Gut 65 Jahre nach Hiroshima kann jeder große Staat sich Atomwaffen zulegen (was natürlich nicht bedeutet, daß es jeder große Staat auch unbedingt tut). Sechs Jahrzehnte nach Hiroshima kann aber kein Staat, der noch nicht imstande ist, jene Waffen zu erwerben, als Großmacht bezeichnet werden. Das Gefahrenpotential der Atomwaffen ist vermutlich der einzige Grund, warum der Krieg zwischen Großmächten beinahe völlig verschwunden ist. Aber was ist mit jenen Regionen, wo die Staaten zu schwach oder zu unterentwickelt sind, um sie zu bauen, oder anderen Orten, wo Kriege nicht zwischen Staaten, sondern zwischen anderen Organisationen geführt werden? Die Antwort ist einfach. Bei allem Respekt gegenüber den Optimisten, in vielen dieser Regionen verschwindet der Krieg nicht. Wenn überhaupt, dann greift er immer mehr um sich.
Einer Auflistung zufolge gab es zwischen 1946 und 2002 nicht weniger als 226 bewaffnete Auseinandersetzungen. Von diesen waren 111 groß genug, um die Voraussetzungen für einen Krieg zu erfüllen, was einem Durchschnitt von zwei pro Jahr entspricht. Diese Zahl klingt sehr niedrig, was jedoch in zweierlei Hinsicht irreführend ist. Erstens dauern viele der betreffenden Kriege lange an; einige, wie die Kämpfe in Vietnam, Osttimor, den Philippinen, in Tschetschenien, den von Israel besetzten Gebieten, in Angola, Mosambik, der spanischen Sahara und an der Grenze zwischen Somalia und Äthiopien, wurden jahrzehntelang geführt. Das gleiche gilt für den Sudan. Sobald der Konflikt im südlichen Teil dieses unglückseligen Landes endete, brach ein neuer im Westen aus; wann er enden wird, wenn er es jemals tut, kann man nur vermuten. Zu jedem Zeitpunkt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es einige Kriege in verschiedenen Teilen der Welt (ein Autor kam auf eine Zahl zwischen zehn und dreißig). Zweitens mag die Zahl der Opfer bei einem bestimmten Konflikt innerhalb eines bestimmten Jahres nicht groß genug gewesen sein, um den Begriff Krieg darauf anzuwenden. Doch im Laufe der Jahre können sich die Opferzahlen und der verursachte Schaden auf enorme Summen belaufen.
Die jeweiligen Kriege könnten in verschiedene Typen aufgegliedert werden, die sich zum Teil aber auch überschneiden. Erstens gibt es Kriege zwischen Nuklearmächten und Nicht-Nuklearmächten. Zweitens gibt es Kriege, bei denen keine Seite über Atomwaffen verfügt. Drittens sind jene Kriege zu berücksichtigen, die von Staaten gegen Guerillas und Terroristen geführt werden, die außerhalb ihrer eigenen Grenzen operieren. Viertens gibt es Bürgerkriege innerhalb der Staatsgrenzen. Gemeinsam ist allen vier Arten, daß nukleare Waffen keine Rolle spielen. Andererseits ist gerade die Tatsache, daß Atomwaffen irrelevant sind, der wichtigste Grund, warum sie geführt werden konnten und sehr wahrscheinlich auch in der Zukunft geführt werden.
Die Liste beginnt mit dem Koreakrieg, an dem auch China, das damals noch keine Atommacht war, beteiligt war. Dazu gehören auch der sowjetische „Einmarsch“ in Ungarn im Jahre 1956; der Suezkrieg im selben Jahr, der – mit Unterstützung von Frankreich und Israel, die damals noch keine Atomwaffen hatten – von einem nuklear bewaffneten Großbritannien gegen Ägypten geführt wurde; der arabisch-israelische Krieg von 1973 zu einer Zeit, als Israel schon einige Atomwaffen und auch die Mittel, um sie einzusetzen, besaß; der chinesische Einmarsch in Vietnam 1979; die ab 1979 beginnende sowjetische Invasion von Afghanistan; der Falklandkrieg von 1982 zwischen Großbritannien und Argentinien und die militärischen Aktionen der Amerikaner im Irak, dem früheren Jugoslawien, Afghanistan und zuletzt erneut im Irak. Abhängig von der jeweiligen Definition von Krieg kann man ebenso den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei im Jahre 1968 und den Einsatz der Truppen der USA gegen einige karibische, zentralamerikanische und südamerikanische Länder hinzurechnen.
Einige dieser Kriege waren eher klein, andere dagegen sehr groß. Allein die Anzahl der Toten im Koreakrieg wird auf anderthalb Millionen geschätzt. Der arabisch-israelische Krieg von 1973 forderte nicht so hohe Opferzahlen, aber es gab Panzerschlachten, die größer waren als alle anderen nach 1945. Am ersten Golfkrieg waren 1.800 alliierte Flugzeuge und um die 500.000 amerikanische Soldaten beteiligt; neben 250.000 Soldaten, die von den anderen Mitgliedern der Koalition dorthin geschickt worden waren. Diese und ähnliche Kriege wurden erst dadurch möglich, daß in dieser Zeit die Staaten, die entweder schon Atomwaffen hatten oder dazu fähig waren, sie in kurzer Zeit zu bauen, noch eine kleine Minderheit ausmachten. Selbst im Jahre 2007, sechzig Jahre, nachdem die dafür notwendige Technologie sich immer mehr ausgebreitet hat, beträgt ihre Zahl nicht mehr als zwanzig. Die übrigen brauchen noch Monate oder Jahre, um auf den gleichen Stand zu kommen.
Obwohl sich ihre Fälle im Detail unterscheiden, spricht das Schicksal von Imre Nagy, Alexander Dubček, Hafizullah Amin, Manuel Noriega, Saddam Hussein und Slobodan Milošević eine klare Sprache. Von Thukydides wissen wir, daß die Starken das tun, was sie tun können, und die Schwachen das erleiden, was sie erleiden müssen. Jeder Staat, der nicht imstande oder nicht gewillt ist, Atomwaffen zu bauen, muß mit der Möglichkeit rechnen, daß eines Tages irgendein anderer Staat, der sie besitzt, Streitkräfte gegen ihn einsetzen kann, aus diesem oder jenen Grund – oder aus gar keinem Grund. Weder die Entfernung noch seine kleine Größe oder die Schwäche seiner Streitkräfte wird ihn davor bewahren; wer hätte gedacht, daß die USA eines Tages Serbien angreifen würden? Alles dies trifft besonders in dem Fall zu, wenn ein Staat das Pech hat, jene Nation mit der größten Anzahl von Atomwaffen weltweit zu erzürnen. Das Gegenteil ist natürlich auch wahr. Hätten die oben genannten sechs Herren Atomwaffen besessen oder hätte man die starke Vermutung gehabt, daß sie über diese Waffen verfügten, dann hätten die Kriege, die zu ihrem Untergang führten, sehr wahrscheinlich niemals stattgefunden.
Ob die Feindseligkeiten mit dem Etikett Krieg, Intervention, humanitäre Aktion oder Friedenssicherung versehen werden, ist unerheblich. Nikita Chruschtschows Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn von 1956 tötete Tausende, trieb Zehntausende ins Exil und zerstörte große Teile von Budapest. Im Jahr 1979 mag Leonid Breschnew nur die Absicht verfolgt haben, mit einem Putsch die kommunistische Regierung in Afghanistan wieder an die Macht zu bringen. Stattdessen verwickelte er dieses Land in eine ganze Reihe von Kriegen, die seit mittlerweile drei Jahrzehnten andauern und deren Ende noch immer nicht abzusehen ist. Ariel Sharon plante zumindest offiziell, nur eine kurze „Operation“. Zweck war die Besetzung von Teilen des Südlibanon, um den Beschuß durch Katjuscha-Raketen aus dieser Region auf das israelische Kernland zu stoppen. Vielleicht wollte er auch Syrien eine Lektion lehren. Stattdessen startete er einen Krieg, der Zehntausende tötete und achtzehn Jahre dauerte. Im Jahre 2006 loderte er erneut auf, und er könnte vielleicht noch ein drittes Mal aufflammen. Der Entschluß von Präsident Bill Clinton, im Jahre 1999 Serbien zu bombardieren, mag durchaus als ein Akt der Friedenssicherung geplant gewesen sein. Doch durch den militärischen Einsatz wurde das Land dermaßen zerstört, daß der Wiederaufbau lange Zeit dauerte.
Hierzu gehören die ersten drei arabisch-israelischen Kriege von 1948, 1956 und 1967. Gleiches trifft auf die indisch-pakistanischen Kriege von 1947, 1965 und 1971 zu (obwohl durchaus möglich ist, daß Indien zum Zeitpunkt der letzten Auseinandersetzung bereits über die Atombombe verfügt, so daß dieser Konflikt dann zu der vorherigen Kategorie gehören würde). Daneben gab es 1962 einen Krieg zwischen China und Indien, den Einmarsch der Syrer 1970 in Jordanien, 1974 die türkische Invasion von Zypern, 1977 einen Krieg zwischen Äthiopien und Somalia, 1978 eine militärische Auseinandersetzung zwischen Tansania und Uganda, den Krieg zwischen Irak und Iran in den Jahren 1980/88 (bei weitem der größte von allen) und eine Handvoll kleinerer.
Einige der an diesen Kriegen beteiligten Staaten machten sich später daran, in den Besitz von Nuklearwaffen zu gelangen. Das Ergebnis war alles andere als überraschend. Im Jahre 1973 nutzten die Araber den Umstand, daß Israel seine Atombombe noch nicht getestet hatte, und führten einen großen Krieg gegen Israel. Danach beruhigte sich die Lage fast völlig. Bis zum heutigen Tag herrscht Ruhe entlang der israelisch-ägyptischen Grenze, am Jordan und auf den Golanhöhen. Dies liegt nicht unbedingt daran, daß die Herrscher in Kairo und Damaskus die Machthaber in Jerusalem jetzt auf einmal liebgewonnen hätten. Nein, sie müssen vielmehr fürchten, daß ein von ihnen begonnener Krieg eskalieren könnte. Angesichts dieser Situation treten sie Israel lieber durch Stellvertreter im Libanon und in gewissem Maß auch im Gaza-Streifen gegenüber. Eine ähnliche Entwicklung ist in Südasien zu beobachten. Sobald China, Indien und Pakistan über Atomwaffen verfügten, wagten sie es nicht mehr, einen Krieg gegeneinander zu führen, so daß sich sogar die beiden letzteren auf kleinere Scharmützel an einem fernen Gletscher des Himalaja-Gebirges beschränkten. Auch wenn überraschende Entwicklungen in der Zukunft nicht völlig ausgeschlossen werden können, bestehen doch sehr gute Aussichten, daß es so bleiben wird.
Der Irak wäre im Laufe der 1980er Jahre wohl in den Besitz von Atomwaffen gekommen, wenn nicht ein israelischer Luftangriff auf den Kernreaktor von Osirak die dafür notwendige Infrastruktur vernichtet hätte. Wozu ein mit Atombomben bewaffneter Saddam Hussein fähig gewesen wäre, darüber kann man höchstens spekulieren. Ganz sicher hätte er den Iran gezwungen, den Krieg gegen ihn früher zu beenden, als es tatsächlich der Fall war, und dies wahrscheinlich auch zu besseren Bedingungen als jenen, die er tatsächlich bekam. Er hätte Israel angreifen können – oder vielleicht auch nicht, da er mit der nuklearen Vernichtung hätte rechnen müssen. Vielleicht wäre er in Kuwait einmarschiert, vielleicht aber auch nicht. Selbst wenn er in Kuwait eingefallen wäre und es gegen andere Staaten hätte halten können, hätte er dennoch für große Unruhe in der Region sorgen können und vielleicht sogar den Ölpreis hinaufschnellen lassen. Doch selbst dann hätte er kaum die ganze Welt bedrohen können. Der Mann war ein Spieler, und zwar ein ganz übler, aber verrückt war er nicht.
Als dieses Buch verfaßt wurde, kam der Verdacht auf, daß Saddams Erzfeind, der Iran, seinerseits dabei sei, Nuklearwaffen zu entwickeln. Auch in diesem Punkt läßt sich nicht absehen, was geschehen wird, wenn dieses Unterfangen von Erfolg gekrönt ist. Als er vom Irak angegriffen worden war, gelang es Ayatollah Ruhollah Musavi Khomeini, seine Landsleute für einen achtjährigen Krieg zu begeistern, der wirklich ungeheure Opfer forderte. Er ging sogar so weit, daß er Jugendlichen, die sich freiwillig gemeldet hatten, goldene Schlüssel (die in Taiwan angefertigt worden waren) überreichte, mit denen ihnen der Eingang in den Himmel offen stehen sollte. Letztlich mußte er aber dann 1988 klein beigeben. Die Geschehnisse der seither vergangenen zwei Jahrzehnte geben wenig Anlaß zu der Annahme, daß die Iraner eher als andere geneigt sind, Selbstmord zu begehen.
Khomeinis jüngster Nachfolger, Präsident Mahmud Ahmadinedschad, ist als Hardliner bekannt (wobei die exakte Verbindung zwischen seiner Weigerung, das Kopftuchgebot der Frauen aufzuheben, und seiner Außenpolitik keineswegs klar ist). Er hat den Holocaust als Mythos bezeichnet und Israel das Existenzrecht abgesprochen. Einige seiner antiisraelischen Auslassungen sollen wahrscheinlich die Nachbarn des Iran beschwichtigen und sie möglichst davon abhalten (soweit dies möglich ist), eigene Atomprogramme als Antwort auf das iranische Atomprogramm zu starten. Es reicht schon, die USA zum Feind zu haben, es muß nicht auch noch die halbe arabische Welt sein. Doch natürlich müssen solche Drohungen ernst genommen werden, und Israel hat inzwischen Maßnahmen initiiert, um die Iraner davon abzuschrecken, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Daß keiner der iranischen Machthaber je ausdrücklich angekündigt hat, selber Israels Existenz beenden zu wollen, läßt freilich darauf schließen, daß auch dort eine gewisse Vernunft und Besonnenheit vorherrscht. Ahmadinedschad hat selber gesagt, so wünschenswert ein solches Ergebnis auch sei, könne es doch nur als Folge des palästinensischen Widerstands und des inneren Zerfalls eintreten.
Wenn man das Problem andersherum betrachtet, dann muss man konstatieren, daß viele, vielleicht die meisten der wütenden Äußerungen von Ahmadinedschad eindeutig auf seine Befürchtung zurückzuführen sind, daß Israel und die USA den Iran angreifen könnten, so wie es zuvor schon seinem ehemaligen Nachbarn im Westen ergangen war. Beide Länder haben zumindest Vorbereitungen für einen solchen Angriff unternommen, und die Verantwortlichen in beiden Ländern haben sich geweigert, ihn völlig auszuschließen. Ahmadinedschads eigenes Militär kann und wird auch nie amerikanischen Boden erreichen. Dennoch ist es nicht im entferntesten überraschend, daß der entschlossenste Widerstand gegen das iranische Programm, abgesehen von Israel, nicht von dem Nachbarn Rußland kommt, sondern von einem Gegner, der zehntausend Kilometer entfernt ist. Ahmadinedschad ist sich dieser geographischen Realitäten durchaus bewußt, und die tatsächliche Absicht hinter seinen Aussagen über Israel mag wohl darin liegen, die Amerikaner von einem Angriff auf sein Land abzuhalten. Das gleiche geschah, als Indien mit Pakistans Atomprogramm und Amerika mit jenem von Nordkorea konfrontiert war, denn die gefährlichste Zeit ist die so genannte Risikoperiode, bevor ein Land in den Besitz von Kernwaffen gelangt. Wenn wir davon ausgehen, daß es Ahmadinedschad schafft, diese Periode zu überstehen, dann besteht zumindest die Chance, daß er danach weniger abenteuerlustig sein wird.
Die allein entscheidende Tatsache bleibt, daß nur eine Minderheit von Staaten entweder schon Atomwaffen hat oder, wie Japan, Taiwan, Südkorea und vielleicht noch einige andere Staaten, in einer Position ist, sie so schnell zu bauen, daß sie es sich aufgrund ihrer Berechnungen leisten können zu warten. Im Hinblick auf die anderen wäre es natürlich absurd zu behaupten, daß sie alle in einen Krieg gegen ihre Nachbarn ziehen werden. In einigen Regionen, besonders in Nordamerika, Lateinamerika und Europa, ist das Verhältnis zu den Nachbarn so gut geworden, daß ein Krieg undenkbar geworden ist. In anderen, insbesondere in Lateinamerika und Afrika, liegt es auch daran, daß die betreffenden Länder gar nicht über die notwendigen Streitkräfte verfügen, um einen ernsthaften Angriff auf einen Feind jenseits der eigenen Grenzen zu starten. Anders ist es in Asien, wo einige Staaten ganz sicher die Fähigkeit und den Willen, Kriege zu führen, haben, wie es auch die Erfahrungen der Vergangenheit unterstreichen.
Es ist nicht unmöglich, daß einige Staaten auch deshalb auf den Bau von Atomwaffen verzichten, weil sie glauben, eines Tages gegen einen Nuklearstaat Krieg führen zu müssen.
„gypten hatte ein Programm zur Nutzung der zivilen Kernenergie, das aber 1986 abgebrochen wurde, allem Anschein nach als Reaktion auf die Katastrophe in Tschernobyl. Doch wie einer seiner ehemaligen Vertreter bei der Internationalen Atomenergiebehörde, Dr. Mustafa al Fiqi, in seiner halboffiziellen Abhandlung Al-Ahram schrieb, verfügt es noch immer über die notwendige Finanzmittel und das Know-how; es gibt zudem noch zwei 22-Megawatt-Reaktoren für Forschungs- und Ausbildungszwecke. Wenn es gewollt hätte, dann hätte es schon vor Jahren über Atomwaffen verfügen können. Doch warum gingen sie nicht diesen Weg? Eine mögliche Antwort ist, daß sie daran dachten, daß die Umstände sie in der Zukunft wieder dazu zwingen könnten, noch einmal ihrem einzig denkbaren Feind Israel gegenüberzutreten. Der eigene Besitz von Kernwaffen, so beschrieb es ein ägyptischer Akademiker, würde einen Krieg zwischen den beiden Ländern „unvorstellbar“ machen.
Anscheinend verfolgen die Ägypter in Wirklichkeit das Ziel, eine atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten zu schaffen, und versuchen Israel zu überreden, sein Arsenal abzurüsten. Da der von ihnen ausgeübte Druck in dieser Frage zu keinem Ergebnis geführt hat, ziehen sie den Status quo einer Alternative vor. Noch verrückter, als ohne Nuklearwaffen gegen Israel in den Krieg zu ziehen, wäre es, sich nach dem Bau von Nuklearwaffen auf eine militärische Auseinandersetzung mit dem Erzfeind einzulassen. Schneller und mit größerer Gewißheit ließe sich die Existenz einer sechstausend Jahre alten Zivilisation kaum beenden.
Wenn wir uns diese Beispiele vergegenwärtigen, dann spricht sehr viel für die Vermutung, daß Nordkoreas Atomwaffentest keine Vorbereitung für eine Offensive gegen den Süden ist, sondern im Gegenteil eine endgültige Entscheidung seitens Pjöngjang, jeden Gedanken an einen solchen Angriff aufzugeben. Schließlich ist nicht zu vermuten, daß ein konventioneller Angriff über den 38. Breitengrad und gegen die südkoreanischen und amerikanischen Streitkräfte glücken könnte, wie es 1950 geschah. Genauso wenig ist zu vermuten, daß Nordkorea Atombomben gegen die US-Truppen im Süden einsetzt, die ebenfalls Kernwaffen besitzen, denn dies würde sicherlich zu seiner eigenen vollkommenen Zerstörung führen. Wir wissen es nicht genau, aber es scheint durchaus möglich, daß der Test darauf hindeutet, daß Kim Jong-il (bzw. jetzt Kim Jong-un), der allzu gut um die Unterlegenheit seines Landes in jeder Hinsicht weiß, nicht länger irgendwelche Kriegspläne verfolgt – es sei denn, er wird seinerseits angegriffen (ein solcher Angriff könnte nur seitens der USA erfolgen, wie Serbien und der Irak zu ihrem Leidwesen erfahren mußten).
Die bisherige Argumentation könnte zu der Annahme verleiten, das einzige Mittel, um einen Krieg zu verhindern, bestehe darin, jeden noch so kleinen Staat mit Atomwaffen, den entsprechenden Trägersystemen und einem Befehls- und Führungssystem auszustatten, das es in die Lage versetzt, einen derartigen Angriff zu überstehen. Ein Offizier des Pentagon, der über große Erfahrungen auf diesem Gebiet verfügt, sagte mir einmal halb im Scherz, daß es schön wäre, wenn man alle paar Jahre alle führenden Politiker der Welt zusammentrommeln und ihnen vorführen könnte, was eine Kernexplosion anrichten kann.
Die Vorstellung, daß eine unbegrenzte, jederzeit einsetzbare Gewalt, die jedem zur Verfügung steht und gegen die es keine Abwehr gibt, zu einer friedlicheren und besseren Welt führen würde, ist nicht neu. Bereits im Jahr 1870 schlug Edward Bulwer (Lord Lytton) Derartiges in seinem Roman The Coming Race vor. Tief unter der Oberfläche der Erde lebend, hatten die Ana, wie sie genannt wurden, eine Kraft mit der Bezeichnung vril entdeckt und zu beherrschen gelernt. In einer seiner Formen konnte vril in einer schlichten Rute konzentriert werden. Im Ergebnis „war [jeder Mann] so sehr der Gnade jedes anderen Mannes ausgeliefert, der ihn jederzeit sofort töten konnte, so dass jeglicher Gedanke an … Gewalt allmählich aus den politischen Systemen verschwand“.
Wenn wir davon ausgehen, daß keine weiteren neuen Staaten mehr gegründet werden, und wenn wir die Geschwindigkeit der Verbreitung von Nuklearwaffen der letzten etwa sechzig Jahre als Grundlage nehmen, dann werden noch einige Jahrhunderte vergehen, bevor Bulwers Idee auf die Probe gestellt werden kann. Selbst dann wird es wahrscheinlich noch andere Arten des Krieges geben, den Atomwaffen nicht verhindern können. Die wichtigste davon ist der Krieg, der nicht zwischen einzelnen Staaten geführt wird, sondern von Guerillas, Terroristen und vergleichbaren Organisationen gegen Staaten.
In politischer und strategischer Hinsicht haben alle somit so unterschiedliche Guerilla- bzw. Terrororganisationen eins gemein, nämlich die Tatsache, daß die übliche dreifache Differenzierung zwischen einer Regierung, die den Krieg leitet, den darin kämpfenden und sterbenden Soldaten und einer zahlenden und leidenden Zivilbevölkerung nicht zutrifft.
Wenn wir uns die jeweiligen Organisationen näher anschauen, dann stellen wir fest, daß die meisten davon einen politischen Flügel aufweisen. Ihre Aufgabe besteht darin, Spenden einzutreiben, Propaganda zu verbreiten, Menschen zu organisieren und vielleicht mit dem Gegner zu verhandeln. Durch diese Funktion können die politischen Vertreter einen gewissen Einfluß auf die Kämpfer ausüben, Ziele festlegen und Strategien zu ihrer Durchführung empfehlen. Doch oft haben sie nicht die Position, um den Kämpfern Befehle zu erteilen; vom Standpunkt der Guerillas oder der Terroristen kann dies auch den Vorteil haben, daß sie eine größere Flexibilität als ihre Gegner aufweisen können, die diese aufgrund ihrer zentralisierten Befehlskette nicht besitzen. Das Ergebnis ist der typische sprunghafte Prozeß, wobei häufig Vereinbarungen und Feuerpausen mit den Guerillas und Terroristen getroffen werden, nur um dann binnen weniger Stunden oder Tage verletzt zu werden, wenn eine Fraktion oder Gruppe sich nicht an die Anweisungen hält bzw. ihnen zuwiderhandelt. Als Beispiele könnte man den jugoslawischen Bürgerkrieg, die Situation in Nordirland, Sri Lanka, aber auch die Lage zwischen den Israelis und den Palästinensern anführen.
Anstelle einer Zivilbevölkerung haben Guerillas und Terroristen mehr oder weniger engagierte Anhänger. Entweder aus Überzeugung oder unter Zwang stellen diese Unterstützer ihnen verschiedene Waren und Dienstleistungen zur Verfügung: Lebensmittel, Geld, Transportmittel (wichtig, um die Ziele zu erreichen und das Entkommen der Kämpfer zu ermöglichen), Informationen (aus dem gleichen Grund), eine technische Infrastruktur (zur Reparatur und Herstellung von Waffen und Ausrüstung), medizinische Versorgung, Unterkünfte usw. Einige dieser Sympathisanten agieren auch als Teilzeitkämpfer. Zumeist führen sie ein ganz normales Leben und gehen ihren Geschäften nach. Aber gelegentlich beteiligen sie sich aktiv an Kampfhandlungen, wenn es die Umstände erfordern.
Im Gegensatz zu den Kämpfern sind die meisten Anhänger mehr oder weniger an die Orte gebunden, wo sie leben. Einige befinden sich in der Regel außerhalb der Staatsgrenzen, wo die Gegenseite nicht bzw. nur mit erhöhtem militärischem und politischem Aufwand an sie herankommt. Die Unterstützung kann nicht nur durch die Bürger eines benachbarten Staates erfolgen, sondern auch durch deren Regierungen. In diesen Fällen kann man von einem „staatlich geförderten Terrorismus“ sprechen. In der Tat spielt die Frage, ob die Terroristen und Guerillas Unterstützung von jenseits der Grenze erhalten oder ob nicht, eine wichtige Rolle für ihren Erfolg. Wenn zum Beispiel die „Terrs“ (wie sie genannt wurden) in Rhodesien keine Hilfe von Sambia und Mosambik erhalten hätten, dann würde es das heutige Simbabwe wohl nicht geben. Hätte die Regierung der Republik Irland der IRA erlaubt, auf ihrem Territorium zu operieren, dann hätten die „Wirren“ in Ulster wohl einen ganz anderen Ausgang genommen.
Taktisch gesehen, agieren die Kämpfer nicht offen. Während einige Guerillas auch Uniformen tragen, tun dies Terroristen nie. Die Menschen, die zu diesen beiden Arten von Gruppen gehören, legen einen großen Wert darauf, sich unter die Zivilbevölkerung zu mischen – wie Fische im Meer, so beschrieb es Mao einmal. Durch diese Verschmelzung mit den gewöhnlichen Menschen sind sie viel schwerer zu kontrollieren als reguläre Truppen. Anstelle einer zentralen Befehlsstruktur bilden sie normalerweise ein Netzwerk mit lose verbundenen Knoten. Die Abschottung, die notwendig ist, um für Verschwiegenheit zu sorgen, tut ihr Übriges; viele Mitglieder von terroristischen Organisationen würden sich nicht einmal erkennen, wenn sie sich auf der Straße treffen.
All dies bedeutet, daß die betreffenden Organisationen nur selten ein klares Gravitationszentrum haben – eine einzelne Gruppe von Menschen, eine Einrichtung oder einen Standort, um den herum sich alles dreht und deren Ausschaltung oder Inbesitznahme zu ihrem Zusammenbruch führen würde. Wenn ein Gebiet geräumt ist, dann bleibt es dort nur so lange ruhig, solange die sie bekämpfenden Kräfte dort verbleiben. Wenn sie auf Dauer dort bleiben, dann werden sich die Aktionen ganz sicher auf ein anderes Gebiet verlagern. Und zu dem Versuch, die Anführer zu neutralisieren, nur so viel: Den Franzosen gelang es einst, die wichtigsten Führer des Front de Libération Nationale (FLN) gefangenzunehmen – was jedoch nichts am weiteren Verlauf des Algerienkriegs änderte.
Als Waffe der Schwachen gegen die Starken sind sowohl der Guerillakrieg wie auch der Terrorismus so alt wie die Geschichte. Aber beide scheinen in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Bedeutung erhalten zu haben. In dieser Periode war der Einfluß der Atomwaffen deutlich zu spüren. Zur gleichen Zeit bemühten sich die Sieger darum, die Widerstandsbewegungen freizusprechen, die oft unter Verstoß gegen das Völkerrecht die deutschen und japanischen Besatzer bekämpft hatten. Im Jahr 1949 wurde daher eine neue Reihe von Genfer Konventionen erlassen. Diese Richtlinien gaben eine althergebrachte Praxis auf und billigten den Menschen das Recht zu, sich gegen ihre Unterdrücker zu erheben. Zudem genossen sie jetzt einen Kombattantenstatus.
Anders gesagt, man unternahm den Versuch, eine klare Trennung zwischen diesen Formen des Krieges und kriminellen Aktivitäten zu ziehen – ein völlig neuartiger Gedanke, denn zuvor hatten die Menschen in besetzten Ländern kein Recht auf Widerstand. Sehr oft mögen diese Konventionen in der Praxis aber keinen großen Unterschied bedeutet haben, wenn Guerillas, Terroristen und jene, die gegen sie kämpften, kriminelle Handlungen begingen, die auch so definiert und dementsprechend verfolgt wurden. Dennoch legten die Konventionen einige Situationen fest, in denen das Gewaltmonopol des Staates zu Recht gebrochen werden könnte, wie auch die Art, wie die davon Betroffenen sich verhalten sollten; in dieser Hinsicht reflektierten sie zum einen die öffentliche Meinung und entwickelten sie zum anderen weiter. Dadurch förderten sie zahlreiche bewaffnete Konflikte, die andernfalls wohl kaum so viel Unterstützung gefunden hätten.
Wie andere Formen des Krieges üben auch Guerillaaktionen und Terrorismus ihre eigene schreckliche Faszination aus. Die Kämpfer stehen einer viel stärkeren Macht gegenüber, die sie überlisten und überdauern müssen. Sie sind zu jeder Art von Verfolgung, Not, Entbehrung und Gefahren bis hin zu Folter und einem einsamen Tod bereit. Ungeachtet dessen und gerade deshalb kann dieser Guerillakrieg und der Terrorismus eine besondere Lebensform und auch Momente des Hochgefühls verleihen, bis hin zu einem Zustand, den die Palästinenser als bassamat al-farah, das „Lächeln der Freude“ bezeichnen, das einige Selbstmordattentäter empfinden, kurz bevor sie den Sprengstoff auslösen, der zu ihrem Tode führt. Diese Euphorie ist wahrscheinlich ein Grund dafür, warum in einem Zeitalter, in dem größere Kriege immer seltener vorkommen, Guerilla- und Terroraktionen sich so sehr ausgebreitet haben, daß sie zur zahlenmäßig bedeutendsten Kriegsform geworden sind.
Eine der ersten dieser Aktionen nach dem Zweiten Weltkrieg war der jüdische Aufstand gegen die britische Herrschaft in Palästina. Mit nicht mehr als einigen hundert aktiven Kämpfern begann er im Winter 1944/45, dauerte etwa drei Jahre an und endete erst, als die imperiale Macht mit ihren einhunderttausend Soldaten gezwungen war, das Handtuch zu werfen und das Land zu verlassen. Unzählige andere Aufstände sollten folgen. Die Holländer wurden aus ihren ostindischen Kolonien vertrieben. Die Franzosen erlitten ein ähnliches Schicksal in Indochina, Tunesien, Algerien, Marokko und dem Rest ihres Kolonialreichs. Nachdem sie Indien etwa zur gleichen Zeit wie Palästina aufgegeben hatten, verloren die Briten auch die Kontrolle über Malaysia, Kenia, Zypern und Aden, um nur jene Orte zu erwähnen, wo sie – mehr oder weniger entschlossen – versuchten, sich der Entwicklung in den Weg zu stellen. Die Belgier büßten den Kongo ein, die Spanier Spanisch-Sahara, und die Portugiesen konnten weder Angola noch Mosambik halten.
Wie diese Auflistung zeigt, richteten sich die meisten Guerilla- und Terroristenaktionen während der ersten Jahrzehnte nach 1945 in der Regel gegen die alten europäischen Kolonialmächte. Dies war später weitaus weniger der Fall, als auch andere Länder ihre Macht kennenlernen sollten. Als die Amerikaner die Rolle der Franzosen in Südostasien übernahmen, wurden sie in einen aussichtslosen Krieg in Vietnam und später in Kambodscha hineingezogen. Die Sowjets wurden in Afghanistan, die Südafrikaner in Namibia besiegt. Die Inder versuchten in Sri Lanka zu intervenieren und scheiterten (obwohl die dafür eingesetzte Streitmacht größer war als die gesamte Armee von Sri Lanka). Die Vietnamesen versuchten ebenso erfolglos, das Regime der Roten Khmer in Kambodscha zu stürzen. Die Israelis wurden dazu gezwungen, den Südlibanon und den Gazastreifen aufzugeben – während das Ergebnis im Westjordanland noch offen ist. Und die Indonesier wurden nach Kämpfen, die mehr als zwei Jahrzehnte andauerten, dann doch gezwungen, das von ihnen besetzte Osttimor aufzugeben.
Einige der oben genannten Staaten in und außerhalb Europas verfügten zu dem Zeitpunkt dieser Auseinandersetzungen bereits über Atomwaffen. Andere erhielten gerade den Zugang zu dieser neuen Waffentechnologie, während sie sich nach Kräften bemühten, ihre schwer zu fassenden Gegner zu schlagen, so Großbritannien im Jahr 1952, Frankreich acht Jahre später und Südafrika etwa 1980. Doch dies machte keinen Unterschied. Wie Vietnam, Afghanistan (zweimal, nämlich in den Jahren 1979/88 und seit 2001), der zweite Irakkrieg und Israels Krieg 2006 im Libanon eindeutig zeigten, erwiesen sich der Guerillakrieg und der Terrorismus als die Methode par excellence, mit der selbst die mächtigsten Nuklearmächte auf der Erde bekämpft und über einen längeren Zeitraum sogar besiegt werden konnten.
Ein Faktor, der oft militärische Konflikte dieser Art verursacht, sind schwache Regierungen von zweifelhafter Rechtmäßigkeit, deren einziges Begehren darin besteht, möglichst viel von den Ressourcen des Landes zu stehlen; völlig durchsetzt von Vetternwirtschaft und Korruption, können sie ein Ausmaß annehmen, bei dem es nicht länger möglich ist zu sagen, was überhaupt noch rechtmäßig ist. Ein ausgezeichnetes Beispiel dafür war der Kongo während der dreißigjährigen Herrschaft des Generals Mobutu Sese Seko. Andere sind Liberia und Sierra Leone. Ebenso wichtige Faktoren sind Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, die zu einer zunehmenden Verringerung der Ressourcen und Mißwirtschaft führen, sowie eine Tradition ethnischer und religiöser Konflikte. Welches dieser Probleme jeweils das wichtigste ist, ist außerordentlich schwierig festzustellen und kann auch von Fall zu Fall variieren. Oft sind sie miteinander verknüpft und sorgen für eine Abwärtsspirale, die nur sehr schwer aufzuhalten ist.
In der Tat ist die weite Verbreitung von bewaffneten Auseinandersetzungen in großen Teilen der Dritten Welt keine durch die Entkolonisierung entstandene Fehlentwicklung, sondern dient in Wirklichkeit dazu, Traditionen und Werte wieder aufleben zu lassen, die durch die Kolonialherrschaft unterdrückt worden sind. Denn schließlich verboten die neuen Herrscher ihren Untertanen stets als erstes, sich gegen ihre Besatzer zu erheben wie auch gegeneinander zu kämpfen. Sie beseitigten Anführer, lösten Kampforganisationen auf und beschlagnahmten Waffen; dadurch löschten sie einen wichtigen, manche würden sagen entscheidenden Teil der Kultur jener Unterworfenen aus.
Die unvermeidliche Folge war auch der Zusammenbruch anderer Aspekte dieser Kultur. Im 17. Jahrhundert geschah genau dies den sehr kriegerischen Stämmen in Nordamerika. Das gleiche Schicksal erfuhren später die Bergstämme im nordwestlichen Indien und im Kaukasus, die Massais und Kikuyus in Kenia, die Baganda in Uganda, die Zulus in Südafrika, die Maoris in Neuseeland, die Einwohner von Papua-Neuguinea und so viele andere, daß sie kaum alle aufzuzählen sind. Bei all diesen war jedes männliche Mitglied der Gesellschaft per definitionem ein Krieger. Bei all diesen verloren sie diesen Status. Nachdem sie ihn verloren hatten, fiel es ihnen sehr schwer, eine andere Lebensaufgabe zu finden.
Andererseits entspricht die Situation in Somalia seit etwa 1990 einem Zustand des mehr oder weniger chronischen Krieges aller gegen alle, in vielerlei Hinsicht einer Rückkehr zu einer uralten Lebensform, die bis zu der Einführung der italienischen Verwaltung vor zirka hundert Jahren herrschte. Damals wie heute war die Regierung in einzelne Fraktionen gespalten und häufig äußerst schwach. Damals wie heute wüteten Banden von Jugendlichen auf der Suche nach Beute, Anerkennung und Aufregung. Dabei ging es weniger um politische Forderungen, sondern die Jugendlichen wollten sich vor sich selber und vor anderen beweisen – Rowdytum ohne die sonst üblichen Beschränkungen. Da die einheimische Kriegskultur nicht mehr existiert, tendieren solche Banden dazu, weniger gut organisiert zu sein, und sind auch anfälliger für Grausamkeiten als ihre Vorgänger. Davon abgesehen ist der Hauptunterschied, daß sie nicht mehr mit alten Flinten unterwegs sind, sondern Maschinengewehre benutzen und Toyota-Kleintransporter fahren.
Das gleiche gilt für viele andere Orte. Was wir miterleben, ist nicht die Errichtung einer neuen Unordnung; stattdessen ist es ein Rückfall in die alte. So soll zum Beispiel Jean Bédel Bokassa, der selbst ernannte Napoleon der Zentralafrikanischen Republik, den Kannibalismus als eine Form des Umgangs mit seinen Feinden praktiziert haben. Wenn eine Gestalt wie Ugandas Idi Amin berühmt für seine Brutalität war, wozu auch das Verfüttern von Widersachern an Krokodile gehörte, dann reflektierte dies in gewissem Maß seine Rolle als ein „Vertreter der Tradition“, der in Übereinstimmung mit den Werten der ugandischen Gesellschaft handelte. Dies wird auch durch die Tatsache belegt, daß sich sein Vorgänger Milton Obote, der dann auch sein Nachfolger wurde, genauso übel benahm und wahrscheinlich genauso viele Menschen umbrachte wie Amin. Der Umstand, daß er den Titel eines „Doktors“ trug, machte dabei keinen Unterschied. Wie sollte man auch sonst dafür sorgen, daß die Mitglieder des eigenen Stammes an der Macht bleiben und jene der anderen kontrolliert werden?
In vielen Regionen Afrikas und Lateinamerikas wie auch in einigen Teilen Asiens ist die Religion auf dem Vormarsch. Viel, sehr viel ist über die Entstehung des militanten Islam geschrieben worden, der in seiner Konzentration auf das Konzept vom Dschihad oder Heiligen Krieg zu Gewaltausbrüchen in vielen Ländern der Welt geführt hat. Genauso bedeutsam, wenngleich auch viel weniger beachtet, ist das Auftauchen von militanten Formen des Christentums. Der christliche Glauben in Europa, der seit über dreihundert Jahren dem Staat untergeordnet und säkularisierenden Einflüssen unterworfen war, hat seit dieser Zeit seinen Einfluß verloren. Seine Bedeutung scheint immer mehr abzunehmen. Da nirgends mehr ein Feind zu sein scheint, der bekämpft werden muß, betrachten die meisten Menschen das Christentum als blutleer und uninteressant und wenden sich davon ab.
Ganz anders ist die Lage bei vielen Varianten des christlichen Glaubens in der Dritten Welt. Obgleich sie sich von einem Land zum anderen sehr unterscheiden, können sie auch sehr kriegerisch sein. An der Spitze dieser Sekten stehen Priester und Bischöfe, Frauen wie Männer. Viele von ihnen haben sich selbst ernannt, und manche sind so unkonventionell, daß die Christen in den entwickelten Ländern sie kaum als Glaubensgenossen anerkennen würden. Alle Formen der einheimischen Traditionen sind integriert, und ihre Glaubensbekenntnisse sind durchsetzt mit Elementen der Magie. Für viele ihrer Mitglieder ist die Hauptbotschaft des Christentums nicht so sehr die brüderliche Liebe als vielmehr die Fähigkeit der übernatürlichen Heilung und sogar der Auferstehung der Toten.
Ob muslimisch oder christlich, die Sekten ziehen eine wachsende Anzahl von Anhängern an. Manchmal richten sie ihre Feindseligkeit gegen die herrschenden Klassen und klagen sie der ökonomischen Ausbeutung und Diskriminierung an. In anderen Fällen wenden sie sich gegen ihre Mitbürger, die einem anderen Glaubensbekenntnis anhängen; sehr oft vermischen sich auch diese beiden Motive. Manchmal greifen sie an, in anderen Fällen werden sie angegriffen. Wiederholte Gewaltausbrüche wie auf den Philippinen, in Indonesien, Sri Lanka, Uganda, Kenia, Nigeria und Ghana (bis 1981) und der Elfenbeinküste, neben anderen Orten, führten zu Tausenden von Toten. Weder die Anhänger der einen noch der anderen Religion würden jemals auf Gewalt verzichten oder die andere Wange hinhalten. Viele Christen und Moslems glauben, daß ihre Religion das Kämpfen verlangt und sie kugelsicher macht. Jene, die leben, sind von ihrem Heiligenschein umgeben; jene, die sterben, können himmlischer Belohnungen sicher sein. Während der Islam immer eine militante Religion gewesen ist, erinnern diese neuen Christen in vielerlei Hinsicht an die Hussiten, Calvinisten, Hugenotten und Lutheraner des 15. und 16. Jahrhunderts. Auch sie trugen alle Kreuze und sangen Hymnen, wenn sie im Namen des Herrn in die Schlacht zogen.
Diese Probleme können durch eine politische und militärische Intervention von außen noch weiter verschlimmert werden. Genau dies geschah in zahlreichen asiatischen und afrikanischen Ländern wie in Laos, Kambodscha, dem Libanon, Afghanistan, Irak (seit 2003), Spanisch-Sahara, Kongo (wo der andauernde Krieg aller gegen alle bisher zu etwa vier Millionen Toten geführt hat), Liberia, Sierra Leone und vielen, vielen anderen. Es passierte aber auch im ehemaligen Jugoslawien und kann in jedem anderen Land geschehen, das in einen Bürgerkrieg verwickelt ist. Es kann sein, daß das Ziel der Intervention darin besteht, zu verhindern, daß Unruhen sich ausbreiten. In anderen Fällen ist es politisch motiviert, wenn Nachbarländer versuchen, einander davon abzuhalten, das regionale Gleichgewicht der Kräfte durcheinanderzubringen, oder den fortdauernden Konflikt sogar nutzen, um einander mit Hilfe von Stellvertretern zu bekämpfen. In anderen Situationen geht es um die Inbesitznahme von wirklichen oder imaginären Ressourcen, oder es ist eine Art von Geschäft, bei dem eine kämpfende Fraktion Außenstehende um Hilfe bittet und dafür eine Gegenleistung verspricht.
Ich möchte mich auf ein Beispiel konzentrieren und mich mit dem Bürgerkrieg im Tschad beschäftigen. Seit etwa 1965 gab es in kurzen Abständen immer wieder neue Putsche, Aufstände und Revolutionen. Teilweise waren auch Kontingente von libyschen, französischen, kongolesischen, togoischen und senegalesischen Truppen an diesen Auseinandersetzungen beteiligt. Andere Formen der Unterstützung in Form von Geld, Waffen und Ausbildern kamen aus Algerien, dem Sudan, Ägypten und Kamerun. Es gab sogar Söldner aus einem so weit entfernten Land wie dem Libanon. Aufgrund seiner Uranvorkommen zog der Tschad Ausländer an wie ein Mülleimer die Fliegen. All dies hilft bei der Erklärung, warum ein so dünn besiedeltes Wüstenland mit einer ländlichen Wirtschaftsstruktur und einem Pro-Kopf-Einkommen von weniger als einem Dollar pro Person so lange einen Bürgerkrieg aufrechterhalten konnte, ohne daß es zum Gebrauch von Pfeil und Bogen zurückkehren mußte. Im Jahre 1995 wurde die Anzahl der Getöteten auf etwa fünfzigtausend geschätzt. Wie viele seitdem noch getötet worden sind, läßt sich unmöglich sagen.
Einige Bürgerkriege nahmen im Laufe der Zeit beinahe die Form eines konventionellen Krieges an. So war es in den letzten Phasen des chinesischen Bürgerkrieges (1946/49), in Nigeria (1966/69), Vietnam (1963/75), Kambodscha (1970/76) und dem ehemaligen Jugoslawien (1991/95). Doch in der großen Mehrheit der Fälle setzten die Herrscher ihre Streitkräfte ein, um Aufständische zu bekämpfen. Zu diesem Typus gehören Pakistans vergebliche Versuche, die Rebellen im heutigen Bangladesch niederzuschlagen (was sich zum indisch-pakistanischen Krieg von 1971 ausweitete), die ägyptischen und algerischen Kämpfe gegen islamische Milizen, Syriens Kampf gegen moslemische Extremisten, der Kampf der Türkei gegen die Demokratische Partei Kurdistans, die Bemühungen des Irak und Iran, die Kurden zu unterwerfen, die Kämpfe Omans und des Jemen gegen Aufrührer sowie die Aktivitäten der Russen in Tschetschenien. Ebenso sind hier die Versuche der Regierung von Burma (Myanmar) zu nennen, eine ganze Reihe von ethnischen Aufständen niederzuschlagen, die Operationen der pakistanischen Armee gegen Al-Qaida im nordwestlichen Teil des Landes, der indische Konflikt in Kaschmir, jener der Regierung von Sri Lanka gegen die Tamilischen Befreiungstiger, die Kämpfe in Thailand, Indonesien und auf den Philippinen und die Bürgerkriege, die zu verschiedenen Zeitpunkten viele lateinamerikanische und afrikanische Länder verwüstet haben.
Im Unterschied zu der Situation, in der der Krieg und die Gesellschaft oft beinahe untrennbar miteinander in Verbindung stehen, bilden viele, wahrscheinlich die meisten aufständischen Organisationen keine Armeen, wie die Bürger der Industrienationen diesen Ausdruck verstehen. Wenn wir die Terminologie von Max Weber verwenden, dann müssen wir konstatieren, daß ihre Führung dazu tendiert, charismatisch anstatt rational, zielorientiert und bürokratisch zu sein. Es ging weniger um die UNITA als um Jonas Savimbi, und die christliche Phalange (oder auch Kata’ib) zählte weniger als die Person Bachir Gemayels. Auf dem Höhepunkt des libanesischen Bürgerkrieges bekämpften sich nicht weniger als fünfzig verschiedene Milizen in diesem kleinen Land; wer sie alle hätte auseinanderhalten können (was nicht einmal ihre eigenen Mitglieder immer konnten), hätte einen Orden verdient. So erklärt sich ihre Neigung, sich zu trennen, mit anderen zu vereinigen, um sich dann erneut aufzusplittern. Nachdem sie sich aufgegliedert hatten, begannen sie wieder gegeneinander zu kämpfen. Dann, nachdem ihre Anführer zurückgetreten, geflüchtet oder umgekommen waren, verschwanden sie beinahe spurlos. Einige Truppen tragen standardisierte Uniformen. Viele andere nutzen Uniformteile, die sie irgendwo auftreiben konnten, entwarfen ihre eigenen Uniformen oder tragen einfach zivile Kleidung, die durch irgendwelche Insignien oder Embleme ergänzt wird. Manche gehorchen einer zentralen Kommandostruktur, aber viele andere agieren mehr oder weniger nach eigenem Belieben.
Der Zusammenbruch der serbisch-jugoslawischen Armee in den Jahren 1991/95 zeigt sehr anschaulich, daß einige der staatlichen Streitkräfte, die versuchten, diese Milizen zu bekämpfen, ursprünglich durchaus gut organisiert und diszipliniert waren, während viele andere kaum von ihren Feinden auseinandergehalten werden konnten. Im großen und ganzen trifft dies umso mehr zu, je länger der Konflikt andauert. Wie jedes andere Spiel, wo ein Spieler oder Team einem anderen gegenübersteht, ist der Krieg eine Nachahmungshandlung par excellence. Beide Seiten sind gezwungen, einander zu studieren und sich anzupassen. Man kann nicht auf der einen Seite des Spielfelds Basketball und auf der anderen Tennis spielen. Ungeachtet dessen, ob sie behaupten, auf der Seite der Regierung oder der ihrer Opponenten zu sein, bestehen die meisten Milizen aus minderjährigen, undisziplinierten, untrainierten Männern, denen der Sinn nach Plünderungen steht.
Sicherlich boten die Milizen keinen schönen Anblick. Doch in Osttimor, Sri Lanka, Afghanistan, im Sudan, in Nigeria, Angola, Mosambik, Algerien, Somalia, Ruanda, Burundi, im Kongo, in Liberia, Sierra Leone und sehr vielen anderen Entwicklungsländern hinderten diese und andere Mängel die Kämpfer nicht daran, Morde in einer riesigen Größenordnung zu begehen. Sie töteten mindestens Hunderttausende, Millionen wurden aus ihren Häusern vertrieben und ganze Regionen zu Wüsten gemacht; es ist berechnet worden, daß sich durch die zahlreichen Konflikte in den 24 Jahren zwischen 1968 und 1992 die Zahl der Flüchtlinge vervierfacht hat.
Insofern ist die These, daß die Menschheit ihre Lust am Krieg verliert und daß der Krieg selber zum Auslaufmodell geworden ist, gefährlicher Unsinn. Ein solches Vogel-Strauß-Verhalten ist fast schon ein Verbrechen gegen diese Menschen in der Dritten Welt. In Wirklichkeit sind nur einige Arten des Krieges, die von gewissen Formen politischer Gebilde gegeneinander auf der Grundlage eines gewissen Typus der militärischen Organisation geführt werden, im Verschwinden begriffen. Doch selbst diese begrenzte Verlagerung liegt weniger an einer allmählichen Veränderung der Einstellungen, geschweige denn der menschlichen Natur, als an den Ängsten, die durch die mächtigste aller Waffen geschaffen wurden.
Das plötzliche (und völlig unerwartete) Verschwinden des größeren Kriegs zwischen größeren Staaten ist eine Umkehrung historischer Trends, die bis ins frühe Mittelalter zurückreichen. In dieser Hinsicht kann ihre Bedeutung gar nicht überschätzt werden. Um hier mit Hegel zu sprechen: Wenn es jemals ein welthistorisches Ereignis gab, dann ist es dies gewesen. Insofern ist es eine begrüßenswerte Entwicklung. Wenn man an den enormen „Fortschritt“ in bezug auf die Mittel der Zerstörung denkt, was könnte schlimmer sein als ein dritter Weltkrieg? Aber dies ändert nichts an der Tatsache, daß andere Formen von bewaffneten Konflikten, von denen einige ungeheuer zerstörerisch und ungeheuer blutig sind, existieren und sich weiter verbreiten können.
Zu viele Länder der Dritten Welt versinken gerade heute in einen Zustand hoffnungsloser Armut, Konfusion und Verzweiflung, der den Hintergrund für Entwicklungen wie den Völkermord in Ruanda bildete. Viele andere, die im Augenblick noch friedlich sind, bergen in sich ein Potential für ethnisch-religiöse Konflikte – Pulverfässer, die in nicht allzu ferner Zukunft explodieren werden. Jene genannten Faktoren vertreiben auch Massen von Migranten in die entwickelten Länder. Nachdem sie dort eingetroffen sind, sind sie zerrissen zwischen dem Zwang zur Assimilation, um sich eine neue Existenz aufzubauen, und dem Wunsch, ihre eigenen Traditionen zu bewahren. All dies wird noch durch Diskriminierung verkompliziert. Wo immer sie ankommen, schafft ihre Gegenwart soziale Spannungen, die eines Tages zu großen Ausbrüchen von Gewalt führen können. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es nur sehr wenige Länder, die so homogen und so reich sind, daß sie im Prinzip gegen jene Formen der Gewaltexplosionen immun sind, deren Vorschein sich bereits in einigen westeuropäischen Ländern abzuzeichnen beginnt. Wer Ohren hat zu hören, sollte die Signale nicht ignorieren.