Anna – ihr Fall soll anonym bleiben: die Geschichte einer jugendlichen Gottsucherin, die tragische Geschichte eines „außengeleiteten“ Menschen.
Anna, ihr Fall soll anonym bleiben. Die folgende Kurzbiografie wurde von einer Person niedergeschrieben, die Anna gut kannte:
„Bis zur Matura ist Anna ein sozusagen ‚pflegeleichtes‘ Kind. Intelligent, talentiert, dazu auch noch hübsch, genießt sie die kleinen Freiheiten, die ihr die Eltern in einer Zeit der ersten, zaghaften Versuche antiautoritärer Erziehung gewähren. Die Eltern, beide Akademiker, geben ihr viel Liebe. Die Mutter verzichtet dem Wunschkind zuliebe viele Jahre lang auf die Ausübung ihres Berufes. Mit 18 startet Anna mit großen Ambitionen ihr Studium an der Universität. Die ersten Probleme treten auf, als sie sich einem Kreis maoistischer Kommilitonen anschließt. Aber diese jugendlich-politische Phase dauert nur kurz an. Bald gerät sie unter den Einfluß von Drogenabhängigen. Mit Haschisch beginnt es, schließlich landet sie bei Heroin. Traurige Folge: Anna muß das Studium wegen Konzentrationsschwäche abbrechen. Die Eltern sind ebenso bestürzt wie tief enttäuscht. Anna zieht sich immer mehr von allem zurück, in eine Art seelisches Niemandsland. Da macht sich die religiöse Sekte ‚Jesus People‘ an sie heran, mit Erfolg, Anna fällt ins nächste Extrem. Hat sie bisher immer noch Wert auf ihr Äußeres gelegt, werden nun Haare, Körper, Nägel und Kleidung vernachläßigt. Ihre Antwort auf meine negative Reaktion bei einem ihrer selten gewordenen Besuche: ‚Ich darf mich nicht mit meinem Körper beschäftigen.‘ Sie läuft in einem zerschlissenen langen Kittel umher, mit Schuhen, die viel zu leicht sind für den Winter. Das Geld, das ich ihr gebe, um sich warme Sachen zu kaufen, liefert sie an ihre Sekte ab. Ich schenke ihr statt Bargeld einen Mantel; beim nächsten Besuch besitzt sie ihn nicht mehr. Man kann mit ihr nicht mehr sprechen, nicht mehr vernünftig diskutieren wie früher; lapidar wiederholt sie die eingelernten religiösen Phrasen ihrer Lehrmeister. Das einzig Positive: Anna kommt vom Rauschgift los, denn die Sekte verbietet Drogen, Alkohol und Zigaretten; wie übrigens auch Sex. Sie zieht sich immer mehr von der Familie zurück. Sie lebt – und das hat mich am tiefsten erschüttert – eine Zeit lang mit einem Huhn in einem Kellerabteil ihres Wohnhauses. Auf meine Frage antwortet sie, sie brauche ein Wesen, für das sie sorgen, das sie gernhaben kann. Dann tritt das Unerwartete, kaum noch Erhoffte ein: Ein Freund aus früheren Tagen meldet sich bei ihr. Wenn sie ihn noch lieb habe, würde er aus dem Ausland zurückkehren. Alles scheint gut zu werden. Die beiden heiraten, richten sich häuslich ein und freuen sich über ihr erstes, wohlgeratenes Kind. Dann kommt der Krebs, Brustoperation, zweite Schwangerschaft. Bei der Geburt des Kindes wird an Anna eine Totaloperation vorgenommen, um Metastasen vorzubeugen. Das Baby stirbt, drei Wochen alt, an einer Darminfektion. Anna schreibt mir zum letzten Mal: ‚Es tröstet uns aber, daß Gott keine Fehler macht.‘ Der Krebs holt sie doch noch ein. Sie stirbt mit knapp 37 Jahren. Macht Gott wirklich nie Fehler?“
Die Sehnsucht, sich auf etwas beziehen zu können, erscheint im Leben der jungen Frau als treibende Kraft. Unter den Objektwahlen ihres Liebesverlangens erscheinen politische und religiöse Heilande, denen sie dienen möchte, im Zusammenhalt einer Gruppe von Gleichgesinnten. Zwischendurch nimmt sie die Einladung der Geister des Hanfs und des Mohns an, um aus der Enge des banalen Alltagsbewußtsein zu entkommen. Sie macht die Erfahrung, daß aus Beziehungen Bindungen, aus Bindungen Abhängigkeiten werden können. Das Necessaire mit den bürgerlichen Wertsachen, das sie von ihren Eltern auf die Reise mitbekommen hat, ist ihr abhanden gekommen. Die letzte Instanz, der sie schließlich begegnet, nach einem kurzen familiären Glück, ist eine tödliche Krankheit … Von außen betrachtet, entbehrt der Lebenslauf Annas jeglichen Sinns. In seinem Inneren waltet überraschenderweise ein Gott, der keine Fehler macht, wie in alten Heiligenlegenden.
Die Geschichte der jugendlichen Gottsucherin kommt allerdings nicht aus dem Mittelalter, sondern aus einer Großstadt der industriellen Ära nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist die Geschichte eines „außengeleiteten“ Menschen, wie der amerikanische Soziologe David Riesman in seinem Buch „Die einsame Masse“ den neuen Sozialcharakter genannt hat. Im Gegensatz zu früheren Typen der Persönlichkeitsformung durch Traditionen und Moralvorstellungen, meinte Riesman, orientiere sich der außengeleitete Mensch hauptsächlich an dem, was gerade „angesagt“ ist – in der Bezugsgruppe und in den Massenmedien.
Tatsächlich lassen sich die Anhänglichkeiten Annas (Maoismus, Jesus-People) mit bestimmten Jahreszahlen – 1967, 1971 – unschwer in Verbindung bringen, wie Moden. Auch der Drogenkonsum Annas wirkt fremdbestimmt und flüchtig. Konstant bleibt lediglich die Unfähigkeit, mit sich allein zu sein. Erst im Kellerverschlag, abgeschirmt von den überredenden Stimmen der Außenwelt, mit dem Huhn als einziger Freundin, wird Anna unverwechselbar, gewinnt sie so etwas wie Autonomie, Originalität, Würde. Die extreme Form ihrer Weltflucht läßt ahnen, wie schwierig der Widerstand gegen das allgegenwärtige Radio im Kopf geworden ist, gegen die Einflüsterungen des siegreichen kaufweltlichen Systems, das die Verantwortung für die Zukunft der Menschheit trägt.
Das Beispiel Annas wurde deshalb gewählt, weil in ihrem Lebenslauf die Mächte der Außenleitung ebenso sichtbar werden wie die Unverwüstlichkeit des Wunsches, nicht dumm sterben zu wollen. Gegenüber den weltweiten Veränderungen des Lebensstils seit 1950 befindet er sich allerdings in keiner besonders günstigen Position. Seit dem Tod Annas hat die Unbeständigkeit der Objektwahlen bei der Orientierungssuche eher noch zugenommen. Daß immer noch Menschen herumlaufen, die ihr Leben lang Freimaurer, Hobbyfotografen, Rohkostler, Sozialdemokraten, Kakteenliebhaber, Protestanten, Schiläufer bleiben, mutet an wie ein Wunder. Daß jemand dem 1990 verstorbenen Osho (Bhagwan Shree Rajneesh) die Treue hält, ist die Ausnahme, nicht die Regel. Eher probiert man im Jänner einen Feuerlauf, absolviert im Februar einen Zen-Kurs, geht im März zu einem Vortrag über astrologische Partnerwahl, tanzt im April mit einem Derwisch, macht im Mai eine Rückführung in frühere Existenzen, wandert im Juni durch Nepal, lernt im Juli eine Schamanin kennen, besucht im August einen Workshop über Themenzentrierte Interaktion, inskribiert im September eine Vorlesungsreihe über die Weltreligionen, beschäftigt sich im Oktober mit Bergkristallen, erlebt im November eine Todesmeditation und läßt sich zu Weihnachten eine Gehirnwellen-Maschine schenken. Ob man nächstes Jahr weiterhin im Kirchenchor von St. Michaelis mitsingen soll, ist eine offene Frage.
Engagements, Therapien, Körpererfahrungen, Gesundheitskuren, Initiationen – mit einiger Mühe lassen sich zwei oder drei konstant bleibende Motivationsbündel erkennen. Ziemlich stabil in der internationalen Beweglichkeit ist die Protesthaltung geblieben, aus der sich die Empörungen nähren. Ferner ist wichtig, einen mächtigen Erfahrungshunger mitzubringen, wenn man im Karussell des Neuen Zeitalters mitfahren will. Nicht der Bücherwurm ist gefragt, der zuerst Arabisch oder Sanskrit lernen möchte, ehe er sich mit den Sufis oder dem Tantrismus näher einläßt, sondern jener sanftblickende Typ, der nach dem 33. Wochenendkurs immer noch neugierig auf die Erleuchtungen des nächsten Seminars ist.
Schließlich und endlich fällt auf, daß der Markt für das Besondere-im-Leben die Konsumenten zu Vertreterpersönlichkeiten modelliert, die ihre jeweiligen Anhänglichkeiten wie Prediger weiterverbreiten müssen, an der Theke, in der Sauna, beim Masseur. Ohne das missionarische Motiv bliebe der ganze Betrieb nicht im Gang.
Dabei hat die Sache, von der hier die Rede ist, nicht einmal einen Namen. Neue Innerlichkeit, Wiederkehr des Religiösen sind vollbärtige Etiketten aus der Werkstatt der Sektenreferenten, die sich im Dienst der Kirchen für ihre Sorgen um die Zukunft der Religion bezahlen lassen und im Eifer des Gefechts übersehen, daß die Bachsche Blütentherapie, das katathyme Bilderleben, Tarot oder Channeling eine Klientel bedienen, der Jesus Christus ebenso viel oder ebenso wenig bedeutet wie Ramakrischna und Nostradamus und der ihre Gesundheit nicht weniger wert ist als der Sinn des Lebens. Hygienische, diätische, politische, sexuelle, touristische, spiritistische Interessen bedienen sich gegenwärtig in aller Unschuld aus dem religiösen Erbe der Menschheit, das ist schon wahr. Deshalb müssen sie aber noch lange nicht religiös sein, nicht im herkömmlichen Sinn des Wortes jedenfalls, denn dazu fehlt ihnen der Ernst.
Vielleicht hilft ein Begriff aus der Medizin weiter, derjenige der Polypragmasie. Er bezeichnet die Neigung zum Ausprobieren vieler Behandlungsmethoden und Arzneien. Handelt es sich bei solcher Experimentierfreudigkeit um Suchtgifte, spricht man von Polytoxikomanie.
Ein Katholik oder Schiit alten Typs gliche dann einem Patienten, der bei einem Arzt und dessen Behandlungsmethoden und Arzneien bleibt. Dann aber passiert es. Die Tochter des Schiiten darf von Teheran nach Chicago zum Studium, der Sohn des Katholiken aus Passau rückt zur Bundeswehr ein. Schon ist es um die innere Sicherheit der beiden Kinder geschehen. Die Schiitin wird sich, falls sie nach Teheran zurückkehrt, unter der Herrschaft der Mullahs wahrscheinlich hüten, offen über ihre Deprogrammierung zu reden. Unser Katholik hat es diesbezüglich leichter. Man kann ihn sich vorstellen, wie er in den esoterischen Regalen der Buchhandlungen nach Lesestoff sucht, seinen ehemaligen Religionslehrer mit Fragen quält und schließlich zum weltanschaulich-politisch-religiösen Polypragmatiker wird.
Und damit hätte es sich dann, wie bei der Mehrzahl der Industriemenschen. Unter Umständen aber könnte der Jüngling von jener Rastlosigkeit erfaßt werden, die keinen Namen hat. Auf vielfältige Art und Weise würde er versuchen, den Sprung aus der Alltagswirklichkeit in ein Jenseits zu tun, wo die Naturgesetze nicht gelten. Im günstigsten Fall würde er die eine oder andere Entrückung erleben und dabei glücklich sein. Seine Versuche, solche Bewußtseinserweiterungen häufiger und intensiver zu erfahren, wären zuletzt mit einer Sucht zu vergleichen, der jedes Mittel recht ist, Befriedigung zu finden. Dann hätte man einen Fall von religiöser Polytoxikomanie, und wahrscheinlich stellt er die Ausnahme von der eher gemütlichen Regel der heutigen Schnupperkultur dar, die eine entspannte Partnermassage ebenso schätzt wie die Begegnung mit einem Geist der Hopi-Indianer.
Realistischer wäre somit ein anderes Szenario für den polypragmatischen Bayern. Seine Firma schickt ihn nach Teheran, und dort lernt er eine junge Ärztin kennen und lieben, die in Chicago studiert hat. Die beiden heiraten und lassen sich in München nieder. Ihre Kinder werden polypragmatisch erzogen, und bei Gelegenheit erzählen ihnen die Eltern, wie merkwürdig streng und heilig es war, als Katholik aufzuwachsen beziehungsweise als Schiitin. Vielleicht wünschen sich dann die Kinder, in eine echte Kirche geführt zu werden, auch in eine echte Moschee, und ahnen den Unterschied zwischen Simulation und Frömmigkeit.
Der Autor: Dr. Adolf Holl wirkte 20 Jahre als Priester und Lehrer, bis ihm aufgrund seines Buches „Jesus in schlechter Gesellschaft“ 1973 ein kirchliches Lehrverbot erteilt und er später auch als Priester suspendiert wurde. Seither ist er als freier Publizist tätig. Christus, die Kirche und Gott sind die großen Themen seines Lebens geblieben. Mehr als ein Dutzend Buchveröffentlichungen, darunter „Der lachende Christus“ (2005) und als jüngste Neuerscheinung „Können Priester fliegen? Plädoyer für den Wunderglauben“, Residenz 2012.