Von allen Volksgruppen Europas zeugen keine von so vielen Rätseln und Mißverständnissen, wie Basken, Illyrer und Kelten. Gerade die Kelten als am weitesten verbreitete Kultur sind bis heute kaum erfaßt. Die Schwierigkeit besteht darin festzulegen, wer die Kelten eigentlich waren: eine Ethnie, Rasse, Sprach- oder Kulturgemeinschaft. Es ist daher sinnvoll, den keltischen Werdegang bis zur scheinbaren Auflösung nachzuzeichnen. Es soll darum die „klassische“ keltische Antike ab 650 v. Chr. mit ihren geographischen Schwerpunkten Gallien, Iberien, Poebene, Schwarzes Meer und Britannien in der Konfrontation mit dem aufsteigenden Rom kurz vorgestellt werden. Ebenso schwierig ist es, nationalistische Gruppen in den sogenannten „Sechs Keltischen Nationen“ unserer Zeit als identitär-keltisch einzuordnen, stellt doch das keltische Element häufig nur einen sekundären Aspekt dar.
Da eine einwandfreie wissenschaftliche Klärung nicht existiert und ein breiter Interpretationsraum besteht, wer denn die Kelten eigentlich waren, bezieht sich der Autor auf die keltische Sprach- und Kulturgemeinschaft der Hallstatt- (650–475 v. Chr.) und La-Tène-Kultur (475–50 v. Chr.).1 Die Kelten waren demnach eine Sammelbezeichnung der Römer (Celtae) und Griechen (Keltoi) für geographisch weit verbreitete Stämme mit ähnlicher Sprache, Religion und Gebräuchen, die um 900 v. Chr. in ihr Kerngebiet in Süddeutschland und Böhmen einwanderten. Um 400 v. Chr. verdrängten die aus Norden kommenden Germanen diese Urkelten an die „Ränder“ West- und Südosteuropas (Frankreich, Teile Spaniens, Großbritannien, Schwarzes Meer) sowie in die Poebene Norditaliens. Siedlungsart, politische Verwaltung und Ethnogenese unterschieden sich allerdings merklich. Schriftliche Zeugnisse keltischen Ursprungs fehlen weitgehend, so daß eben nur auf römische und griechische Quellen zurückgegriffen werden kann. Die unzähligen Stämme wurden von Räten und Kriegsherren (Quasikönigen) regiert. Stammübergreifend wirkte der Geheimorden der Druiden.²
Am sichersten belegt sind die „Gallischen Kriege“ unter dem Feldherren Caesar (100–44 v. Chr.). Die zerstrittenen gallischen Stämme konnten sich nur unter Vercingetorix (82–46 v. Chr.) 52 v. Chr. vereint gegen die römischen Invasoren organisieren. Nach dessen Niederlage war Gallien der systematischen Romanisierung ausgeliefert, die allerdings dank der römischen Ordnungs- und Friedenssicherung nicht ganz unfreiwillig erfolgte. Vom keltischen Charakter Galliens blieb nichts übrig. Davon zeugt das völlige Verschwinden keltischer Religiosität und Sprache (außer Ortsnamen). Das Galloromanische4 ersetzte das Keltische, wobei dadurch auch das Latein verfälscht wurde.
Ab dem 7. Jh. v. Chr. besiedelten Kelten auch die Iberische Halbinsel, wo sie sich teilweise mir der einheimischen Bevölkerung vermischten. Diese iberischen Kelten wurden durch die Einwanderung anderer Völker nach „Spanien“ vom gallischen Norden isoliert. 207 v. Chr. eroberten die Römer auch diese Halbinsel, um den ethnischen Flickenteppich in die neue Provinz Hispanien zu assimilieren. Einzig im äußersten Nordwesten der Halbinsel konnten sich keltische kulturelle Traditionen und auch die Sprache vorübergehend halten, ehe auch dort die vollständige Romanisierung erfolgte (Bildung der Provinz Gallaecia). Im Zuge der Völkerwanderungszeit des 5. Jh. eroberten die zahlenmäßig kleinen germanischen Sueben und dann Westgoten Galicien, um sich dann selbst zu romanisieren.5
Diese keltischen Stämme ließen sich im nördlichen und westlichen Schwarzmeer nieder (3. Jh. v. Chr.), von wo aus sie kurzzeitig Mazedonien und Griechenland heimsuchten (Plünderung Delphis). Nachdem sie von kleinasiatischen Fürsten als Söldner abgeworben worden waren, besiedelten sie schließlich um 278 v. Chr. auch Teile des südlichen Schwarzmeeres (Galatien), das nach der römischen Eroberung 64 v. Chr. vollständig assimiliert wurde.6 Der keltische Lebensraum im westlichen Schwarzmeer ging nach der Vertreibung durch die Daker verloren.
Die Poebene Norditaliens gehörte bis ins 1. Jh. v. Chr. zu „Gallien diesseits der Alpen“ (Gallia Cisalpina), im Gegensatz zum „französischen“ Gallien (Gallia Transalpina). 390 v. Chr. plünderten die keltischen Stämme der Poebene Rom. Erst 222 v. Chr. gelang es den Römern, dieses Gebiet zu erobern und zu assimilieren. Das keltische Erbe ist bis auf Ortsnamen und Sprachresten (z. B. Piemontesisch) verschwunden.
Im 1. Jh. n. Chr. konnten die Römer weitgehend die britische Hauptinsel besetzen und kurzzeitig bis ins nördliche „Schottland“ vordringen. Nach schweren Rückschlägen mußten sich die Römer bis an die heutige schottisch-englische Grenze zurückziehen (Bau des Hadrianswalls 127). Eine Romanisierung der keltischen Bevölkerung fand kaum statt.7
Das keltische Britannien endete erst mit der germanischen Invasion aus Sachsen, Jüten, Angeln und später Normannen, dabei drängten die neuen Eroberer die Urbevölkerung in die entlegenen unwirtlichen Randgebiete. Bis auf diese Randgebiete und auf die bretonische Halbinsel geflüchtete Inselkelten (siehe „Die Sechs Keltischen Nationen“) gibt es nirgendwo in Europa keltisch geprägte Landstriche: weder ethnisch noch sprachlich-kulturell.
Ab ca. 600 gab es auch in den keltischen Restgebieten keine heidnische Religion mehr. Die raschen christlichen Missionserfolge hatten eine klare Ursache: Mit der Keltischen Kirche entstand eine ganz spezifisch keltisch-christliche Ausprägung. Diese konnte sich in den isolierten Rückzugsgebieten Britanniens unabhängig vom römischen Katholizismus entwickeln und verdankt ihren Erfolg einer fruchtbaren Synthese aus keltischen Bräuchen und christlicher Erneuerung.8 So übernahmen die Bischöfe systematisch die Aufgaben der heidnischen Druiden als Diplomaten, Ärzte, Berater und spirituelle Führer.9
Dennoch war der allmähliche Siegeszug der römisch-katholischen Kirche nicht aufzuhalten. Diese organisierte sich streng hierarchisch und zentralistisch – und genoß großzügig weltliche Macht. Dem konnte die keltische Kirche mit ihrer uneinheitlichen Liturgie und unverbindlichen dezentralen Hierarchie nichts entgegensetzen.
Selbst für das angelsächsische – aber noch nicht normannische – Britannien blieben keltische Stile im Kunsthandwerk bis zur ersten Jahrtausendwende dominant. Das gilt besonders für die Buchmalerei.10 Die schon im 6. Jh. bekannte Arthus-Legende erlebte dank Geoffrey von Monmonth (1100–1154) im 12. Jh. als Sage vom „König Arthus“ eine populäre Neubelebung. Darin wird u. a. Arthus’ Kampf gegen die angelsächsischen Invasoren thematisiert, was im germanisch bestimmten England nahezu revolutionär war.
Die Darstellung neukeltischer Bestrebungen erweist sich als schwierig. Für den Autor bedeutet neukeltische Bestrebung eine totale Bezugnahme auf das „Klassische Keltentum“ der Antike: die Pflege gesicherter Bräuche, das Studium der Kultur, der Gebrauch keltischer Sprachen und als Höhepunkt die Wiederbelebung keltischer Religiosität – unter christlicher Prägung zumindest als keltische Kirche. Solche Bestrebungen sind außerdem pankeltisch ausgerichtet. Diese Paradigma sind für den Autor Hauptkriterien. Andere mögen dem widersprechen. Ich nenne diese Kriterien verpflichtenden Bestrebungen „primärkeltisch“ in Abgrenzung zu „sekundärkeltisch“. Sekundärkeltisch sind dagegen nationalistische Bewegungen der „Sechs Keltischen Nationen“ (Siehe unten), für welche die keltische Vergangenheit nur ein Identitätsmerkmal zur Unterscheidung ihrer Hauptgegner (hier England, dort Frankreich) darstellt. Das pankeltische Element fehlt bis auf Solidaritätsbekundungen völlig. Kein bretonischer Nationalist wird eine souveräne Bretagne einem keltischen Bundesstaat opfern. Man kann diese Unterscheidung auf andere Pan-Bewegungen übertragen.11
Das Interesse für das keltische Erbe begann in den 1750ern in Großbritannien und Frankreich, eben den Staaten mit noch lebendigen keltischen Traditionen. Im Zuge archäologischen Interesses und der Erforschung archaischer Kulturen in den europäischen Kolonien Amerikas, Asiens und der Südsee entdeckte man plötzlich die eigenen. Die Beschäftigung mit alten Sprachen führte auch zur Suche nach verlorengegangenen Bräuchen, Mythen und anderen antiken Zeugnissen. Dieses zunächst antiquarische Interesse wandelte sich zum praktischen Interesse: Jetzt wollte man die noch lebendigen keltischen Sprachen und Traditionen schützen, was bereits Ausdruck identitären Strebens war und mit der offiziellen Anglisierungs- und Französisierungspolitik kollidieren mußte. Gleichzeitig setzte eine Renaissance des druidischen Geheimwissens ein, das sich in Form neodruidischer Geheimgesellschaften (z. B. mit freimaurerischen Logen kombiniert) manifestierte, die stark republikanisch ausgerichtet waren.
Meilensteine für institutionalisierte neukeltische Bestrebungen waren die eher wissenschaftliche „Royal Celtic Society (1820) in Schottland und der kulturpolitische „Pan-Celtic Congress“ (1867–1900). Außerhalb Großbritanniens und Irlands existierten bis auf romantische Solidaritätsvereine12 keine Organisationen. Politische Forderungen wurden zunächst kaum erhoben.
Ausdruck authentischen neukeltischen Bewußtseins seit 1945 sind das seit 1971 jährlich stattfindende Pan-Celtic Festival auf folkloristischer Ebene sowie die „Celtic League“ von 1961 als die mit Abstand bedeutendste Institution. Sie strebt offen einen keltischen Staatenbund an, sobald auch eine zweite Nation nach der irischen unabhängig werden sollte. Die umfassende Erforschung des keltischen Erbes und die Förderung keltischer Sprachen stehen im Mittelpunkt. Aus tagespolitischen Fragen – bis auf die Hochzeit des Nordirland-Konflikts (1968–1986) – hielt sich diese inzwischen stark gemäßigte Organisation heraus. Konkrete politische, administrative und wirtschaftliche Ziele fehlen völlig. Ein klarer Standpunkt existiert: der Bezug auf die „Sechs Keltischen Nationen“, in denen es Landessektionen gibt und eine Absage an interessierte „Pseudokelten“ aus Galicien, Asturien und Kantabrien (Spanien) sowie Wallonien (Belgien) und Norditalien,13 da in diesen Gebieten bis auf kulturelle Rudimente nicht einmal ein keltischer Sprachrest existiert.
Konsequent ist die „National Socialist Celtic Party“. Diese Politsekte der 1970er erfüllte alle Kriterien einer neukeltischen Bewegung: Sie fordert einen keltischen Einheitsstaat, in dem nur eine keltische Sprache (Welche denn?) gesprochen werden darf, ein zu schaffendes geeintes keltisches Volk, gereinigt von rassischen germanischen und romanischen Verfremdungen, und die Wiederherstellung der heidnischen Religion.
Das keltische Erbe präsentiert sich im Bewußtsein, vom sagenhaften Urvolk der „Tuatha Dé Dannan“ (= Volk der Göttin Danu) abzustammen und zahlreiche mythologische Herrscher wie die Zauberkönigin Medb (aus dem Ulster-Zyklus) in der Ahnengalerie zu wissen. Die von den Römern niemals besetzte irische Insel bestand aus gut 150 Kleinkönigreichen mit Tara als kulturellem Zentrum und einem symbolischen Hochkönig. Die irische Souveränität endete 1169 mit der weitgehenden Besetzung durch die Normannen, gleichwohl weiter freie irische Gebiete im Westen bestanden. 1541 geriet dann die gesamte Insel unter die direkte Kontrolle Londons, dabei wurde auch die widerspenstige katholische Kirche enteignet. Die folgenden zahlreichen Aufstände14 entsprangen jedoch keinem Nationalgefühl, sondern dem keltischen Clanbewußtsein. Während des Englischen Bürgerkriegs zwischen Königs- und Parlamentspartei und der Militärdiktatur des Pietisten Cromwell (1599–1658) rebellierten die Katholiken im Norden (Ulster) und richteten ein Blutbad unter den englischen Siedlern an, der Aufstand breitete sich auf die restliche Insel aus. Die Iren standen auf seiten der Royalisten wegen des antikatholischen Kurses Cromwells. Dieser veranlaßte nach der Niederwerfung der Rebellion blutigste Strafaktionen und verteilte Land an seine Soldaten in Nordirland. Auch infolge der „Glorious Revolution“ 1688/89 stand Irland auf der Verliererseite, diesmal in der katholischen Partei der Jakobiten (siehe Schottland). Die nordirische Tragödie unserer Tage nahm ihren Anfang mit Vergeltungsaktionen des siegreichen Protestanten Wilhelm von Oranien (1650–1702), der zahlreiche Gesetze erließ, die irischen Katholiken weiter zu entrechten.
Im Act of Union von 1801 wurde die irische Insel mit Großbritannien Bestandteil des Vereinigten Königreichs. Im Gegensatz zu Wales und Schottland besaß Irland einen regelrechten kolonialen Status, waren doch die katholischen Iren nur Staatsbürger zweiter Klasse.
Gegen diese Mißstände organisierte sich schon in den 1790ern unter dem Eindruck der Französischen und Amerikanischen Revolution die effektive republikanische Geheimgesellschaft der „United Irishmen“, wogegen protestantische britische Königstreue Nordirlands die ebenso konspirative Gesellschaft des „Orange Order“ (nach Wilhelm von Oranien benannt) ins Leben riefen. Danach entstand die breite katholische Emanzipationsbewegung für die rechtliche Gleichstellung von Katholiken/Iren mit den anderen britischen Staatsbürgern sowie frühe gemäßigt nationalistische Parteien („Home Rule League“). Nach deren völligem Versagen und der großen Hungerkatastrophe15 der 1840er entstand die wirkungsmächtige Geheimgesellschaft der „Fianna oder Fenir“ (= Freischärler),16 aus der die Wurzelorganisationen („Irish Republican Brotherhood“) der wohl bekanntesten nationalistischen Organisation der „Sechs Keltischen Nationen“ entstanden – „Sinn Féin“ (= Wir selbst). Ihre Hegemonialstellung erreichte Sinn Féin nach dem gescheiterten Osteraufstand 1916, in dessen Folge ein blutiger Partisanenkrieg gegen britische Soldaten ausbrach und die Partei anläßlich der Unterhauswahlen 1918 80 % der Stimmen erhielt.17
Nach weiteren Kämpfen gegen die Briten kam 1921 der Anglo-Irische Vertrag zustande, der den Dominionstatus für das katholische Südirland als Freistaat vorsah und den mehrheitlich protestantischen Norden (Ulster) bei London beließ.18 Die heutige linksnationalistische Sinn Féin läßt sich auf einen militanten marxistischen Splitter der alten zurückführen. Gleiches gilt für die IRA der 1960er. Ab 1932 setzte eine Welle der Rekeltisierung ein, so wurde Gälisch (Irisch) massiv gefördert (erste Landessprache und obligatorisches Schulfach), dennoch sprechen nur 20 % der Iren Gälisch als Muttersprache.
Der Konflikt in Nordirland führt den irisch-britischen Gegensatz bis heute weiter. Es handelt sich dabei nicht nur um einen Religionskonflikt, sondern auch um einen ethnischen: angesiedelte protestantische Schotten und Engländer gegen Iren. Die in der Republik Irland bescheidene Sinn Féin spielt im Norden immer noch eine herausragende Rolle. Die IRA dagegen zerbrach Anfang der 1990er aufgrund fortschreitender Friedensgespräche in mehrere Kleinstgruppen. Neben dem irischen und britischen Nationalismus besteht ein schwacher Ulster-Nationalismus, der einen eigenen Staat mit Scots (siehe Schottland) als Amtssprache anstrebt.
Die römischen Bezeichnungen „Kaledonier“ und „Pikten“ (= die Bemalten) für die Ureinwohner dienten als Sammelbezeichnung für unterschiedliche Stämme, die sich eben aus Kelten und vorindoeuropäischen Völkern zusammensetzten. Nachdem die römischen Expeditionsspitzen Schottland 82 aufgaben, konnte sich das Keltentum vorerst ungestört entwickeln. Im 5. Jh. landeten die aus Irland stammenden keltischen Skoten an der schottischen Westküste und vereinigten sich 843 mit den einheimischen Pikten. Das dadurch eher pro forma vereinte Königreich „Alban“19 mit seiner schwachen Zentralgewalt hielt bis 1057, durch dynastische Erbstreitigkeiten wuchs von da an der englische Einfluß, so daß 1296 Schottland annektiert wurde. Seitdem kam es zu häufigen antienglischen Rebellionen, die durchaus erfolgreich verliefen.20 Unter König Robert I. „The Bruce“ (1274–1329) errang Schottland 1328 seine Unabhängigkeit zurück, doch war die (friedliche) sprachlich-kulturelle Anglisierung21 weitgehend vollendet und Schottland durch Verträge und personell an London gebunden. 1371 ersetzte das anglo-normannische Haus der Stuarts die Dynastie Bruce. Durch Verwandtschaftsbeziehungen zum in London regierenden Königshaus Tudor beanspruchten die Stuarts auch diesen Thron. Als der schottische König Jakob VI. 1603 die kinderlose englische Königin Elisabeth I. (1533–1603) als Jakob I. (1566–1625) ersetzte, kam es unter dessen Nachfolgern (den „Jakobiten“) zu Spannungen mit dem englischen Parlament, die sich im Englischen Bürgerkrieg entluden. Es ist hier nicht der Raum, auf die religiösen und dynastischen Ursachen des Bürgerkriegs und der Glorreichen Revolution einzugehen, welche die Stuarts (Jakobiten) endgültig stürzten. Als für das schottische Identitätsstreben relevant, sollten sich die erfolglosen Restaurationsversuche der Jakobiten erweisen: Um solche Rebellionen zu verhindern, zerstörten die Londoner Könige das traditionsreiche mächtige Clansystem der Highlands und verboten den typischen Kilt und den Dudelsack.22
Mit dem Act of Union von 1707 wurde Schottland offiziell mit England zu einem Königreich – statt zwei Königreichen unter einem Monarchen –, zu Großbritannien, vereinigt.23 Das schottische Parlament als Symbol relativer Selbständigkeit mußte aufgelöst werden. Hier schlummerte rudimentär eine britische Reichsidee: Es war London bewußt, daß man auf einen neutralen Überbau, das antike Britannien, zurückgreifen muß. Das hatte man im Falle von Wales vollständig verpaßt. Als besonders folgenschwer sollte sich die folgende Gleichsetzung erweisen: Britisch sein, heißt Englisch sein!24
Das 18. Jh. war von einer fundamentalen ökonomischen Umstrukturierung gekennzeichnet: Ersetzung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zugunsten großer Schafzüchter und Industrialisierung der Täler, was mit Landflucht und Städtewachstum einherging.
Die „Kirche Schottlands“ besitzt für die schottische Identität eine bewahrende Funktion. Es handelt sich dabei um eine presbyterianische, quasi basisdemokratische, Kirche25 unabhängig von der anglikanischen. Mit der „Kirche Schottlands“ besteht eine absolut souveräne eigene schottische Institution mit hohem Symbolwert.
Von allen „Sechs Keltischen Nationen“ ist Schottland die am wenigsten keltische. Die gälische Sprache wird heute nur noch auf den Äußeren Hebriden gepflegt, dort immerhin als Muttersprache (90.000 Sprecher bei 5,8 Mio Einwohnern). Mit Scots entstand eine eigene schottische Version des Englischen. Es handelt sich bei Scots („Schottisch“) eher um einen Sammelbegriff englischer Dialekte mit zahlreichen gälischen Elementen und Betonungen. Scots wird von einem Drittel der Schotten aktiv gesprochen und ist als Regionalsprache inzwischen anerkannt. Verheerend für eine konzentrierte Unabhängigkeitsbewegung wirkt sich die konfessionelle Spaltung aus. Etwa 20 % der Einwohner bekennt sich zum Katholizismus, welcher im Westen und den Highlands sowie unter irischen Einwanderern dominiert. Die Katholiken sind stark linksgerichtet und proirisch orientiert. Die 60 % Presbyterianer eher britisch, aber nicht englisch.
Der schottische Nationalismus erstarkte erst nach 1918, zuvor beschränkte sich schottisches Identitätsstreben auf kulturelle Belange. In der Zwischenkriegszeit entstanden eine Vielzahl separatistischer und autonomistischer Gruppen, die das ganze politische Spektrum umfaßten, um sich 1934 in die heute dominierende „Scottish National Party“ (SNP) zu vereinen. Die junge SNP war eine Partei der politischen Mitte mit geduldeten radikalen Rändern. Erst in den 1960ern vollzog sie einen deutlichen Linksschwenk.
Der schottische Nationalismus kann größtenteils nicht als keltisch-identitär eingestuft werden. Im Gegenteil: Das Schottentum ist besonders britisch26 orientiert und betont das keltische Erbe gegen England und das germanisch-protestantische gegen pankeltische Vereinnahmung.27 Tendenziell muß der Nationalismus als sozialistisch mit starker marxistischer Neigung beschrieben werden. Schottischer Konservatismus tendiert eher zu autonomistischen Forderungen und glaubt an ein föderales „Britisches Reich Englischer Nation“. Der Aufstieg der „Scottish National Party“ ging einher mit einem Wirtschaftsaufschwung, v. a. durch Ölförderung aus der Nordsee seit 1975. Die SNP kämpft gegen den englischen Zentralismus und appelliert heute an wohlstandschauvinistische Ressentiments. Der sporadische Linksterrorismus der mit der IRA verbündeten „Scottish Liberation Army“ der 1970er scheint inzwischen ohne Rückhalt. Der SNP-Aufstieg28 und eine fortschreitende Autonomisierung29 tragen hierfür die Verantwortung.
Wales genoß dank seines Widerstandes gegen die Römer eine gewisse Selbständigkeit und wurde in seiner Existenz eher durch keltische Iren und germanische Angelsachsen bedroht. Nach dem überstürzten Abzug der römischen Kolonisten existierten mehrere keltische Kleinstaaten bis ins 6. Jh. In jenem Jahrhundert wurde auch die Christianisierung abgeschlossen. Gegen walisische Angriffe errichteten die angelsächsischen Invasoren einen Grenzwall, der in etwa der heutigen Grenze entspricht. Aus dieser Zeit stammt auch die germanische Bezeichnung Weahlas (= die Fremden) für das widerspenstige Volk.30 Erst 1282 konnte Wales von den inzwischen dominierenden Normannen erobert werden. Gegen die neuen Herren rebellierte Owain Glynwr 1400 erfolglos im einzig großen Aufstand der walisischen Geschichte. Die Anglisierung vollzog sich im 15. Jh. ausgerechnet unter den walisischstämmigen Tudors. Mit dem „Act of Union“ von 1536 wurde Wales offiziell in England eingegliedert.31 Im 16. Jh. verdrängten pietistisch-protestantische Freikirchen den bis dahin prägenden Katholizismus, dabei spielten die Methodisten eine herausragende Rolle für den Erhalt der walisischen Identität. Sie bewahrten das Kymrische und griffen immer wieder den anglikanischen Kirchenadel scharf an – und damit auch London. Walisisch besitzt bis heute eine ungebrochene Literaturtradition, weil sie auch von der katholischen Seite als Kirchensprache gepflegt wurde.32
Der politische Nationalismus entstand in den 1880ern: wesentlich später als der irische und früher als der schottische. Der Kampf um die Anerkennung des Walisischen brach freilich schon im 18. Jh. nach zunehmenden Zentralisierungstendenzen sowie der einsetzenden Industrialisierung des Südens aus. Die bäuerlichen Waliser wurden zu Arbeitern und wanderten häufig nach Übersee oder in die englischen Industriereviere aus, während umgekehrt irische Billigarbeiter nach Wales immigrierten. Durch die Bevölkerungsexplosion mußte die Landwirtschaft von Nordwales umstrukturiert werden, weshalb Pächter zugunsten der Großgrundbesitzer enteignet wurden. Durch diese demographischen Veränderungen verlor Südwales seinen keltischen Charakter, der im Norden bis heute erhalten geblieben ist.
Gerade die Sprachpflege und die Volkskulturfeste (Eisteddfodau) fungieren seit 1789 als Rückgrad der walisischen Identität. Aus diesem Grund drängte London ab den 1850ern mit einem anglisierten Schulwesen das Kymrische planmäßig zurück, schließlich wollte man ein zweites Irland verhindern.33 Dank engagierter Methodistenpriester und Lehrer, die eine Art paralleles Schulsystem betrieben, konnte Kymrisch ab 1888 wieder als Unterrichtssprache gelehrt werden.
Mit Michael Jones (1822–1898) betrat ein Prediger die politische Bühne, der erstmals eine „Celtic Alliance“ mit Schottland und Irland forderte.34 Als eine erste große nationalistische Organisation entstand 1886 „Gymru Fydd“ (= Wales der Zukunft).35 Aufgrund des heterogenes Charakters differenzierte sich diese Formation aus: Es entstanden Parteien aller Couleur, eine starke bündische Jugendbewegung in Form der „Urdd Gobaith Cymru“ (= Walisischer Jugendverband), Turnvereine und natürlich die Volksfestbewegung (Eisteddfodau). Aus diesen Gruppen entstand 1925 die heute dominierende Partei „Plaid Cymru“ (= Partei von Wales). Sie war zunächst streng völkisch orientiert mit Sympathien für die europäischen Faschismen. Ziel war neben der Unabhängigkeit die Schaffung eines „Welsh Wales“36 und die Entindustrialisierung des Südens. Der schnelle Aufschwung dieser neuen Formation hatte ihre Ursachen in der hohen Arbeitslosigkeit der Waliser während der Wirtschaftskrise. Genau wie die schottische SNP vollzog Plaid Cymru in den 1960ern einen deutlichen Linksschwenk hin zu einer sozialdemokratisch-ökologisch-pazifistischen Partei.37 Inzwischen erhält Plaid Cymru Konkurrenz von deutlich radikaleren Linksparteien.38 Der immer wieder ausbrechende militante Nationalismus mit einem beachtlichen Zerstörungspotenzial erlebte in den 1980ern seinen Höhepunkt.39
Heute wird Walisisch (Kymrisch) von 20 % der Bevölkerung als Muttersprache gesprochen. Es ist in den Schulen sogar Pflichtfach. Tatsächlich ist Kymrisch die einzige verbliebene keltische Sprache mit wachsender Sprecherzahl. Als Zeichen zunehmender Autonomie erhielt Wales 1998 ein eigenes Regionalparlament „National Assembly for Wales – Cynulliad Cenedlaethol Cymru“. Eine Unabhängigkeit von Wales’ kann mittelfristig ausgeschlossen werden, da die kompromißlosen Unionisten nur von gut 25 % der Bevölkerung unterstützt werden und das Land zahlreiche Nichtwaliser beherbergt. Zudem fehlt auch ein ökonomischer Katalysator wie das schottische Nordseeöl.
Das im äußersten Südwesten Englands gelegene Cornwall erhielt von den angelsächsischen Eroberern seinen Namen „Kearn Weahlas“ (Fremde aus Kern).40 Bis ins 9. Jh. konnte sich dieses keltische Gebiet gegen die Angelsachsen behaupten, ehe es im 11. Jh. vollständig in England eingegliedert wurde. Das Bewußtsein einer eigenen Identität mit spezifischen Bräuchen und Trachtenfesten blieb erhalten. Während des Englischen Bürgerkriegs standen die Kornen auf seiten des Königs und wandten sich gegen die Parlamentsherrschaft, dabei erlangte Cornwall kurzzeitig 1642 de facto seine Unabhängigkeit.
Schon im 18. Jh. war das Kornische als Muttersprache ausgestorben. Sein Überleben verdankt diese keltische Sprache Henry Jenner (1848–1934), der sie privat Interessierten lehrte. Noch heute wird sie von einem überschaubaren Traditionskreis gepflegt und von London als Minderheitensprache anerkannt. In den 1890ern entstand unter den 500.000 Kornen eine bescheidene Autonomiebewegung ohne nennenswerte Erfolge, zu sehr war der Anglisierungsprozeß fortgeschritten. Erst im Zuge starker schottischer und walisischer nationalistischer Bewegungen der 1970er, formierte sich verstärkt auch eine kornische Bewegung. Ab 2000 kam die Forderung auf, genau wie Wales und Schottland ein eigenes Parlament zu etablieren („Cornish Assembly“).
Motor des kornischen Bewußtseins ist die Partei „Mebyon Kernow” (Söhne Cornwalls), die schon 1951 gegründet wurde. Die „Söhne“ erheben mehrheitlich nur autonomistische Forderungen und verbinden diese mit ökologischen. Diese Strategie bringt der Partei einen beachtlichen Rückhalt ein. Begrenzt wird der Parteierfolg allerdings von zwei Umständen. Erstens: Das kornische Bewußtsein beschränkt sich auf folkloristische Eigenheiten und nicht ethnisch-sprachliche, und zweitens: Alle drei großen britischen Parteien erheben inzwischen ebenfalls regionalistische Forderungen.
Die keltische Insel inmitten der Irischen See gehörte vom 8. bis 13. Jh. einem norwegischen Wikingerreich und wurde stark germanisch beeinflußt. So stammt die politische Vertretung, der Tynwald,41 aus dieser Zeit. 1266 fiel die Insel an Schottland und danach durch Kauf an den englischen König als quasi Privatbesitz.
1765 erhielt die Isle of Man parlamentarische Autonomie, womit die Tynwald-Tradition erhalten blieb. Heute stellt die Insel einen autonomen Kronbesitz dar, d. h., sie gehört weder der EU noch dem Vereinigten Königreich an, gleichwohl die Bewohner volle britische Staatsbürgerrechte genießen.42
Bei den gegenwärtigen Bewohnern (70.000) handelt es sich um ein Völkergemisch aus Kelten und Wikingern, die verschiedenen Religionen angehören: anglikanisch, katholisch und protestantische Freikirchen. Damit erinnert Isle of Man an ein Miniatur-Großbritannien. Die keltische Sprache Manx gilt als ausgestorben, wird also nicht mehr als Mutter- und Alltagssprache genutzt. Gleichwohl pflegen einige wenige Interessierte Manx als Beweis ihrer eigenen Identität.
Mit „Mec Vannin“ (Söhne Mans) erhielt auch diese „keltische“ Nation 1962 ihre separatistische Organisation.43 Ihre Schwäche resultiert aus der gemäßigt linken republikanischen Ausrichtung auf einer monarchistisch-konservativ geprägten Insel, dem weitgehenden Fehlen politischer Parteien44 und der für London großzügigen Autonomie. So gibt die Insel eine eigene Währung und Postwertzeichen heraus und wird von London nur außenpolitisch und militärisch vertreten, womit schon alle autonomistischen Forderungen erfüllt sind. Außerdem pflegt die Isle of Man offiziell eher das normannische Erbe denn das keltische.
Die bretonische Halbinsel war in gallischer Zeit als „Armorica“ (= Land am Meer) bekannt und wurde wie ganz Gallien 56 v. Chr. von Cäsar erobert und restlos romanisiert. Tatsächlich handelt es sich bei den heutigen Bretonen – wie der Name schon sagt –, um im 5. Jh. eingewanderte christianisierte Briten, die vor den angelsächsischen Invasoren aufs Festland flüchteten. Dafür war die unwirtliche und dünn besiedelte Halbinsel in Nordwestfrankreich ideal. In der Folgezeit kam es zu ständigen Kämpfen mit den germanischen Franken, die die Halbinsel im 9. Jh. eroberten, aber nicht in die inneren Angelegenheiten eingriffen.45 Ab der ersten Jahrtausendwende existierten viele kleine Herzogtümer rivalisierend nebeneinander. Anne de Bretagne (1477–1514) war die letzte unabhängige Herrscherin der Halbinsel, bevor sie 1532 offiziell in Frankreich integriert wurde.46
Bis zur Französischen Revolution bewahrte die Bretagne eine gewisse Autonomie, konnte Sprache und Brauchtum pflegen und besaß sogar einen Sitz in der Pariser Ständeversammlung. Frankreich begann dank des unheilvollen Nationenbegriffs der Revolutionäre 1789 zunehmend zentralistisch zu werden, was sich in Französisierungsmaßnahmen manifestierte, die alle ethno-linguistischen Minderheiten traf. Aufgrund dieses erdrückenden Zentralismus und des katholisch-monarchistischen Charakters entwickelte sich die Bretagne neben der Vendée zum Zentrum der Konterrevolution. Erst nach zähen Kämpfen konnte die Revolutionsarmee diese konservative Rebellion niederschlagen.
Der moderne bretonische Nationalismus erstarkte erst in den 1890ern mit der gemäßigten „Union Régionaliste Bretonne“, der „Fédération Régionaliste de Bretagne“ und vielen Kulturorganisationen. Der Erste Weltkrieg wirkte auf die Unabhängigkeitsbewegung wie ein Katalysator: Weil junge bretonische Soldaten kaum französische Befehle verstanden und auch noch an vorderster Front eingesetzt wurden, hatte das bretonische Volk überproportional viele Gefallene. Der bretonische Nationalismus radikalisierte sich in den 1920ern auch im Zuge aufstrebender faschistischer Bewegungen im Ausland. Für ihre Militanz berüchtigt waren die Zeitung „Breizh Atao“ (= Bretagne für immer), die „Strolled Broadel Breizh“ (= Bretonische Nationalpartei), die „Strollad Ar Gelted Adsave“ (= Partei der Erwachenden Kelten) und die terroristische Gruppe „Gwen ha du“ (= Weiß und Schwarz nach den bretonischen Nationalfarben).
Die deutsche Besatzung 1940 erweckte unter den Bretonen die falsche Hoffnung, ein Baustein in Hitlers neuem Europa zu werden. Tatsächlich förderten einige antifranzösische Stellen der Besatzungstruppen separatistische Gruppen.47 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der bretonische Nationalist Olier Mordrel (1901–1985), der jedoch das deutsche Hegemoniestreben unterschätzte. Er organisierte sogar bretonische Freiwillige für den Kampf gegen Moskau.
Die Nachkriegszeit brachte der Bretagne einen wirtschaftlichen Aufschwung (v. a. durch den Tourismus) und eine kulturelle – nicht aber sprachliche –, Renaissance. 1960 entstanden die heutigen Regionen Frankreichs, so auch die Bretagne, allerdings in stark verkleinerten Grenzen mit einem eigenen Regionalpräfekten. Von Autonomie kann jedoch keine Rede sein. Aufgrund wirtschaftlicher Stärke, aber mangelnder Autonomie entstanden gerade in den 1960ern eine Vielzahl autonomistischer und separatistischer Gruppen – und mit der „Armée Républicaine (Révolutionnaire) Bretonne“ und deren noch militanteren Abspaltungen eine linksextreme Untergrundorganisation mit Kontakten zur IRA und baskischen ETA. Paris reagierte u. a. mit den Dezentralisierungsgesetzen von 1982, die viele Bretonen beruhigte. Heute dominiert die gemäßigt linke „Union Démocratique Bretonne“ die autonomistische Szene. Im Gegensatz zum Nationalismus der anderen keltischen Nationen hatte der bretonische immer einen starken konservativen, katholischen, monarchistischen und sogar faschistischen Flügel. Von den insgesamt 3 Mio. Bretonen48 Frankreichs sprechen nur 150.000 Bretonisch als Alltagssprache, auch wenn es von 800.000 verstanden wird.
Die „Sechs Keltischen Nationen“ sehen sich als die letzten Reste der einst weit verbreiteten antiken Kelten an, dabei können nur Minderheiten der Iren, Waliser und Bretonen auf eine direkte Linie zu diesen zurückblicken. Die überwältigende Mehrheit ist ethnisch stark germanisch beeinflußt. Vom klassischen Keltentum bleibt jedoch weit mehr: Nahezu alle Völker Europas speisen sich aus keltischen Wurzeln. Von allen germanischen Völkern sind die Deutschen am wenigsten germanisch und am stärksten keltisch. Die heutigen „Keltischen Nationen“ haben also kein Monopol auf die antiken Ahnen. Bei aller Wehleidigkeit und Romantik um den „edlen Kelten“ muß man berücksichtigen, daß ungeklärt ist, wer sie tatsächlich waren.
Sprachlich ist das Keltische auf die vorgestellten Randgebiete zusammengeschrumpft und die Zukunft ungewiß. Gälisch (Irisch) und Walisisch haben gute Überlebenschancen, Bretonisch nimmt stark ab, Kornisch und Manx sind de facto ausgestorben. In Kanada und Argentinien gibt es schrumpfende walisische Siedlungsgemeinschaften. Die Sprecher werden zudem immer älter und entstammen einfachen sozialen Schichten. Bei allen erhaltenen Sprachen handelt es sich um Inselkeltisch, vom Festlandkeltisch bleiben nur noch geographische Namen und einige Lehnwörter (Whiskey, Klan).
Im Falle Belgiens (Belger) und der Schweiz (Helvetier) hat man auch auf keltische Namen zurückgegriffen, um den Staatsvölkern einen neutralen Nationennamen zu geben.
Das religiöse Keltentum beeinflußt heute stark die neuheidnische Szene, Mythen und Legenden sind präsent (Arthus, Merlin). Reste der christlichen „keltischen Kirche“ gibt es auch noch vereinzelt.
Eine wirkungsmächtige pankeltische Bewegung scheint ausgeschlossen, zu stark sind die innerkeltischen Widersprüche zwischen den Religionen (protestantische Freikirchen in Wales und Schottland vs. katholischer Traditionalismus in Irland und Bretagne) und den Ethnien (Iren vs. Waliser, Iren vs. Schotten). Die Bretonen solidarisieren sich lieber mit den anderen französischen Minderheiten.
Der irische und walisische Nationalismus betont das keltische Element am stärksten. Allerdings werden die antiken Kelten hauptsächlich als ewige Opfer imperialistischer Aggressoren (Römer und Germanen) begriffen.
Das größte Hindernis für eine wirkungsmächtige pankeltische Bewegung ist das Fehlen eines zentralen Protagonisten. Das keltische „Preußen“ fehlt. Wer schließt sich wem an: Die Iren den Schotten, die Waliser den Bretonen? Was soll kulturelles und politisches Zentrum sein? Was die Leitsprache? Es mangelt zudem an Einheit stiftenden Symbolen, Farben und Hymne. Das „Keltenkreuz“ als christlich-keltische Form kann heute durchaus als ein europäisches Symbol gelten, was den klassischen Kelten als europaweite Kulturgemeinschaft gerecht wird.
1 Benannt nach archäologischen Fundorten
2 Der männliche Orden betätigte sich als Kultleiter, Berater, Richter und Diplomat. Durch Krankenheilung und Weissagung genossen die Druiden höchste Autorität. Aus diesem Grund wurden sie von den Römern systematisch verfolgt. Kein geringerer als Caesar bezeichnete den Orden als die „keltische Seele“.
3 Wegen der bunten Tracht dieser Kelten nannten die Römer sie „Hähne“ (Galli). Noch heute ist der Hahn Nationaltier Frankreichs und Walloniens.
4 Z. B. stammen davon das Französische, Okzitanische, Piemontesische u. a. ab.
5 Das heute zu Spanien gehörende Galicien kämpft um eine verstärkte Autonomie. Galicische Nationalisten sehen sich nicht der keltischen Familie zugehörig.
6 Der Istanbuler Stadtteil „Galata“ und der Fußballverein „Galatasaray Istanbul“ erinnern an die keltische Besiedlung.
7 Analog zu Vercingetorix in Gallien kam es unter der Königswitwe Boadicea 60–61 zu einer konzentrierten Sammlung keltischer Stämme „Südenglands“ gegen die Römer. Nach einigen Erfolgen scheiterte der Aufstand. Boadicea ist heute Symbol des gesamtbritischen Unabhängigkeitswillens.
8 Diese Strategie, auf Bewährtes und Bekanntes zu setzen, wandte man auch später bei den Germanen an. Die keltischen Missionare zerstörten zudem keine heidnischen Orte, sondern weihten sie christlich um.
9 Es waren also nicht zufällig keltische Missionare, die mit starkem Sendungsbewußtsein das Christentum bis nach Mitteleuropa, Island oder den Färöer Inseln brachten. Ohne deren Vorarbeit hätten die römisch-katholischen Missionare es deutlich schwerer gehabt.
10 Das „Book of Kells“ (800) stellt wohl das bedeutendste Zeugnis dar. Darin sind heidnische und christliche Geschichten einträchtig vereint.
11 Als Bsp. soll der Panslawismus dienen: Es gab rein panslawische Bewegungen (z. B. Sokol, Panslawischer Kongress), die ein vereintes Slawenreich anstrebten (primärslawisch). Dagegen stand etwa die Idee eines Großpolen, Großserbien usw. einem solchen Reich entgegen, gleichwohl das slawische Element ständig im Kampf gegen nichtslawische Minderheiten im Land oder äußere Rivalen als Identitätsmerkmal diente (sekundärslawisch).
12 Seit dem Völkerfrühling der nachnapoleonischen Zeit entstanden in Europa liberal-republikanische Gesellschaften, die sich für das „von Monarchen und Klerikern“ unterdrückte Keltische begeisterten.
13 Die Bezugnahme der nationalistischen „Lega Nord“ unter Umberto Bossi auf die keltische Vergangenheit wird als äußerst peinlich empfunden. Vor Bossis Keltenkult (das Parteisymbol ist keltisch) bemühte er das longobardisch-germanische Erbe seines „Padanien“. Ganz abwegig ist die Strategie der „Lega Nord“ allerdings nicht.
14 z. B. 1595 unter dem als Helden verehrten Hugh O’Neill (1540–1616)
15 Vermutlich starben 1,2 Mio. Iren, eine weitere Million wanderte nach Amerika aus.
16 Die Fenir waren angeblich im Mittelalter eine Geheimorganisation freiwilliger Landsknechte mit komplizierten Initiationsriten. Wahrscheinlich entsprangen sie eher dem Legendenreich.
17 Die „Irish Republican Army“ (IRA) verband sich erst zu dieser Zeit mit Sinn Féin und wurde ebenfalls zum Sammelbecken vieler bewaffneter Kleingruppen.
18 Der Vertrag spaltete die Sinn-Féin-Aktivisten in Befürworter und republikanische Gegner, was einen Bürgerkrieg auslöste, den 1923 die gemäßigten Vertragsbefürworter für sich entschieden.
19 Ursprung und Bedeutung von „Alban“ oder „Albion“ sind nicht geklärt. Es kann keltische oder römische Wurzeln haben.
20 Der aus dem Kleinadel stammende Bauernführer William Wallace (1270–1305) konnte mit Guerilla-Taktiken einige große Siege erringen, ehe er durch den Verrat schottischer Adliger scheiterte.
21 Eine nicht zu unterschätzende Ursache ist die angelsächsisch-katholische Missionierung der keltischen Kirche.
22 Bis heute Symbol englischer Hinterhältigkeit bleibt das „Massaker von Glencoe“ 1692, dabei verrieten die Engländer das sakrale schottische Gastrecht.
23 Hauptursache für die Union waren versprochene Handelsvorteile für Schottland. Der erste „Union Jack“ aus englischen und schottischen Farben entstand schon 1606 unter Jakob I.
24 Ein letztes Aufbegehren gegen England unter dem romantisch verklärten Jakobiten-König Bonnie Prince Charlie (1720–1788) scheiterte 1746.
25 Der calvinistische Eiferer John Knox (1514–1572) brachte diese pietistische Variante nach Schottland, die sich von Kirchenkreisen (Presbyteries) zur Generalversammlung organisiert.
26 Die schottischen Nationalsymbole, Andreaskreuz und Löwe, entstammen christlichen und normannischen Einflüssen.
27 Die oft auch gewalttätige Rivalität der Fußballvereine „Celtic Glasgow“ und „Glasgow Rangers“ resultiert aus dieser schottischen Zwitterstellung. Dieser ist protestantisch-britisch orientiert, jener katholisch-irisch.
28 Die separatistische SNP errang 2011 mit 44 % (31 % 2007) einen grandiosen Wahlsieg und strebt eine Volksbefragung über eine mögliche Unabhängigkeit innerhalb der EU an. Als kompromißlose Unionisten gelten nur noch die Konservativen (12,4 %), während Labour und Liberale autonomistisch sind. Die separatistischen Grünen kamen auf 4,4 %.
29 Garantie einer eigenen Rechtsordnung, eigene Pfundnoten und Schaffung eines eigenen Parlaments 1999, das freilich von Westminster überstimmt werden kann.
30 Cymru (die Gefährten) dient als keltische Eigenbezeichnung.
31 Durch die Integration in England bildet die walisische Flagge keinen Bestandteil des „Union Flag“.
32 1588 erfolgte die walisische Bibelübersetzung.
33 Viele englische Lehrer verboten ihren Schülern den Gebrauch ihrer Muttersprache.
34 Jones gründete in Argentinien 1865 eine genossenschaftliche Siedlung.
35 Lloyd George (1863–1945) gehörte dessen radikalen Flügel an, ehe er zum britischen Patriotismus fand.
36 Dazu gehörte auch die Bekämpfung der englischen Sprache und die Ausweisung irischer und englischer Einwohner. Angeblich haben während des Zweiten Weltkrieges auch Verbindungen zu deutschen Stellen bestanden. Plaid Cymru lehnte die englische Kriegsbeteiligung ab.
37 Prägende Persönlichkeit dieses Kurses war der populäre Richard Gwynfor Evans (1912–2005).
38 Plaid Cymru erhielt 1999 noch 30,6 % für das Regionalparlament, 2011 aber nur noch 17,9 %.
39 Verantwortlich waren: „Mudiad Amddiffyn Cymru” (Bewegung zur Verteidigung von Wales), “Meibion Glyndwr“ (die Söhne Glyndwr) u. a.
40 „Kern“ bzw. „Corn“ wiederum stammt vom keltischen Stamm der Cornovii ab.
41 Der Tynwald ist das älteste ununterbrochen wirkende Parlament der Welt. Er hat zwei Kammern: die eine wird direkt gewählt, die andere indirekt.
42 Neben der Isle of Man sind auch die normannischen Kanalinseln Kronbesitz. Kronbesitz betreffende Gesetze werden in eigenen Parlamenten (z. B. Tynwald) erlassen und ganz selten von Westminster. De facto vertritt symbolisch ein Vizegouverneur den britischen Monarchen.
43 Daneben existieren noch kleinere Gruppen wie die „Manx National Party“.
44 Für den Tynwald kandidieren fast nur unabhängige Kandidaten.
45 600 gab es das letzte Mal ein vereintes bretonisches Königreich.
46 Das Vereinigungsdenkmal in Rennes wurde 1932 von militanten Nationalisten gesprengt.
47 Zu den wichtigsten gehörten neben den erwähnten: „Urz Goanag Breiz“ (Orden der Bretonischen Hoffnung) und „Mouvement Ouvrier Social-National Breton“. Beide pankeltisch orientiert mit engen Verbindungen zu walisischen und irischen Nationalisten.
48 Es ist schwer zu beziffern, wie viele Bretonen es gibt. Neben einer großen Diaspora in Kanada gibt es auch französisierte Bretonen, die allenfalls ein regionales Bewußtsein haben. Ausgerechnet der extreme Zentralist Jean-Marie Le Pen ist Bretone.