Das deutsche Wesen, seine ewige Potenz und irdischen Gestalten auf dem geschichtlichen Schicksalsweg darzustellen, danach trachteten einst deutsche Dichter. Am meisten freilich Erwin Guido Kolbenheyer. Der vor 1945 vielleicht prominenteste Autor ist heute vergessen. Anläßlich seines 50. Todestags erinnern wir uns seiner für einen Moment. Und mit ihm einer Literaturlandschaft, die versunken scheint, wie Atlantis im Meer.
Im Sommer 1962 – Will Vesper und Erwin Guido Kolbenheyer waren eben verstorben – hielt Wilhelm Pleyer am Dichtertag in Lippoldsberg, dem vormaligen Domizil Hans Grimms, eine Gedenkrede1 auf die drei alten Freunde und Mitstreiter. Treu und rühmend aus alter Verbundenheit, aber mit einem bitteren Unterton. Erschien die geistige Provinz, der sie alle entstammten, doch bereits abgetan. Tatsächlich hatte sich in dieser Zeit die geistige Tektonik schon gewaltig verschoben.
Die deutsche Nationalliteratur als solche ist heute vergessen. Ganz gewiß aber gilt das für die Genannten und ihren kulturellen Umkreis. Sie verfielen einem ästhetischen sowie geschichtspolitischen Verdikt. Das literarische Leben im Dritten Reich ist heute unbekannt, seine Autoren werden weder aufgelegt noch gelesen.
Nur außerhalb des öffentlichen Raums faszinieren sie noch ein paar Versprengte. In der Regel sind das einige Nostalgiker im rechten Milieu2; auf der Gegenseite sodann eine Handvoll Germanisten, die die Entnazifizierungsmaschine ihrer Wissenschaft in Schwung halten. Sie „erledigen“ einfach die Autoren der Reihe nach.3
Die Getreuen von rechts halten sich ans Apologetische und scheuen dabei idealisierende Retuschen kaum. Vollends grotesk freilich nehmen sich ihre Antipoden aus. Überformt deren „Ideologiekritik“ doch die Gegenstände vollends ins Unkenntliche.4
Das scheint auch das eherne Schicksal Erwin Guido Kolbenheyers (1878–1962): Genialer Romanautor und Sprachmeister, doch auch suspekter Produzent eines regelrechten Gebirges monströser, weltanschaulicher Traktate.
Beziehungslos fallen da die Stimmen seiner Nachwirkung auseinander. Von seinem großen Paracelsus-Epos ist zu lesen, es sei nur mehr von „historischem Interesse“ (Wagner-Egelhaaf), und andererseits, der Roman sei das „mächtigste geschichtliche Prosawerk der Deutschen“.5
Erwin G. Kolbenheyer wurde am 30. Dezember 1878 in Budapest als Sohn eines karpatendeutschen Vaters und einer sudetendeutschen Mutter geboren.
Schon mit drei Jahren verliert das Kind seinen Vater, einen erfolgreichen Baumeister. Es übersiedelt mit der Mutter in deren Heimatstadt Karlsbad, wo die Familie ansässig ist. Kolbenheyer verbringt dort seine Kindheit; anschließend besucht er das Gymnasium in Eger. Stets hat er sudetendeutsch gefühlt.
1900 geht er nach Wien. Er studiert dort Philosophie, Psychologie, Zoologie und Kunstgeschichte und promoviert 1904 mit einer Arbeit zur „Sensoriellen Theorie der optischen Raumempfindung“. 1906 heiratet Kolbenheyer, bezieht einen Wohnsitz in der Kaiserstadt und etabliert sich als freier Schriftsteller. Die ersten Romane entstehen.
Am Weltkrieg nimmt er teil, wird verwundet und geht erneut ins Feld. Tief im Kriege – 1917 – erscheint sein erster Paracelsus-Roman.
Nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie wird es dem Autor in Wien zu turbulent. Er lernt Tübingen kennen und lieben. So wird ihm die idyllische Neckar-Stadt für die nächsten 13 Jahre zur Heimstatt. Zwar bleibt die Wiener Familie im schwäbischen Universitätsnest randständig. Doch der Autor erlebt dort reiche Jahre. 1926 schließt er den dritten Band seines „Paracelsus“ ab. Ein Jahr zuvor war sein weltanschauliches Riesenwerk, die „Bauhütte“, erschienen. Kolbenheyer identifiziert sich mit dem Typ des Dichter-Denkers, der faustisch die äußere Welt umrundet und die innere durchdringt.
1926 wird er in die neugegründete Sektion Dichtkunst an der Akademie der Schönen Künste zu Berlin gewählt. 1931 ausgetreten, doch 1933 in die neue Dichterakademie zurückgeholt, stimmt Kolbenheyer im Dritten Reich mit den propagierten Zielen und Werten überein.
Er ist geschätzt, wird viel gelesen, seine Dramen werden aufgeführt. Er erhält zahlreiche Ehrungen. Aus ihnen ragt der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt 1937 hervor.
Die politischen Zeitereignisse begrüßt der Autor. Er hat die Versailler Nachkriegsordnung abgelehnt – als imperiales Regime der Siegermächte: „Der deutsche Prometheus sollte in Ketten gelegt werden.“6 Als Vertreter der These von den „alten und jungen Völkern“ besaß das Reich trotz militärischer Niederlage noch immer starke, innere Kräfte: ein Potential, das künftigen Aufstieg ermöglichte. Zumal Kolbenheyers Geschichtsdenken periodische „Schwellenzeiten“ exponierte, Krisen, die Neues hervorbrachten.
Diese Chancen fokussierte sein deutschnationales Denken, das die Reichshistorie als eine Überfremdungsgeschichte, als Fesselung unseres Volkscharakters verstand. Diese Ohnmacht galt es aufzubrechen. Für Kolbenheyer lagen die Anfänge dazu in der spätmittelalterlichen Mystik und führten zur Reformation.
In der „nationalen Revolution“ von 1933 fand nun diese deutsche Befreiungsgeschichte ihren gloriosen Abschluß. Seine optimistische Perspektive wertete sogar den Weltkrieg als „Völkerringen“ um ein neues Europa, als notwendige „Anpassungsreaktion“.
Naturgemäß begrüßt er den Anschluß Österreichs 1938 und die Angliederung des Sudetenlands, seiner Heimat.
Das Kriegsende zerschlägt das hegemoniale Nationalgefühl. Kolbenheyer, seit 1932 in München ansässig, wird zwar nicht selbst vertrieben. Doch verliert er seinen gesamten Karlsbader Grund- und Immobilienbesitz. 1946 aus seiner Villa ausgewiesen, verschlägt es seine Familie nach Wolfratshausen.7
Mehrfach von Besatzungsorganen verhört, kommt es 1948 schließlich zum Spruchkammerverfahren, in dem der Schriftsteller als „Aktivist“ der Gruppe 2 („Belastete“) zugeordnet (1950 in der Berufung jedoch zum „Minderbelasteten“ zurückgestuft) wird.
Signifikant auch Kolbenheyers Schlußplädoyer. Noch immer äußert er sich unverhohlen selbstbewußt: „Die Urteilenden mögen bedenken, daß die Kammer in diesem Falle nicht allein innerhalb eines politischen Gerichtsstandes wirkt, sondern auch vor einem geistesgeschichtlichen Forum, das über die Grenzen der deutschen Nation hinausreicht.“8
Auch in den Nachkriegsjahren entstehen umfangreiche Schriften, die freilich unter den schwierigen Bedingungen nur mehr wenige Leser finden. Kolbenheyer, vormals eine Leuchte des NS-Kulturbetriebs, ist durch die Ungunst der Umstände in Bedeutungslosigkeit abgerutscht und zur apokryphen Figur geworden.
Junge Leser, die sich für Hemingway oder Sartre begeistern, haben mit den alten Größen wenig im Sinn. Dagegen bildet sich eine kleine Gemeinde, aus der die Kolbenheyer-Gesellschaft entsteht, die schließlich auch sein Gesamtwerk betreut (1967–78).
Jenseits dieser Nische wird Kolbenheyer vergessen. Daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts mehr geändert. Die Gründe dafür liegen weniger in seiner NS-Prominenz, mehr schon in den völkischen und rassischen Anschauungen seines Weltbilds, seiner „biologischen Metaphysik“. Deren paradoxes Ergebnis war sein pseudophilosophisch monströser Systementwurf der „Bauhütte“ (1925/ 40/52). Dieser suchte, einen universalen Deutungsanspruch mit dem empirischen Kalkül zu vereinen. In sonderbarer Engführung hat hier der Pantheist die Zeitmächte seiner Jugend mit seinem religiösen Impuls verschmolzen: den weltanschaulichen Monismus Haeckels, den theoretischen Positivismus Machs und das materialistische Dogma der Zoologen mit seinem persönlichen Gottsuchertum.
Mit dieser unverdaulichen Mischung unterfütterte er seine geschichtlichen Anschauungen biologisch und verfiel so grotesken Scheinargumenten.
Gewisse Aspekte seines „naturalistischen Konservatismus“ sind immerhin bedenkenswert; sie korrespondieren mit anthropologischen Entwürfen der Zeit. Ihn freilich den epochalen Denkern zuzuzählen, scheint mir absurd.9 Ihn als den „Antipoden des american way of life“ anzusprechen, trifft hingegen ins Schwarze.10 Ist diese „minimalistische Weltsicht“, wie Kopp schreibt, ja doch „weder metaphysisch […], noch gibt es für sie ein Leben über das Individuum hinaus – im Transzendentalen ohnehin nicht, aber auch nicht in Gestalt einer überzeitlichen Volksgemeinschaft.“
Anachronistisch, wenngleich sympathisch wirkt das Überdeterminierte seiner Feder: die ambitionierte Synthese aus Literatur, Religion, Philosophie und (Natur-)Wissenschaft. Damit stellte er sich in die deutsche Tradition der Dichter-Denker.
Erstaunlich genug stellt er in seinen Erzählungen die materialistische Doktrin hintan und identifiziert sich mit der Spiritualität seiner Figuren, mit Meister Eckhart, Paracelsus oder Jakob Böhme. Das faustische Thema der Gott- und Wahrheitssuche bleibt insofern nicht nur thematisch. Als treibende Kraft seiner Autorschaft bestimmt es vielmehr die Logik und Struktur der Romane.
Seine monumentale Zeitfigur nun, Paracelsus, der rastlose Pilger nach dem Unendlichen, erhält gar eine mythische Rahmung durch die Figuren Christi und Odins. Ihre übernatürlichen Begegnungen zu Beginn symbolisieren für Kolbenheyer die Polarität der deutschen Seele.
Vor diesem Hintergrund spielt sich der epochale Kampf um den Menschen ab: War der Mensch ein Abbild Gottes oder nur Funktion der Natur? Hier schieden sich die Geister.11
Nicht so Kolbenheyer. Unbewußt trug er den Zwiespalt in sich und mit sich selbst aus. Diese Ambivalenz macht das Verstörende seines Werks aus, verbürgt aber auch seine Größe.
Es war das eigentümliche Schicksal Kolbenheyers, als Nachgeborener der radikalen Einzelgänger und Spiritualisten der Reformation – Müntzer, Schenckfeld, Franck, Weigel, Böhme12 – in ein wissenschaftsgläubiges Zeitalter versetzt zu sein. So vernetzten sich utopische und deterministische Motive in seinem Denken eigentümlich und hielten den religiösen Wanderer in der Schwebe: „Es ist kein Volk wie dieses, das keine Götter hat und ewig verlangt, den Gott zu schauen.“13, so lautet die merkwürdige Auskunft Wotans, des mythischen Spiegels der Deutschen, an Christus.
Kolbenheyers Autorschaft umfaßt Romane, Erzählungen, Dramen, auch Lyrik, Traktate und Theorieschriften, Essays und Reden. Unterschiedlich der Form nach, transportieren sie alle stets Ideen.
Meist wählte der Autor historische Sujets. So gilt er auch als ein großer Gestalter des historischen Romans in der Zwischenkriegszeit.14 War dabei die epische Prosa das Medium für vielschichtige seelische Prozesse und farbiges Volksleben, so schien ihm die Bühne geeignet, große Konflikte widerstreitender Positionen darzustellen. Besonders reizten ihn historische Stoffe aus Krisen und Schwellenzeiten; seine Helden sind oft Vorkämpfer der Freiheit und Streiter gegen erstarrte Systeme, unverrückbare Normen und notorische Machtansprüche.
So gleich bei seinem ersten Helden, Giordano Bruno (1903/29). Bruno, der Renaissancemensch, ficht gegen das alte Weltmodell, gegen die Papstkirche, für die Unendlichkeit des Raums und die göttliche Einheit mit dem Universum. Ähnliche Motive finden sich im Spinoza-Roman „Amor dei“ (1908).15
Welcher Konflikt ihn jedoch wirklich umtrieb, zeigt sein großes Drama „Gregor und Heinrich“ (1934), das dem Canossa-Gang Heinrichs IV. eine eigenwillige Deutung gibt. Kolbenheyer wendet die kaiserliche Demütigung ins Siegreiche. Das Drama16, seinerzeit ein großer Erfolg17, transportiert seine Zentralidee eines unversöhnlichen Gegensatzes von Nord und Süd: germanischen und mediterranen Völkern, freiem Denken und dogmatischem System, religiösem Individualismus und kirchlicher Autorität. Dieser vielfach variierte Dualismus bezeichnet eine Obsession seines Denkens.
Darüber hinaus nimmt sein Stück auch an der Transformation des Theaters im 3. Reich teil. Sein Konzept einer „Dritten Bühne“ entwirft ein Theater, das die Zuschauer einbezieht, ihrer Passivität entreißen soll.
Das Modell hatte der expressionistische Dramatiker Hans Johst entwickelt, der in seiner Dramentheorie18 von der griechischen Tragödie ausging. Die ursprüngliche Kultgemeinde galt es, in der Gegenwart als Volksgemeinschaft neu zu schaffen. Das entwarf sein „Schlageter“ (1933). Dessen simultane Schlußszenen zeigen die Saboteure der französischen Ruhrbesetzung 1923. Deren Gericht und Opfertod ergreift nicht nur die Zeugen auf der Bühne, sondern springt als nationaler Impuls aufs Publikum selbst über. Hier war das Prinzip eines postbürgerlichen Nationaltheaters erfaßt, einer suggestiven Alternative zum kommunistischen Agitprop und vor allem zum aufklärerisch-emanzipatorischen Gegenmodell: Bert Brechts „epischem Theater“.19
Während „Montsalvatsch“ (1912) die Reihe seiner Zeitromane eröffnete, so „Amor dei“ (1908) und „Meister Joachim Pausewang“ (1910) die Reihe seiner Ketzer- und Gottsucher-Romane. Der im Umkreis Jakob Böhmes spielende meisterhafte „Pausewang“ zeigt die hervorragende motivische und sprachliche Verdichtung, zu der Kolbenheyer fähig war. „Weißt nit, was der Schnee bedeckt, / Ist doch nur ein Kleid, / Wie ein Hermelin gestreckt / Voller Herrlichkeit. // Kummt in Lenz zu Blüt und Stand, / Was der Herbst gestreut, / Oder birgt ein Totentand, / Was dein Herze scheut? // Weicher, leichter Flockentanz / Bettet Schlaf und Tod. / Blüht auf weißer Locken Glanz / Noch ein Morgenrot?“20
Kolbenheyer selbst hat seine Helden als Schlüsselfiguren einer symbolischen Freiheitsgeschichte aufgefaßt: „Die historische Reihe meiner Prosadichtungen sollte bis zur Schwellenstufe der geistigen Volksentwicklung zurückgeführt werden, von der aus das deutsche Volk den eigentlichen Durchbruch in sein neuzeitliches Lebensalter durchgesetzt hat.“21
Diese letztlich evolutionäre Vorstellung qualifiziert notwendig die Person Luthers22; problematisiert jedoch auch seine Wendung zu neuer Verkirchlichung, Orthodoxie und Bekenntniszwang („Mauerkirche“).
Auch bleibt ambivalent, wen Kolbenheyer letztendlich favorisiert: den modernen, wissenschaftsgläubigen Atheisten23 oder den universellen, auf den lebendigen Kosmos und seine göttlichen Kräfte bezogenen, faustischen Pilger Paracelsus.
Das eigentlich Faustische konzentriert sich für uns ja in Paracelsus. Dr. Faust24 steuerte den Namen und Anekdotisches bei, Agrippa25 die neuplatonische Kosmologie. Allein, dies alles sind nur Momente in Paracelsi universaler Natur.26
Kolbenheyer widmete ihm sein Hauptwerk zu drei Teilen: „Die Kindheit des Paracelsus“ (1917), „Das Gestirn des Paracelsus“ (1922) und „Das dritte Reich des Paracelsus“ (1926).
Allen Bänden vorgeblendet sind mythologische Szenen, die okkulte Begegnungen des einäugigen Odin mit Jesus Christus schildern. Alle drei beziehen sich aufs Reformationszeitalter, auf Luther und auf Paracelsus. Der heterodoxe Heiland erscheint als ein in der Geschichte ab- und zunehmender Gott, der sich im Wandel seiner Kirche offenbart oder verhüllt. Nun aber, geschwächt durch Scholastik, Latein und römisches Kirchenwesen, inspiriert und partizipiert er am reformatorischen Aufbruch, der als germanische Form des Christentums aufgefaßt wird.
Doch wird im Schlußbild der österliche Auferstehungsglanz wieder zurückgenommen: Odin versenkt den Gottessohn im Eis der Alpen, während Paracelsus fragend um die letzten Dinge ringt. Seine existenzielle Suchbewegung führt ihn zuletzt auf die Geheimisse des dreieinigen Gottes.
So entfaltet das zyklische Werk formal und inhaltlich ein trinitarisches Weltbild: 3 Teile, 3 Reiche, 3 himmlische Dinge: Vater – Sohn – Heiliger Geist; 3gestuft sodann Kosmos wie Menschennatur (in elementis in astris in limbo aeterno); 3 Substanzen der Alchemie und 3fach auch der Aufbau der Erzählung: Kindheit und Volk, Wanderer unterm Gestirn, schließlich der Mystiker im Vorschein des Ewigen.
Charakteristisch für die literarische Brillanz des Epos sind die besonderen Sprachformen: Der Dichter hat nicht nur archaische Sprachstufen, sondern auch regionale Mundarten adaptiert.
Im Gegensatz zu seinem soziobiologischen Anpassungsprogramm und dem gewichtigen Gemeinschaftsmotiv gibt der „Paracelsus“ die Darstellung eines Einsamen, anarchischen Außenseiters, der Ablehnung erfährt und sich nirgends zu integrieren vermag. So gerinnt die Erzählung zu einer fast existenzialistischen Parabel: „Ins Nichts hinein, auf nichts gestellt, so mußte es geschehen.“
Was die komplexe Erzählung in der Schwebe läßt, eskaliert im pantheistischen Weltbild seiner „Metabiologie“, der Bauhüttenphilosophie.27 So unlesbar das Elaborat, wird sein Sinn doch deutlich: Kolbenheyer zielt auf das alte Universalthema von Mensch – Welt – Gottesfrage. Gleich anderen Großautoren seiner Zeit transformierte er Metaphysik in Geschichtsphilosophie. Der Zoologe freilich fügte eine naturalistische Komponente hinzu: Kolbenheyer sucht sein ganzes Geschichtsbild biologisch zu unterfüttern! Er bildet also historische Vorgänge und Ereignisse auf ein tieferes Naturgeschehen ab. Dies wird als Fundament allen Daseins und absolutes Wahrheitskriterium herausgestellt. Hier entspringen sämtliche Grundbegriffe: Plasma, Plasmogenese, plasmatische Kapazität, Zweckmäßigkeit, Anpassung, artgerecht, erbbedingt usw. Der Geistbegriff wird umgestülpt zum plasmatischen Lebensprinzip: dem Grundstoff, der Urkraft, der ewig sich wandelnden Matrix. Man mag an Bergsons Elan vital denken.28
Materialistisch konsequent sucht Kolbenheyer nun von „der Basis“ abzuleiten. Alles andere: Bewußtsein, Seele, Person, Kultur usw. werden als bloße „Hypostasen“ denunziert. Am wenigsten gilt das einzelne Individuum: Es ist nur mehr ein „Funktionsexponent des Plasmas“. Alles untersteht dem universalen biologischen Gesetz. Kolbenheyer, der alle idealistischen Thesen mit Ideologieverdacht überzieht, hypostasiert seinerseits die blinde Natur und endet bei einem neuen, dem biopolitischen „Kategorischen Imperativ“.29
Von Versailles aus verständlich, ersehnten die Besiegten die Wiedergewinnung ihrer politischen Souveränität. Doch die sozialdarwinistische Zuspitzung dieser Vision zu Daseinskampf und Auslese war eine verheerende Auskunft. Die versuchte Distanzierung von Darwin hält vor dem textlichen Befund nicht stand.
Bitter bleibt die Einsicht, daß Kolbenheyers metabiologische Drift in den Kontext des „volksbiologischen Aufbruchs“ und der „autoritären Biologie“ gehört.30 Plessners Analyse führt den Selbstbehauptungs- und Machtwahn des Dritten Reichs auf zwei Wurzeln zurück. Wissenschaftlich hatte die Eleminierung aller idealistischen Annahmen den Ideologieverdacht totalisiert. „Mit der Autorität transzendenten Seins ist es […] vorbei. So bleibt nur innerweltliches Sein und [im] Horizont aller Relativierungen des Menschlichen [nur] seine natürliche Existenz durch Blut und Boden, als das dem Bewußtsein verborgene Diesseits.“31 Sodann die politische Komponente: „Nachdem der Krieg die Fiktion einer friedlich zu regelnden Welt illusorisch gemacht hat, die Propaganda der Weltmächte gegen Deutschland, Versailles und Völkerbund die natur- und völkerrechtlichen Grundideen der Aufklärung […] verbraucht und für Deutschland verdächtigt haben und schließlich die Nachkriegsentwicklung das letzte Argument der Internationalität, die Weltwirtschaft, zerstörte, blieb Deutschland in seinem entgötterten Bewußtsein nur der Rückzug in eine machtpolitische Position der bloßen Selbstbehauptung.“32
Kolbenheyer und seine Adepten, aber auch seine Gegner haben dichterisches Werk und die Bauhüttenideologie eng aufeinander bezogen, ja seine Doktrin der Poesie regelrecht aufgenötigt.33 Dem schließt man sich zunächst an, bis man das Unbillige dieser dogmatischen Hermeneutik durchschaut. Denn: Fantasie und Sprachkraft Kolbenheyers lassen sich von seiner rabiaten Doktrin nicht einfangen. So muß ein faires Verstehen den Poeten selbst schützen vor seinem ominösen alter ego. Der grüblerisch vertrackte, abseitige und tiefgründige Kolbenheyer hat sich mit seiner unsäglichen Doktrin gleichsam selbst eingesargt. Sein Bauhütten-Wust samt Kommentaren vermodert in den Bibliotheken, während die Antiquare das Opus für nur wenige Cent abstoßen! So bleibt nur mehr ein Haufen bedrucktes Papier: einzustampfende Makulatur.
Ecce poeta! So haben Autoren, als ihr ganzes System von Sprache, Dichtung, Genie und nationaler Kultur historisch fraglich wurde, blinden Augs ihre geistige Provinz ruiniert.
Die monströse „Metabiologie“ hat sich nicht bloß politisch diskreditiert. Sie gibt auch das sinistre Beispiel eines gottlosen Reduktionismus, den heutige Darwinisten, Gehirnforscher und andere Atheisten zeitgemäß weiterspielen. Kolbenheyer erwuchs das aus den Zweideutigkeiten der Naturphilosophie, einer pantheistischen Verkürzung, die Gott und Natur gleichsetzte. Auch wenn es wahr bleibt, daß die Gottheit in lebendiger Tiefe erfahren wird und so sich erst die eigene Art erschließt, übersteigt die Kraft des Heiligen jegliche Immanenz. Dieser numinose Impuls wirkte auch in Kolbenheyer, war innerster Nerv seines „metaphysischen Dursts“ nach den überindividuellen, universalen Ordnungen. Nur vergaß er, daß das Seinsgesetz als hierarchische Struktur wirkt: Natur – Geschichte – Transzendenz. So dimensioniert der Logos das Reich aller Wesen. Jede Exististenz ist von Gott her geliehen, er legt sich in ihr nur aus.
Kolbenheyers Fall und seine Schuld waren auch die der Deutschen. Nicht sein Zug ins Weite, sein Sinn für die Tiefe oder die dichterische Monumentalisierung waren an sich prekär. Furchtbar aber war die Verwirrung der Ebenen, der Einsturz der Hierarchie. Denn nur so konnte sich Bestes in Teuflisches verkehren.
1 Wilhelm Pleyer: Hans Grimm – E. G. Kolbenheyer – Will Vesper. Gedenkrede. München/Stuttgart 1962.
2 Paradigmatisch Hans-Ulrich Kopp: Literatur vor der „Stunde Null“ – Deutsche Schriftsteller 1933–1945. Rosenheim 1997.
3 Jürgen Hillesheim / Elisabeth Michael (Hrg.): Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Würzburg 1993.
Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Frankfurt/M. 2007.
4 Das erscheint auch in neuesten Publikationen unverändert: Vgl. Hans Sarkowicz/Alf Mentzer (Hrg.): Schriftsteller im Nationalsozialismus: Ein Lexikon. Berlin 2011.
5 Konrad Wandrey, zit. bei: Franz Westhoff: E. G. Kolbenheyers Paracelsus-Trilogie. Eine Metaphysik des deutschen Menschen. Berlin 1937; 89
6 Zit. bei Ernst Frank: Jahre des Glücks – Jahre des Leids. Eine Kolbenheyer-Biografie. Kevelaer 1969; 44
7 Peter Dimt: Schlederloher Tagebuch 1946. Ein Jahr mit Erwin Guido Kolbenheyer. Berg 1982.
8 Zit. Frank, 97
9 Hans-Ulrich Kopp: Erwin Guido Kolbenheyer. Sudetendeutscher Dichterphilosoph. Eine heranführende Skizze zu Leben und Werk. In: Deutsche Annalen. Berg 1955; 291–300
10 Ebd., 298
11 Hans Meyer: Geschichte der abendländischen Weltanschauung. Bd. V. Würzburg 1950.
12 Vgl. Walter Nigg: Heimliche Weisheit. Zürich 1959.
13 Erwin G. Kolbenheyer, Paracelsus. Romantrilogie. München 1941; 20
14 Vgl. auch: Frank Westenfelder: Genese, Problematik und Wirkung nationalsozialistischer Literatur. Der historische Roman zur Zeit der Weimarer Republik. Frankfurt 1989.
15 Als erster Neudruck eines Kolbenheyer-Romans erschien „Amor dei“ 1952 bei Leopold Stocker in Graz als NA!
16 Vgl. Günther Rühle: Zeit und Theater 1933–45. Frankfurt/M. 1980. Bd. VI; 766–777
17 Hermann Wanderscheck: Deutsche Dramatik der Gegenwart. Berlin 1938.
18 Hanns Johst: Ich glaube! Bekenntnisse. München 1928.
19 Als signifikanter Vergleich böte sich Bert Brechts „Leben des Galilei“ (1943) an, in Kontrast etwa zu Kolbenheyers Bruno-Stücken (1903/29)
20 Kolbenheyer: Meister Joachim Pausewang. Müchen 1910; 349
21 Zit. Frank, 84. Vgl. auch Dimt, 223
22 Luther widmet sich der Mittelteil der Dramatischen Tetralogie: Menschen und Götter. Gartenstadt 1944/56.
23 Ebd., „Der Hellweg“; 193–287
24 Diese Überlieferung systematisch bei: Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Stuttgart 1976 ff.
25 Aktuelle Ausgabe: Agrippa von Nettesheim: Die magischen Werke. Wien/Wiesbaden 1997.
26 In diesem Sinn der führende konservative, stets auf Paracelsi theologisches Genie abstellende P-Kenner, Will-Erich Peuckert: Parcelsus – Die Geheimnisse. Leipzig 1941; Xff. und sodann kanonisch: ders.: Theoprastus Paracelsus. Stuttgart 1943.
27 Robert König: Der Metaphysische Naturalismus E. G. Kolbenheyers. Nürnberg 1971.
28 Robert Steuckers: Erwin Guido Kolbenheyer (1878–1962).
29 Zit. Koch, 128: „Handle so, daß du überzeugt sein kannst, mit deinem Handeln auch dein Bestes und Äußerstes dazu getan zu haben, die Menschenart, aus der du hervorgegangen bist, bestands- und entwicklungsfähig zu erhalten.“ (MdB,565)
30 Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. (1935/59) Frankfurt 1985.
31 Ebd., 141
32 Ebd., 149
33 Extrem hierin z. B. Westhoff und Koch; mit umgekehrten Vorzeichen die gesamte Antifa-Germanistik.