schon am 9. Dezember 1943 an seinen Sohn: „Ich finde diesen amerikanischen Kosmopolitismus sehr beängstigend. Was Geist und Seele angeht …, bin ich gar nicht sicher, daß sein Sieg für die Welt insgesamt und auf lange Sicht viel besser sein wird, als ein Sieg des –.“
Genau darauf bezog sich auch Götz Kubitschek auf dem Netz-Tagebuch der Sezession am 8. Mai 2015: „Die angemessene Haltung für Leute unseres Schlages ist ein auch nach so vielen Jahren noch immer erschüttertes Gedenken an das Schicksal unseres aus unzähligen Wunden blutenden Vaterlands. Deutschland hat den 2. Dreißigjährigen Krieg endgültig verloren, einen Weltanschauungskrieg gegen zwei Feinde, von denen der eine seine Schreckensherrschaft im Osten errichtet und der andere seine sanfte Zersetzung von jenseits des Atlantik aus in Gang gesetzt hatte. Beide Ideologien und Organisationsformen widersprechen dem deutschen und dem europäischen Geist und dem retardierenden Moment seiner großartigen Geschichte.
Daß Deutschland zur Trägernation eines radikalen Widerstands gegen beiderlei Fehlwege in der Moderne werden würde, stand außer Frage. Daß es diesen Gang unter dem Verrat der eigenen Denktradition und mit Hilfe einer Schreckensherrschaft antrat, ist die Tragödie unserer Nation und unserer Geschichte.“
Für Rußland ist das Gedenken an diesen Sieg, den letzten großen Triumph in der Geschichte, nach wie vor identitätsbestimmend. Ja, es steigert sich von Jahr zu Jahr. Der deutsche Gegner wird zunehmend als unmenschliche Bestie dargestellt. Man verspricht sich wohl immer noch eine integrierende Wirkung auf die russische Gesamtgesellschaft.
Doch auch für Rußland ändern sich die Vorzeichen: Bis heute halten die Armenier, wie Varujan Vosganian schrieb, daran fest, daß ihre Elite „natürlich“ mit dem nationalsozialistischen Deutschland kollaborierte und die an der Seite des Reiches im Krieg gegen Stalin gefallenen Soldaten „Helden“ des Kampfes gegen den Kommunismus gewesen seien. Dennoch ist Armenien heute einer der engsten Verbündeten Rußlands und Mitglied der „Eurasischen Union“.
Die russischen „Nachtwölfe“, eine Gruppe organisierter Motorradfahrer, die in diesem Mai auf den Spuren von Stalins siegreichen Soldaten gen Westen fuhren, auf deutschem Boden zu begrüßen, wie dies Jürgen Elsässer und Lutz Bachmann von der Pegida gemacht haben, um die Freundschaft zu Rußland zu betonen, wäre daher durchaus nicht nötig gewesen. Gerade in Rußland habe ich immer Verständnis dafür gefunden, daß auch wir Deutschen unserer Toten, unserer Opfer und unserer Helden gedenken wollen, weit mehr als in manch westeuropäischen Ländern.
Außerdem macht der Kreml gerade die Erfahrung, daß die antifaschistische Karte nicht mehr sticht. Man kann den eigenen Beitrag zur Niederringung Hitler-Deutschlands betonen, wie man will, ohne dabei bei den USA und ihren Verbündeten Punkte zu sammeln. Und selbst im Ukraine-Konflikt haben die teils falschen, teils überzogenen Faschismus-Vorwürfe gegenüber der neuen Regierung oder Gruppierungen wie dem „rechten Sektor“, dem Bataillon „Azow“ u. a. den Westen nicht von deren Unterstützung abbringen können.
Rußland steht außenpolitisch vor einer Entscheidung: Einerseits kann es sich im Westen bislang noch auf die Erben der kommunistischen Bewegungen verlassen, die, wie die „Linke“ in Deutschland, von den Altvorderen her gewöhnt sind, auf Moskau zu hören und dementsprechend die Außenpolitik des Kremls unterstützen – zuletzt etwa als Wahlbeobachter auf der Krim. Neuerdings sind es aber gerade rechte Bewegungen, die Rußland, wohl als Gegenpart zu den übermächtigen Vereinigten Staaten, unterstützen. Weltanschaulich gesehen befinden sich dort heute die weit verläßlicheren Partner Moskaus. Diese neue Nähe zu den verschiedenen rechten, rechtspopulistischen bzw. europäisch-patriotischen Bewegungen wird von der russischen Außenpolitik jedoch nur zögerlich wahrgenommen. Auf der einen Seite lud die mit Putin verbündete Partei „Rodina“ (Vaterland) sogar Politiker wie Nick Griffin, Roberto Fiore, Udo Voigt und Repräsentanten der „Goldenen Morgenröte“ nach Petersburg ein, andererseits setzt der Kreml bei seinem Fernsehsender „Russia Today“ nach wie vor auf Antifa-Journalisten. Selbst zu Parteien, die wie Jobbik, FPÖ und Front National klar pro-russisch positioniert sind und in ihren jeweiligen Heimatländern über deutlich zweistellige Zustimmungsraten verfügen, besteht kein einigermaßen institutionalisierter Kontakt. Und das, obwohl Gruppierungen wie die „Nationalistische Studentenvereinigung Flandern“ sogar einen NATO-Austritt anstreben, um sich Rußland nähern zu können!
Wie das Beispiel Armenien zeigt, kommt es Rußland jedoch in erster Linie auf Unterstützung im Heute und Jetzt an und nicht auf ähnliche Bewertungen historisch lang zurückliegender Ereignisse. Das muß auch für uns der Maßstab sein. Der Blick auf die Geschichte ist für jedes Volk zur Vergewisserung der eigenen Identität wichtig, im Handeln muß es aber um die Zukunft gehen. Unsere Politiker haben dies schon lange vergessen.