Im Gegensatz zu anderen, weniger glücklichen deutschen Schriftstellern verfügt der aus Neuruppin und aus einer Hugenottischen Familie stammende Theodor Fontane (1819-1898) über einen unbescholtenen Ruf. Von der Beschuldigung, dem Nazireich als Steigbügelhalter gedient zu haben, bleibt er gnädig verschont. Von Fontanes achtzehn Novellen gehören Klassiker wie „Effi Briest“ (1895), „Irrungen, Wirrungen“ (1888), „Der Stechlin“ (1899) und seine frühen Balladen noch heute zum Schulstoff an deutschen Gymnasien. Einst haben diese Schriften eine eingewurzelte Volkskultur mitgeprägt, als die Deutschen sich noch einer Leitkultur rühmen konnten.
Zu diesem Kulturgut gehörten literarische Prachtstücke wie das unter einem Unstern stehende Liebespaar Botho von Rienäcker und Lene Nimptsch aus „Irrungen, Wirrungen“, denen es (vermutlich) wegen der sozialen Unterschiede nicht gelingt zueinander zu kommen, die verführerische Gräfin Melusine Barby aus dem „Stechlin“, die ihre Freier gleichzeitig anzieht und vertreibt, und die hilflose Effi Briest, deren unglückliche, aus Standesgründen eingegangene Ehe zu einem furchtbaren Verhängnis wird. Dank ihrer großen Popularität wurde die Geschichte von Effi schon mehrfach verfilmt – auch von Rainer Werner Fassbinder.
Unabhängige Gesinnung
Obwohl Fontane im Kulturbetrieb immer noch präsent ist, erfreut der Literat sich heutzutage nicht des gleichen Renommees, das ihm zu seinen Lebzeiten und noch bis zum Ersten Weltkrieg beschieden war. Thomas Mann stellte lobend fest, daß Fontane als Künstler eine „verantwortungsvolle Ungebundenheit“ gegenüber den Machthabern seiner Epoche bewahrte. Arthur Schnitzlers Novelle „Der Weg ins Freie“, die wie „Irrungen, Wirrungen“ eine Mesalliance thematisiert, macht eine deutliche Anleihe aus dem Fundus Fontanes und des literarischen Realismus. Nicht ohne Grund könnte man behaupten, daß Fontane den begabten Schnitzler in der Personenbeschreibung, wenn nicht sogar in der stilistischen Feinheit aussticht.
Durch sein ganzes vielfältiges Berufsleben hat Theodor Fontane auf den Status des „Freischaffenden“ hingedrängt. Von seiner Tätigkeit als Kriegsberichterstatter 1864, 1866, 1870/71 (und der darauffolgenden französischen Kriegsgefangenschaft) und anschlieβend als besoldeter Sekretär der Berliner Akademie der Künste abgesehen, hat Fontane seine Absicht „sich treu zu bleiben“ eingelöst. Keiner Partei war er verpflichtet. Und auch wenn er von einem bald ernüchterten 1848er zum „Konservativen reinsten Wassers“ wurde, so vollzog er diesen weltanschaulichen Übergang doch außerhalb des damals bestehenden Parteiengefüges.
In seinem Spätwerk herrschen zwei Leitmotive vor: das reine Ehrprinzip vor jeder Täuschung zu bewahren, und das Tragische des menschlichen Lebens realistisch darzustellen. Fontanes Spöttelei über die Eitlen und Hochmütigen sollte man nicht herausstellen, ohne den sittlichen Zweck dabei zu beachten. Aus konservativen Empfindungen heraus kritisiert Fontane die Süffisanz der Neureichen. Es kommt ihm darauf an, dem falschen „Ehrenkultus“ seiner Generation, den er in „Effi Briest“ darstellt, einen echten Ehrbegriff entgegenzusetzen.
Was stets auβer acht gelassen wird, wenn man Fontane als „Revoluzzer“ darstellt, sind Vorzeigearistokraten wie Dubslav und Woldemar von Stechlin, die den dümmlichen Angebern positiv gegenüberstehen. Die ärgsten Aufschneider sind Parvenus wie Gundermann im „Stechlin“, die die Rangordnung zu rasch hinaufkletterten. Gegen die „Herrschaft des Mammons“ hat Fontane sein ganzes Berufsleben hindurch gewettert. Dem Ehrbegriff des alten Herrn Stechlin widerspricht es, seinen neureichen jüdischen Nachbarn Baruch Hirschfeld herablassend zu behandeln. Und auch als Baruchs Sohn Isidor bei den Kreistagswahlen einen sozialistischen Konkurrenten gegen Stechlin unterstützt, kühlt der Adlige am Juden nicht sein Mütchen. An den übertriebenen antikatholischen Gefühlen, die sein protestantisches Milieu bestimmen, nimmt Dubslav keinen Anteil. Es widersteht ihm, andere Menschen, wenn auch unabsichtlich, zu demütigen. Gegenüber seinem treuen Hausdiener Engelke verhält sich Dubslav nicht nur respektvoll, sondern manchmal sogar vertraulich. Er und Woldemar gehen mit dem Alten wie mit einem langjährigen Freund um.
Seit sechzig Jahren verbreitet die Literaturwissenschaft die Meinung, daß Fontane zu einer revolutionären Empörung gegen sein rückständiges Zeitalter gekommen sei. In der DDR wurde er nicht nur als Landsmann, sondern sogar als Vorbote der Arbeiterbewegung gefeiert. Seine Aussagen über das arrogante Junkertum und die bekannte Verachtung für das protzige Großbürgertum wurden zu einer ausgeprägten sozialistischen Haltung aufgebauscht. Die kommunistische Regierung beeilte sich, seine Novellen wiederaufzulegen mit einer starken Beigabe an ideologisch gefärbten Kommentaren. Aus dem Anhang einer 1984 in Leipzig gedruckten Ausgabe des „Stechlin“ erfährt man, daß Fontane seine Erzählung mit Bedacht in der Mark Brandenburg angesiedelt habe. Er soll demnach auf eine Steigerung der revolutionären Stimmung bei den Arbeitern hingewirkt haben „in ebenjener Mark Brandenburg, wo dem Dichter immer wieder Vorurteil und Anmaβung, Überheblichkeit und Intoleranz, stupidem Junkerhochmut und protestantischer Enge begegnet“ ist.
In der BRD schlug man in die gleiche Kerbe. Nur wies man es außerdem als ärgste Zumutung zurück, einen deutschen Autor mit seinen „berühmteren und lesenswerteren“ englischen und französischen Zeitgenossen zu vergleichen. Undenkbar sei es demnach, einen minderwertigen preuβischen Realisten auf dieselbe Stufe mit Berühmtheiten wie Balzac und Dickens zu stellen. Vor allem im Hinblick auf die Deutschtümelei sollte man eine Gleichstellung vermeiden, wie sie die Literaturwissenschaft im Dritten Reich betrieben hatte.
Vielleicht ist es besser auf eine solche Invektiven gar nicht erst einzugehen. Fontanes erstrangige Stellung in der Weltliteratur ist durch seine sprudelnde Sprache, die literarische Vielseitigkeit und die blitzenden psychologischen Einsichten hinlänglich begründet. Wichtiger ist es, mit dem Bild vom Vorläufer einer sozialistischen Revolution zurechtzukommen. Die Indizien für diese Auffassung sind spärlich, wenn man nicht seine literarischen Karikaturen als Aufruf zur klassenlosen Gesellschaft auslegen will. Doch es besteht kein Grund, Fontane als Anhänger einer kommenden sozialistischen Bewegung hinzustellen. Seine Schilderung der sozialistischen Parteibonzen im „Stechlin“ ist nicht gerade schmeichelhaft, als Schaumschläger sind sie von gedungenen Anhängern umringt. Fontane läßt seine politische Ausrichtung unverkennbar deutlich werden. Er tritt für eine wahrhaft aufgeklärte Regierung ein, die alle Klassen gerechter einbindet. Das schließt durchaus nicht den Fortbestand einer Monarchie mit verantwortungsvollen, standesbewußten Adligen aus. Der greise Fontane legt seinen Figuren die aufrüttelnde Bemerkung in den Mund, das Zeitalter sei nicht zukunftsträchtig. Das bedeutet keineswegs, daß Fontane den vorausgesagten Sturm mit Schadenfreude erwartet. Von derlei „sich ereifernden Propheten“ distanziert er sich nachdrücklich.
Auf keinen Fall darf man auch die Novellen, die als sozialkritisch gelten, als politisch einseitig ausgerichtet verstehen. Weder „Effi Briest“ noch „Irrungen, Wirrungen“ darf im Sinn eines Angriffs auf den aristokratischen „Dünkel“ (ein Lieblingswort Fontanes) verstanden werden. In beiden Werken tritt dem Leser eine Naturkraft entgegen, die wie eine zwingende Fügung wirkt. Der ältere Ehemann der kindhaften Effi wird von seinem Ehrenkodex so weit getrieben, seine Familie unwiderruflich zu zerstören. Wenn Gert von Instetten, ein beflissener Staatsbeamter, auf einen zerknitterten Liebesbrief an seine Frau stößt, geschrieben in irgendeinem Ort im Osten Deutschlands, aus dem sie schon lange fortgezogen sind, gerät er in eine furchtbare Gewaltspirale. Er tötet den schuldlosen Briefschreiber im Zweikampf, treibt die betroffene Frau von Heim und Herd fort, ohne irgendeinen Kontakt mit der Tochter zu gestatten. Effi stürzt damit in eine einsame Schmach, ohne je wirklich zu verstehen, warum sie so in Verruf geriet.
Obwohl die Neuinterpretationen versuchen, diese Handlung als gezielte Anprangerung des verkrusteten Adelsbewußtseins aufzufassen, ist es vielmehr ein schreckliches Geschick, das eigentlich dahintersteckt. Instetten handelt auf die einzige Weise, die ihm verständlich und anständig vorkommt, wie schädlich auch die Wirkung seines Handelns sein mag. Effie lebt mit den Folgen seines Entschlusses, ohne sich darin zu fügen, aber auch ohne zu begreifen, welches Verbrechen sie beging.
In „Irrungen, Wirrungen“ erscheinen die Ereignisse ebenso unentrinnbar. Trotz der Vorahnung Lenes, daß Botho sie nie heiraten wird, tritt das Befürchtete nur durch eine unvorhergesehene Finanzkrise ein. Der adelig geborene Geliebte wird schließlich überredet, eine Vernunftehe mit seiner reichen Kusine Käthe von Selenthin zu schlieβen. Er fügt sich keineswegs deshalb, weil es ihm ungebührlich vorkäme, eine Nichtadlige zur Frau zu nehmen. Botho fühlt sich von der Pflicht gegenüber seiner verwitweten Mutter gebunden und will den Verlust des Familienvermögens nicht mitansehen. Erfaßt von Verantwortung sowie vom Bewußtsein seiner Zwangslage gibt er Lene auf. In der letzten Szene bemüht er sich immer noch um die Rechtfertigung der von ihm getroffenen Entscheidung, auch wenn sie in hohem Maβe aufgezwungen oder vorbestimmt war.
Mit Melusine, die im „Stechlin“ Männer bestrickt, ohne sie zu erobern, trifft man auf eine ähnliche Ausweglosigkeit. Melusine verzaubert und stöβt dann die Junggesellen, die ihr den Hof machen, zurück. Woldemar wählt nicht sie, sondern ihre langweiligere Schwester Armgard zur Gattin. Später schreckt Woldemars Freund Czarko im letzten Moment davor zurück, Melusine einen Heiratsantrag zu machen. Diese Schwebe entspricht einem unklaren Hintergrund. Einem traumatischen Erlebnis bei Melusines Flitterwochen mit einem italienischen Grafen entstammt das Rätsel, das sich nicht lösen will. Die Ehe wird geschieden, doch Fontane liefert keinen Anhaltspunkt dafür, was Melusine eigentlich geschehen ist. Die Schlüsselfrage bleibt unbeantwortet, ob sie tatsächlich vergewaltigt wurde oder bei ihren Verweisen auf das traumatische Ereignis nur phantasiert hat.
Es fällt schwer, Fontanes abgründige Geschichte als Sozialkritik auszulegen. Zwar sind seine Texte mit gewissen Kennzeichen des Naturalismus versehen. Man findet in ihnen jedoch keine Spur des Radikalismus anderer namhafter Naturalisten der gleichen oder der folgenden Generation. Im Gegensatz zu Literaten wie Emile Zola, dem jungen Frank Wedekind und Thomas Hardy schlägt sich bei dem preuβischen Schriftsteller die Stilrichtung nicht in einem revolutionären Engagement nieder. Auf alle Fälle bleibt die Frage offen, warum der Naturalismus bei seiner Betonung auf die Vorbestimmung und Nichtigkeit menschlicher Absichten einer umstürzlerischen Stimmung Tür und Tor öffnen soll. Ebenso plausibel wäre es, wenn diese Einstellung zum gleichmütigen Hinnehmen des Gegebenen führt. Im Fall von Fontane ergeben seine die Politik betreffenden Aussagen nach der Jugendzeit keinen Grund, eine entgegengesetzte Auslegung zu verfechten. Mangels entsprechender Beweise ist es kaum angezeigt, das geschilderte menschliche Scheitern auf soziale Erstarrung, adligen Dünkel oder religiösen Mief zu reduzieren.