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„Späte Reflexionen“

Von Dr. Angelika Willig

Das Vermächtnis Ernst Noltes

Im letzten Jahr ist ein neues Buch von Ernst Nolte erschienen. Es soll sein „letztes Buch“ sein. Nolte ist 1923 geboren und wird im nächsten Jahr 90 Jahre alt. Schon in dieser Hinsicht sind die „Späten Reflexionen“ eine Entdeckung: Dem hohen Alter billigt man allenfalls ein gutes Gedächtnis und eine hohe Konzentrationsfähigkeit zu. Bei Nolte haben sich auch Neugier und die Lust an der Provokation erhalten. In gewisser Weise ist sein Auftreten sogar unkonventioneller geworden, denn die „Späten Reflexionen“ bieten keinen systematischen Aufbau, sondern setzen sich aus kürzeren oder längeren Gedanken zusammen. Die Form erinnert an Nietzsche, mit dem Nolte sich intensiv beschäftigt hat (Nietzsche und der Nietzscheanismus 1990).


Es gibt in der Welt kein erregenderes und aufschlußreicheres Thema als ,Auschwitz‘,“ erklärt der Autor fast unvermittelt, „sofern es nicht zu instrumentellen Zwecken künstlich isoliert wird.“
Damit ist die Behauptung gemeint, „Auschwitz dürfe nicht zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht werden“. Hinter solchen Verboten stecken politische Zwecke. Nolte geht durchweg von der Überzeugung aus, daß die Autorität der Wissenschaft und ihr objektiver Anspruch über jeder politischen Berechnung stehen. Man darf keine Erkenntnis verschweigen, selbst wenn sie unter Umständen zur Entschuldigung der NS-Verbrechen dienen könnte. Als Wissenschaftler steht ihm die objektive Wahrheit über allem. Und diese Haltung hat er auch von seinen Kollegen erwartet.
Dabei beginnt Ernst Noltes akademische Laufbahn recht ungewöhnlich. 1923 wurde der Sohn eines Volksschulrektors in Witten an der Ruhr geboren. Er machte 1941 sein Abitur und begann, da er nicht kriegstauglich war, sogleich das Studium der Philosophie, Germanistik und altgriechischen Philologie. Nach dem Studienabschluss 1945 ging er in den Schuldienst am Gymnasium.
Mit seinem Buch „Der Faschismus in seiner Epoche“ wurde Nolte schlagartig bekannt. Seine Arbeit fand allgemeinen Anklang, obwohl auch hier schon gewisse Tabus verletzt werden. So hatte Nolte die damals noch gängige Totalitarismusthese angegriffen und zum erstenmal als nicht-marxistischer Historiker den Begriff „Faschismus“ für den Nationalsozialismus verwandt. Das Werk wurde bald in mehrere Sprachen übersetzt. Bald darauf bekam der Verfasser einen Ruf als Professor für Neuere Geschichte an die Universität Marburg. Seit 1973 wirkte er an der FU Berlin und blieb dort bis zu seiner Emeritierung.
Ein Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Juni 1986 löste den sogenannten Historikerstreit aus. Der Philosoph Jürgen Habermas führte die Gegenpartei an. Man warf Nolte vor, den Holocaust „relativiert“ oder sogar „entschuldigt“ zu haben.
1987 erschien das Hauptwerk „Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945“. Nolte rückt hier Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus in ein enges Beziehungsverhältnis, wobei der Bolschewismus anstoßgebendes Vorbild Hitlers gewesen sei.
Sein 1998 veröffentlichtes Buch „Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?“intensiviert die Thesen aus dem Historikerstreit noch einmal. Auch die Tätigkeit sowjetischer Partisanen hinter der Front hat demnach als Reaktion den Massenmord an den Juden provoziert.
„Die dritte radikale Widerstandsbewegung: der Islamismus“ (2009) geht ein ganz neues Thema an. Der Islamismus wird – ähnlich wie Kommunismus und Nationalsozialismus – als Abwehr der liberalen individualistischen Gesellschaft gewertet.

Grenzen der Objektivität

Die Objektivität der Wissenschaft ist ein Ideal, das selten erreicht wird. Auch in einer liberalen Gesellschaft gibt es quasi-religiöse Dogmen, die Beachtung fordern. Offenbar ist Nolte mit seiner Rationalisierung des Holocaust auf ein solches Dogma gestoßen. Jede Erklärung gilt hier bereits als Legitimation. Und die Kernthese, daß die NS-Verbrechen eine übertriebene Reaktion auf die bolschewistischen Untaten darstellen, bietet eine Art Erklärung für das Ungeheuerliche. Nolte wendet wissenschaftliche Grundsätze, die im „profanen“ Bereich gelten, auch auf die quasi-religiöse Sphäre an. Dadurch wird er zum Ketzer. Hätte er einen anderen Forschungsgegenstand gewählt, würden seine Unbestechlichkeit und Hartnäckigkeit – und diese Hartnäckigkeit ist bemerkenswert – als liberale und wissenschaftliche Tugenden gewertet. Doch in diesem Besonderen wirken sie als Ausschlußkriterium. Deshalb muß man sich umso mehr fragen: Wieso nimmt Nolte sich ausgerechnet jenes Thema vor, das seine Liberalität an die Grenzen führt? Wieso gibt es für ihn „kein erregenderes und aufschlußreicheres Thema“ als Auschwitz?
Ernst Nolte ist von Haus aus Philosoph. Das hat man seinen Veröffentlichungen stets angemerkt, und für das neue Buch gilt das besonders. Er hat nicht Geschichte studiert, sondern Deutsch und Griechisch für das Lehramt. Und Philosophie, weil es seine persönliche Leidenschaft ist. Trotzdem greift er schon mit seiner ersten Veröffentlichung, „Der Faschismus in seiner Epoche“, ein historisches und kein rein philosophisches Thema auf. Nolte gehört zu denjenigen Philosophen, die die Beschäftigung mit innerphilosophischen Problemen für einen Irrweg halten. Ein typisch moderner Irrweg, denn Platon und Aristoteles waren selbstverständlich in diversen Fachwissenschaften zu Hause. Noch Immanuel Kant hat an der Universität Königsberg Physik unterrichtet. Ein Philosoph, der die Welt nicht kennt, kann es zwar zum Professor bringen, aber selten zu relevanten Erkenntnissen.
Ernst Nolte hat seine philosophischen Neigungen in die Geschichtswissenschaft hineingetragen. Was er dort treibt, bleibt jedoch Philosophie, und auf diesem Mißverständnis beruht ein Teil der Angriffe. Denn seine historischen Interpretationen sind teilweise so weitgehend und umfassend, daß sie einer empirischen Überprüfung nicht durchgehend standhalten können. Es ist schlicht unmöglich, geschichtsphilosophische Aussagen zu treffen, wenn dafür die gleichen Belege gefordert werden wie für die fachwissenschaftlich übliche „Korinthenkackerei“.
In der Rückschau fragt sich Nolte dennoch, ob er nicht den falschen Kräften gedient habe:
„Für mich ist indessen die folgende Frage ungelöst und quälend: Habe ich nicht doch, wenngleich nur ,in gewisser Weise‘, Hitler gerechtfertigt, indem ich ihn als den mächtigsten Vorkämpfer ,gegen die Transzendenz‘ zu begreifen suchte, weil mir vor einem halben Jahrhundert die für das herausgehobene und ,verdammte‘ endliche Wesen todgefährliche Natur der (praktischen) Transzendenz nicht so klar war wie heute?“
Der Begriff „Transzendenz“, der aus der Philosophie und Theologie kommt, hat hier eine ganz bestimmte Bedeutung angenommen: er meint in etwa das, was man bis vor kurzem noch als „historischen Fortschritt“ bezeichnete. Was den greisen Historiker quält, ist die Frage, ob Hitler nicht doch darin recht hatte, daß er sich radikal gegen diesen vermeintlichen Fortschritt wandte, den er mit der jüdischen Vorherrschaft assoziierte. Denn wie zerstörerisch der Fortschritt tatsächlich ist, haben wir erst nach der deutschen Niederlage erfahren müssen.

Desaster der Moderne

Hier beantwortet sich auch die Frage, weshalb Nolte das Thema Auschwitz für so „aufschlußreich“ und „erregend“ hält. Deshalb nämlich, weil es anzeigt, wie furchtbar die abendländische Geschichte mit ihren Ansprüchen an Menschlichkeit und Freiheit gescheitert ist. Niederschmetternd ist, wie die Kommunisten die Seite des Fortschritts verrieten. Und diese Tragödie Europas und der modernen Welt wird erst ganz anschaulich in der Gegenreaktion. Auschwitz, recht verstanden, ist das Desaster der Moderne schlechthin.
Das Buch ist in vier Teile untergliedert. Der Aufbau erinnert, wie angedeutet, an Nietzsches aphoristische Schriften. Was bei Nolte dem Alter geschuldet sein mag, war bei Nietzsche Folge der Krankheit. Es führt aber zu einer Spannung und Lesbarkeit, die systematischen Werken abgeht. Unter der Überschrift „Ideologische Hauptmächte“ stehen Zionismus, Antisemitismus, Bolschewismus, Deutschland, aber auch „Gedankenexperimente“. Ziemlich ausführlich berichtet Nolte über sein persönliches Verhältnis zum jüdischen Volk. Davon unabhängig aber besteht für ihn die Tatsache, daß „nie ein Volk eine so bedeutende Rolle in der Geschichte gespielt hat.“ Diese Erkenntnis könne man aber auch dem Antisemiten Hitler nicht absprechen.
Der zweite Teil bietet Erörterungen über die Linke, Marktwirtschaft und das liberale System. Im dritten Teil geht es ausdrücklich um die Theologie, und hier bringt der Verfasser, leider ohne Quellenangabe, eine überraschende Notiz:
„Adolf Hitler, der in seinem Denken keineswegs ausschließlich der Politiker und Ideologe seiner Versammlungsreden war, stellte diesen Gottesbegriff („Gott im Menschen“) einen anderen und entgegensetzten Gottesbegriff gegenüber, den Begriff des ,Naturgottes‘, der die schrankenlose Selbstverteidigung und Ausbreitung von angeblich natürlichen Realitäten wie Nationen und Kulturen fordert.“
Und weiter:
„In Hitlers Äußerungen zu seinem (…) meditativen Leben in seinem Alterssitz nach der Erringung des ,Endsieges‘ erscheint das Nachdenken über diesen Gott als seine Hauptaufgabe.“

Ideologische „Welttendenzen“

Die erwähnte „Hartnäckigkeit“ besteht in zwei Punkten. Meistens wird nur der zweite Punkt beachtet, der den Historiker zu einer „Unperson“ oder einem „Niemand“ gemacht habe. Doch für den Autor der „Reflexionen“ ist die Problematik von Auschwitz nur der „untergeordnete Teil“ einer Gesamtkonzeption. Die Haupteinsicht besteht darin, daß es sich bei den gegnerischen Ideologien Kommunismus und Faschismus (bzw. NS) nicht in erster Linie um „Totalitarismen“ handelt, sondern „um militante Verkörperungen von weit übergreifenden Welttendenzen, nämlich der Globalisierung auf der einen Seite und der Selbstbehauptung von partikularen Strukturen auf der anderen Seite“. Diese Konzeption, beklagt Nolte, wurde bisher „nicht zur Kenntnis genommen“ oder von den vorherrschenden „Universalisten empört zurückgewiesen“.
Jetzt wird es aktuell. Denn wenn die sogenannten Totalitarismen in Wahrheit „Welttendenzen“ darstellen, dann ist ihre Auseinandersetzung mit dem Sieg über den Faschismus oder den Zusammenbruch des Kommunismus keineswegs beendet, sondern müßte in veränderter Weise weitergehen. Das ist vielleicht der eigentliche Grund dafür, daß Nolte noch einmal zur Feder greift:
„Kaum je hat sich die Welt so tiefgreifend verändert wie nach den Jahren 1989/1991 (…). Dadurch traten nicht nur auf der ganzen Erde wesentliche und oft wahrhaft erstaunliche Änderungen ein, sondern diese Veränderungen warfen auch ein neues Licht auf die Vergangenheit dieses Weltbürgerkrieges.“
Punktuell gesteht er sich Irrtümer ein:
„Wäre Hitler nur ein Antikommunist gewesen, hätte er wohl keine Massenbewegung hinter sich bringen können.“
Oder in Bezug auf den Islam:
„Mein Gedanke, eine konkrete und politische Ähnlichkeit zwischen dem Kommunismus und dem Islam könne es nicht geben, da der Islam über keine Massen von Anhängern im Inneren der westlichen Länder verfüge, ist durch die historische Tatsache von Masseneinwanderungen von Muslimen als unrichtig erwiesen.“
Der Islam scheint also in mancher Hinsicht ein Nachfolger des Kommunismus zu sein. Dafür spricht auch die Tatsache, daß in arabischen und afrikanischen Ländern, die arm sind und wo bis in die siebziger Jahre starke marxistische Gruppen wirkten, inzwischen zunehmend dem Islam zufallen:
„Daß die reinen Egalitarier die Mit-Beweger der Geschichte, aber auch die „immer Enttäuschten“ sind, wird am Beispiel des Islam besonders anschaulich.“

Neue Menschheitsverbrechen

Es gibt aber auch Themen, die auf den ersten Blick gar nichts mit dem „Weltbürgerkrieg“ zu tun haben. Unter der Überschrift „Anthropologie“ äußert sich Nolte blitzlichthaft zu den großen Themen der Biopolitik:
„Ein virtuelles Foto in der FAZ vom 11. März 2005 stellt Föten dar, die in künstlichen Gebärmuttern aufwachsen. Derartiges wäre ein entscheidender Schritt zur ,Modernisierung‘ oder auch der Transzendenz (…). Den künftigen Generationen wird dasjenige fortgenommen, was für die ganze Geschichte und Vorgeschichte der Menschheit ein grundlegender Tatbestand war: die ursprüngliche Verbundenheit (…) mit der Mutter.“
Als „Menschheitsverbrechen schlimmster Art“ bezeichnet der Historiker auch „den Versuch, durch medizinisch-biologische Entdeckungen und Techniken individuelle Unsterblichkeit (ja schon eine bisher unvorstellbare Langlebigkeit) möglich zu machen“: „Wenn man die Blätter der Bäume unsterblich machen könnte, würde das Leben der Gattung erstarren und sich nicht mehr erneuern.“
Die Blätter erneuern sich, und das Werk inspiriert neue Forschergenerationen. Möge das „letzte Buch“ von Ernst Nolte in diesem Sinne fruchtbar sein.

 

 
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