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Der Ausgang der Befreiungskriege

Von Dr. Mario Kandil

1812–1815 und seine Bedeutung für die deutsche Nation

„Befreiungskriege“ bzw. „Freiheitskriege“ ist die gängige Bezeichnung für Deutschlands Erhebung gegen Napoleon I. – die bei genauerer Betrachtung bereits mit der Konvention von Tauroggen (30. Dezember 1812) einsetzte – sowie für die Kämpfe von 1813 bis 1815 als Höhepunkt der nationalen Unabhängigkeitskriege gegen Frankreichs Hegemonie. Dabei schlossen sich sehr verschiedenartige Elemente mit unterschiedlichen Motiven, Interessen und Zielen zusammen.

Von einer romantisch-nationalen Ideologie, in der sich das Gefühl einer moralischen Kraft des deutschen Volkes und seiner kulturellen Überlegenheit mit dem Schmerz über die tiefe Demütigung des Vaterlandes verband, gingen kräftige Impulse aus. Umgekehrt beruhten die spontanen Erhebungen gegen die französischen Okkupanten oft genug auf nationalen Gefühlen, die von einem regelrechten Franzosenhaß genährt wurden. In diesem Zusammenhang sei nur an den Dichter Heinrich von Kleist erinnert, der im Hinblick auf die Franzosen ausrief:

„Schlagt sie tot! Das Weltgericht
Fragt Euch nach den Gründen nicht!“1

Im Sog der seinerzeit in Deutschland vorherrschenden patriotischen Begeisterung strömten die divergierenden Bestrebungen in einem ebenso intensiven wie nebulosen Verlangen nach „Freiheit“ zusammen. Die publizistischen Wortführer wie auch die Reformer vermengten sehr häufig Aufklärung und Romantik, gemäßigt liberal-demokratische und radikal-revolutionäre Forderungen, bürgerlich-egalitäre und ständische Vorstellungen miteinander. Deswegen stellte sich die Volksbewegung nur als ergänzende Kraft in den Dienst der alten staatlichen Mächte, des „Ancien Régime“. Und so konnten sich später die unterschiedlichsten politischen Richtungen auf sie berufen.
Der Sieg über Napoleon I. in den Befreiungskriegen war kein Erfolg der Deutschen allein. Er war vielmehr ein Gesamterfolg der großen antifranzösischen Koalition (England, Rußland, Preußen und Österreich). Weder die Großmächte noch die deutschen Kleinstaaten konnten an Deutschlands nationalstaatlicher Einigung sonderlich interessiert sein. Dieser stand am stärksten das österreichische Staatsinteresse entgegen, das die Spaltung des habsburgischen Vielvölkerstaates nicht dulden konnte. Unter Abwehr der demokratischen und liberalen Bewegung verbanden sich die alten Autoritäten unter der Führung Clemens Wenzel Lothar Fürst von Metternichs zwecks Wiederherstellung und Sicherung der legitimen Herrschaft, der „alten“ Rechts- und Gesellschaftsordnung sowie des vorrevolutionären europäischen Staatensystems auf der Grundlage eines Gleichgewichts der Mächte. Ein wesentlicher Wegbereiter dieser Politik der Restauration war Friedrich von Gentz. Dieser war nicht nur politischer Schriftsteller und Staatsmann, sondern seit 1812 auch Metternichs Sekretär.

Frankreich dominiert

Als Volkserhebung und Volkskrieg hatte der Befreiungskampf angefangen. Die Mächte der antifranzösischen Koalition leiteten ihn in einen mit konventionellen militärischen und diplomatischen Mitteln geführten Staatenkrieg über. Nachdem Österreich in die Front gegen Napoleon eingetreten war (11. August 1813), verwandelte sich der Volkskrieg endgültig in einen Kabinettskrieg der zu jener Zeit üblichen Art. Die Mächte des „Ancien Régime“ stellten die patriotische Bewegung jetzt unter ihren Befehl und brachten den Krieg nach den Gesichtspunkten der reinen Mächtepolitik zu einem für sie siegreichen Abschluß. Dieser fand in den Beschlüssen des Wiener Kongresses von 1814/1815 seinen Niederschlag. Seine Regelungen erfüllten aber die nationalen, liberalen und bürgerlichen Hoffnungen ganz und gar nicht.
Wie kam Frankreichs Fremdherrschaft in Deutschland als Auslöser für die Befreiungskriege überhaupt zustande? 1806 glückte es Napoleon I., das „Dritte Deutschland“ – gemeint sind mit diesem Begriff die nicht unter französischer Herrschaft stehenden Territorien des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation ohne die beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen – im Rheinbund zusammenzufassen und damit dem Reich den unmittelbaren Todesstoß zu versetzen. Und nachdem der Kaiser der Franzosen dieses erreicht hatte, bereitete er nach Österreich (das er schon Ende 1805 besiegt hatte) auch noch der zweiten deutschen Großmacht Preußen in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt 1806 eine vernichtende Niederlage. Damit hatte der Korse faktisch ganz Deutschland unter seine Kontrolle gebracht.
Erst dann, wenn wir Heutige das ganze Ausmaß der auf den deutschen Territorien jener Zeit lastenden französischen Fremdherrschaft übersehen, können wir nachvollziehen, weshalb sich in den Befreiungskriegen ein derart elementarer Haß auf Napoleon und die Franzosen – in Einheit mit einem starken deutschen Nationalgefühl – Bahn brach. In der Tat hat die Zeit, die fast ganz „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“ (dieses der Titel einer zeitgenössischen Schrift, für deren Verbreitung die Franzosen 1806 den Nürnberger Buchhändler Palm erschossen) durchleben mußte, die Basis für die Erhebung des Jahres 1813 geschaffen. Ungewollt hat folglich Napoleon I. die Bildung eines deutschen Nationalgefühls und Strebens nach staatlicher Einheit entscheidend gefördert.
Doch die Befreiungskriege verkörperten in letzter Konsequenz auch den großen Endkampf zwischen der Französischen Revolution und dem „Ancien Régime“. Während sich die Revolution besonders unter Napoleon Bonaparte von einer Bewegung zur Befreiung der Völker in eine Kraft zu deren Unterdrückung verwandelt hatte, standen hinter den Fürsten des „alten“ Europa bereits die langsam erwachenden Kräfte des Volkes. Die Verhältnisse hatten sich in gewissem Sinne umgekehrt: Napoleon als Exponent der Französischen Revolution war zum „Reaktionär“ geworden. Und hinter den europäischen Fürsten als Verkörperung der Reaktion standen jetzt sehr häufig die Kräfte des Fortschritts hin zu mehr Freiheit des Volkes und zu nationaler Einheit. Auch vor diesem Hintergrund sollte ein mehr als nur oberflächlicher Blick auf die französische Seite – also auf die Seite der Gegner – geworfen werden. Nur dann erscheinen die Befreiungskriege als das, was sie auch waren: als der Entscheidungskampf in dem elementaren Ringen zwischen der Französischen Revolution und den Gegenkräften – einem Ringen, das letztlich ein Vierteljahrhundert dauerte. In den Jahren 1813 bis 1815 ging ein Zeitalter zu Ende. Über dessen Beginn hatte bekanntlich Goethe am 20. September 1792 bei der Kanonade von Valmy seinen so berühmten Ausspruch getan, wonach von hier und heute eine neue Epoche der Weltgeschichte ausgehe.

Die Konvention von Tauroggen als Auslöser

Zwanzig Jahre nach Valmy brachte Tauroggen die Wende weg von der französischen Dominanz auf dem europäischen Kontinent und hin zu einer Erhebung der Völker, die dann aber auch nur wieder in die Restauration des „Ancien Régime“ münden sollte.
Bei genauer Betrachtung war es tatsächlich die Konvention von Tauroggen vom 30. Dezember 1812, welche die Befreiungskriege gegen die französische Fremdherrschaft in Deutschland anstieß. Durch einen Akt des Ungehorsams gegen Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. setzte der preußische General Johann David Yorck von Wartenburg ein Zeichen, dem – wenngleich mit einiger Verzögerung – die Erhebung weiter Teile des deutschen Volkes gegen das fremde Joch Napoleons I. folgte.
Es kann hier nicht darum gehen, die schon oft geschilderten Einzelheiten des welthistorischen Ereignisses erneut Revue passieren zu lassen. Vielmehr ist das Augenmerk darauf zu richten, daß die kühne Handlung Yorcks in Deutschland wie ein Blitz wirkte, der in ein Pulverfaß einschlägt. Speziell die Preußen ließen ihrem tief eingewurzelten Haß gegen die Franzosen freien Lauf. Bis hierher hatten sie ihn noch nicht offen zu äußern gewagt, weil ihre Furcht noch zu groß gewesen war. Beim Anblick der napoleonischen Heerestrümmer konnten sie jedoch ihre Freude nicht länger verbergen und ließen alle bisher notgedrungen geübte Zurückhaltung fallen.
Yorcks gewagte Tat wurde sowohl in seiner unmittelbaren Umgebung als auch in Deutschland insgesamt mit Freude begrüßt. Unter dem Druck Napoleons I. konnte Friedrich Wilhelm III. anfangs kaum anders, als die Tat öffentlich zu mißbilligen. Dieses hatte er 1809 bei der Unternehmung des Majors Ferdinand von Schill auch gemacht. Aber seinerzeit stand Napoleon noch auf dem Höhepunkt seiner Macht. Jetzt hingegen hatte der Korse soeben den Großteil seiner gewaltigen Streitmacht in Rußland eingebüßt und damit endgültig den Nimbus seiner fast schon legendären Unbesiegbarkeit verloren. So wurde letzten Endes auch der vorsichtige und zaudernde preußische Monarch von der Hochstimmung nationalen Aufbruchs dazu fortgerissen, dem Befreiungskampf gegen den fremden Zwingherrn Napoleon I. seine Zustimmung zu geben. In gänzlicher Umkehrung des der Realität nicht entsprechenden Ausspruchs „Der König rief, und alle, alle kamen“, mit dem die Schulbücher im zweiten deutschen Kaiserreich die Welle des 1813 einsetzenden nationalen Enthusiasmus zu erklären versuchten, spotteten kritischere Geister wie folgt: „Und als sie alle riefen, da kam der König auch.“ Im Sturm der Begeisterung, als alles laut nach der Befreiung des Vaterlandes rief, mußte sich König Friedrich Wilhelm III. dem Volkswillen beugen – und nicht umgekehrt.
Die Konvention von Tauroggen verschaffte zunächst nur den Russen an der Ostsee militärisch freie Bahn und brachte die Franzosen sowohl um Ostpreußen als auch um das gesamte Gebiet bis zur Weichsel. Der moralische Effekt von Tauroggen stellte sich für die Sache Napoleons allerdings weit bedenklicher dar: Bei der Erregung, die der Schritt Yorcks auslöste, kam es wie geschildert zu dem offenen Bruch Preußens mit Frankreich. Darüber hinaus bildete Tauroggen den Beginn des großen Befreiungskampfs, durch den Preußen und mit ihm ganz Deutschland Napoleons I. Fremdherrschaft schließlich abzuschütteln vermochte.

Das Erwachen eines deutschen Nationalgefühls

Napoleon Bonaparte, der Kind und Erbe der Französischen Revolution war, trat nun mit voller Wucht der nationalrevolutionäre Aufstand der Völker entgegen. Gänzlich unbemerkt hatte der Weltgeist das Lager gewechselt. Der Kaiser der Franzosen stellte jetzt die Verkörperung der Reaktion dar, genau genommen sogar der Konterrevolution. Er kämpfte im Bunde mit den Fürsten gegen die Völker, setzte auf das monarchische Prinzip statt auf dasjenige der Volkssouveränität. Die Antwort, die Napoleon von Theodor Körner, dem Sänger des jetzt ausbrechenden deutschen Befreiungskampfs, darauf erhielt, lautete wie folgt:

„Es ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen;
Es ist ein Kreuzzug, ´s ist ein heil´ger Krieg!
Recht, Sitte, Tugend, Glauben und Gewissen
Hat der Tyrann aus deiner Brust gerissen;
Errette sie mit deiner Freiheit Sieg!“2

In den Berichten und Depeschen der französischen Agenten mußte Napoleon immer häufiger lesen, daß sich Deutschland im Stadium der Erhebung gegen seine Fremdherrschaft befinde. Als die russischen Truppen unter Wittgenstein in Berlin einrückten, wurden sie von einer tobenden Menge empfangen. Die Universitätsprofessoren unterbrachen ihre Vorlesungen. Johann Gottlieb Fichte sagte mit dem vollen Pathos desjenigen, der von seinem gerechten Kampf restlos überzeugt ist:
„Die Kurse werden entweder in unserem freien Vaterland wiederaufgenommen, oder wir werden sterben, um unsere Freiheit wiederzuerlangen.“3
Wie entstand in dem jetzt entbrennenden Befreiungskampf ein deutsches „Nationalgefühl“? Die vom Krieg produzierten Stereotypen schufen den Franzosen als Kontrast zu dem Deutschen. In der heimlichen Nationalhymne der Befreiungskrieger, in Ernst Moritz Arndts bis heute bekanntem Lied, stellt dieser die Frage „Was ist des Deutschen Vaterland?“ Die Antwort Arndts veranschaulicht beispielhaft die Wechselwirkung von Einschluß und Ausschluß:

„Da ist des Deutschen Vaterland,
Wo Zorn vertilgt den welschen Tand,
Wo jeder Franzmann heißet Feind,
Wo jeder Deutsche heißet Freund.
Das soll es sein!

Das ganze Deutschland soll es sein!“4

Ein Nationalgefühl wurde in diesem Fall durch Abgrenzung von einem gemeinsamen äußeren Feind – hier: den Franzosen – hergestellt. Es störte die Propagandisten dabei nicht, daß es die deutsche Nation als Staatswesen überhaupt nicht gab. Im Gegenteil: Durch die Abgrenzung von den Franzosen konnten die Deutschen als Volk konstituiert werden. Lange Zeit, bevor es einen deutschen Nationalstaat gab – in der „kleindeutschen“ Variante von 1871 – , war in der Kriegs- und Besatzungszeit die nationale Idee nicht zuletzt aufgrund der Feindschaft gegenüber dem verhaßten Frankreich definiert worden.
Die Feldzüge des Jahres 1813 hätte Napoleon sich selbst, den Franzosen und den Deutschen getrost ersparen können. Was nutzten ihm neue Divisionen, wenn Europas Völkern seine Herrschaft als Tyrannei schlechthin erschien? Gegen den Freiheitswillen der Völker anzukämpfen, war weder Taktik noch Strategie, hierzu war nicht einmal das unbestreitbare Genie des Korsen in der Lage. „Das Volk steht auf! Der Sturm bricht los“5 – dieses sollte beim Auszug zum Kampf gegen Napoleon der Kriegsfreiwillige Theodor Körner dichten. Und der für die Befreiung Deutschlands stets tätige Ernst Moritz Arndt rief seinen Landsleuten die ermutigenden Worte zu:

„Nicht Bayern, Nicht Braunschweiger, Nicht Hannoveraner,
Nicht Hessen, Nicht Holsteiner, Nicht Mecklenburger,
Nicht Österreicher, Nicht Pfälzer, Nicht Preußen,
Nicht Sachsen, Nicht Schwaben, Nicht Westfälinger, Nicht Ihr,
Die ihr sonst freie Reichsstädter hießet und waret,
Alles, was sich Deutsche nennen darf –
Nicht gegeneinander, sondern:
Deutsche für Deutsche!“6

Die nationale Begeisterung übertrug sich von einer zahlenmäßig kleinen Minorität, für die Dichter wie Theodor Körner, Max von Schenkendorf und Friedrich Rückert ebenso standen wie die Philosophen Friedrich Schleiermacher und Johann Gottlieb Fichte, mehr und mehr auf weite Kreise der Bevölkerung in Deutschland. Es ereigneten sich diverse lokale Aufstände – ohne Order von oben, ja zum Teil sogar gegen die Anordnung der Fürsten. So brach in dem an Frankreich angegliederten Hamburg im März 1813 aus Anlaß eines Vorstoßes von Kosaken nach Westen ein Volksaufstand los. Die Russen wurden in die Stadt eingelassen. Die Franzosen nahmen dafür Rache, indem sie die am 31. Mai 1813 zurückeroberte Stadt zum Teil zerstörten. Nur wenig später ließ die Bevölkerung Dresdens preußische Truppen in ihre Tore ein und gab diesen Gelegenheit, den auch jetzt noch mit Napoleon verbündeten König Friedrich August I. zu vertreiben. Erhebungen gegen die Franzosen gab es zudem in Bremen, Oldenburg, Hanau sowie im Großherzogtum Berg.

Die deutsche Nationalerhebung fegt Napoleon hinweg

Nachdem Napoleon trotz Erfolgen im Frühjahrsfeldzug von 1813 Anfang Juni mit den verbündeten Russen und Preußen einen Waffenstillstand geschlossen hatte, trat während der Kampfpause das von Metternichs geschickter Diplomatie geführte Österreich auf die Seite seiner Gegner über. Es zeigte sich nun, daß es Napoleon gar nichts half, durch die Heirat mit der Tochter Kaiser Franz´ I. in den erlauchten Kreis der gekrönten Häupter Europas vorgedrungen zu sein. Seinen Schwiegervater auf dem Habsburgerthron hielt dies nicht davon ab, bei der jetzt völlig veränderten allgemeinen Lage in Europa gegen seinen ungeliebten Schwiegersohn marschieren zu lassen.
Die Verbündeten gingen sehr vorsichtig zu Werke. Zu den unterschiedlichen Temperamenten ihrer Heerführer gesellten sich aber auch noch die Behinderungen der Politik. Die Empfindungen der deutschen Nation, auf deren Boden das große Ringen ausgetragen wurde, deckten sich nicht immer mit dem Handeln der Regierenden. So war die Allianz des Königs von Preußen mit dem russischen Zaren bei weitem nicht derart populär, wie es später so viele Historiker (speziell die marxistischen) dargestellt haben. Alexander I. führte nur seinen persönlichen Macht- und Eroberungskrieg – trotz aller ideologischen Bemäntelung als edler Befreier Europas. Er trachtete danach, Polen als Siegesbeute an sich zu reißen und der neue Beherrscher Europas zu werden. Demgegenüber versuchte Metternich, dem Franzosenkaiser goldene Brücken zu bauen und nur dessen Vorherrschaft in Europa zu brechen. An deren Stelle sollte jedoch keineswegs die Dominanz des russischen Zaren treten.
Während auf französischer Seite die Siegeszuversicht zusehends schwand, wirkten in Blüchers Stab und Armee Siegeswille und Volkskraft, die in den anderen Heeren der Koalition und in ihrer obersten Leitung immer wieder von der diplomatischen, der militärischen und persönlichen Seite her geschwächt wurden oder auf Hindernisse stießen. In Blüchers Umgebung lebten sich die seelischen Befindlichkeiten aus – ganz gleich, ob sie nun preußischen oder allgemein deutschen Gefühlswelten entsprangen. Bei Blücher war die Gegnerschaft zu Napoleon elementarer Haß, der sich aus seiner unauslöschlichen Erinnerung an die schmachvolle Behandlung speiste, die das geschlagene Preußen 1806 und in den Folgejahren von dem übermütigen französischen Sieger hatte erfahren müssen. Über diesen Punkt war mit dem alten Blücher nicht zu reden. Er ließ auch keine Unterscheidung zwischen dem französischen Volk und seinem Herrscher zu, wie sie nun immer häufiger die alliierte Propaganda so feinsinnig traf. Für ihn waren sie, in seiner derben Husarensprache, „Hose wie Jacke“ und beide gleichermaßen hassenswert. So wurde das Hauptquartier Blüchers gewissermaßen zur Heimat der Entschlossenen, von der Katzbach bis Waterloo. Es hatte einen wesentlichen Anteil daran, daß in der Völkerschlacht von Leipzig (16.–19. Oktober 1813) die französische Fremdherrschaft auf deutschem Boden gebrochen werden konnte.
In der Tat fürchteten und bewunderten die Deutschen den Kaiser der Franzosen jetzt nicht mehr. Sie jubelten stattdessen ihrem „Vater Blücher“ zu, der die preußischen Truppen von Erfolg zu Erfolg führte und der geschworen hatte, „alles Schelmenfranzosenzeug mitsamt dem Bonaparte“7 vom deutschen Boden zu verjagen. Daß der geschlagene Kaiser in seiner späteren Verbannung auf Sankt Helena den alten Blücher verächtlich als „besoffenen Husarengeneral“8 titulierte, offenbart mehr als vieles andere, wie gänzlich falsch sein Bild von diesem Gegner war. Napoleon hatte überhaupt nicht verstanden, was in den Herzen und Gehirnen der Deutschen vorgegangen war. Die Erhebungen in Spanien und in Tirol hätten ihm eine Vorwarnung sein müssen. Doch das Moment des nationalen Befreiungskampfs war ihm überhaupt nicht bewußt. Noch am 2. Dezember 1811 hatte der Imperator die Deutschen als ein „braves, vernünftiges, kaltes und geduldiges“9 Volk eingeschätzt. Bis zuletzt konnte er nicht begreifen, weshalb sich 1813 die preußischen Landwehrmänner in ihren zerrissenen Kitteln bei Großbeeren und bei Dennewitz, an der Katzbach und bei Möckern mit dem elementaren Zorn von Berserkern auf seine Soldaten stürzten. Immer höher schlugen nun in ganz Deutschland die Wellen des Volkszorns gegen die landfremden Unterdrücker. Und die französische Armee war nicht in der Lage, diesen einmal entfesselten Elementen Paroli zu bieten. In der aufgeladenen Atmosphäre der Befreiungskriege von 1813 übten solche Worte wie Freiheit eine beinahe magische Wirkung aus. Da fiel es den begeisterten Volksmassen gar nicht auf, daß im Munde der gekrönten Häupter Reden über Freiheit eine ganz andere Bedeutung hatten. Dachten die feudalabsolutistischen Monarchen doch schon in jenem Jahr über die Gründung dessen nach, was 1815 unter dem Namen „Heilige Allianz“ als Bündnis von Thron und Altar ins Leben treten sollte.

Was blieb am Ende?

Napoleon I. hatte als ein ungewollter Vorläufer Bismarcks in seinem Streben nach Vereinheitlichung und in seinem Drang nach Modernisierung auf Deutschland eingewirkt. Andererseits war er wie ein Barbar mit seinem deutschen „Kanonenfutter“ umgesprungen, von dem er allein in den ersten sechs Monaten des Rußlandfeldzuges an die 100.000 Mann geopfert hatte. Kein Deutscher, der es kannte, konnte dem Franzosenkaiser das zynische Wort vergessen, daß ein Mann wie er sich wenig um den Tod von 200.000 Menschen schere. Für Napoleon waren die Völker – und nicht zuletzt die Deutschen – nur eine Knetmasse gewesen, aus denen sein Schöpfergeist bleibende Werke überlegener Staatskunst hatte formen wollen. Niemals hätte er es für möglich gehalten, daß die Völker sich gegen ihn erheben und seine Pläne zunichte machen könnten. Der Imperator verstand selbst in seinem Sturz nicht, daß es weder die Gewalt der Waffen noch die der Armee – um es mit Fichte zu sagen – gewesen war, die ihn besiegte. Er begriff nicht, dass dies eine Idee, ein sittliches Prinzip bewirkt hatte – das Identitäts- und Unabhängigkeitsstreben der Völker, der Selbstbestimmungswille der Nationen. Imperialismus und Nationalismus, zwei gegensätzliche revolutionäre Kräfte, die sich schon im Verlauf der Französischen Revolution entwickelt und ausdifferenziert hatten, prallten 1813 bei Großbeeren und bei Leipzig blutig aufeinander, rangen um die zukünftige Gestaltung des Kontinents Europa. Napoleons supranationale Visionen kamen und gingen – die Idee der Nation und des Nationalstaats blieb siegreich.
Die nationale Begeisterung hatte sich von einer kleinen Minderheit von Dichtern wie Theodor Körner und Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte auf breitere Volksschichten übertragen. Körner war 1813 im Kampf gegen die Franzosen gefallen, Fichte 1814 infolge einer Infektion mittelbar ein Opfer des Kriegs geworden.
Am Ende des so lange währenden Kampfs stand am Ausgang des Jahres 1813 als Resultat die Befreiung Deutschlands. Alles, was danach noch folgte, diente nicht mehr dieser defensiven Absicht, sondern dem offensiven Plan einer Niederwerfung und Vernichtung Napoleons I. Davon waren die Kämpfe der Jahre 1814 und 1815 gekennzeichnet.
Die Hoffnungen des Freiherrn von Stein, daß die besetzten Gebiete zu der Grundlage eines deutschen Nationalstaats werden könnten, wurden bereits im Ansatz zunichte gemacht. Der nach den Erfolgen der Verbündeten stetig angewachsene Bereich der zu verwaltenden Gebiete wurde durch die Restaurationspolitik der Alliierten schnell wieder verkleinert. So kam es auch in zahlreichen mittel- und westdeutschen Gebieten zur Wiedereinsetzung der alten Dynastien.
Napoleons endgültige Niederlage bei Waterloo am 18. Juni 1815 hatte für das in den „Hundert Tagen“ gewissermaßen rückfällig gewordene Frankreich mit dem Zweiten Pariser Frieden vom 20. November 1815 einen territorialen Rückschritt zu den Grenzen des Jahres 1790 zur Folge. Für viele Franzosen bedeutete dieses bereits eine „nationale Schmach“ – was die auf den Thron zurückgekehrten Bourbonen weiter diskreditierte und dem eben noch gescheiterten Bonapartismus einen gewaltigen Aufschwung bescherte.
Die deutschen Patrioten, die vor allem eine Rückerstattung des Elsaß gefordert hatten, waren mit den für Frankreich nur mäßig verschärften Friedensbedingungen ganz und gar nicht zufrieden. Hatte doch bereits der Wiener Kongreß mit seinen Beschlüssen ihre Hoffnungen auf eine nationale Einheit ganz bitter enttäuscht. Doch mit der Vielgestaltigkeit Deutschlands aufzuräumen, das lag gar nicht auf der allgemeinen Linie des Wiener Kongresses mit seinen Grundsätzen von Legitimität und Restauration. Ebenso sprachen die Aspekte der Konvenienz und der Opportunität gegen eine radikale Vereinfachung der deutschen Landkarte. Das stattdessen geschaffene Gebilde des Deutschen Bundes hat sich – mit der Unterbrechung durch die Revolution von 1848 – etwas mehr als ein halbes Jahrhundert behauptet. Die Ära der Restauration und die Zweite Reaktion der 1850er Jahre drückten dem Deutschen Bund in politischer Hinsicht unverkennbar ihren Stempel auf. Die von Rußlands Zar Alexander I. angeregte „Heilige Allianz“ als „Bund von Thron und Altar“ (26. September 1815) wurde für die gesamte auf Napoleon folgende Epoche prägend: Sie wurde von einem Geist der Reaktion dominiert, dem die Zukunft nicht gehörte, obwohl er zunächst für Europa eine Zeit relativer Ruhe brachte. Dem Streben der Bürger nach mehr Rechten, Mitverantwortung und nationaler Einheit entsprach er ganz und gar nicht. Und gerade das hatte doch in den Befreiungskriegen gegen das napoleonische Frankreich mit hohem Blutzoll errungen werden sollen! Aber eines bleibt bestehen und läßt sich einfach nicht wegleugnen: Die Abschüttelung der französischen Fremdherrschaft und die Wiederherstellung von Deutschlands nationaler Unabhängigkeit „gilt als ein positives Resultat des Befreiungskrieges“10. Dies – immerhin nicht wenig – wurde in den so blutigen Kämpfen erreicht und hat bis heute Bedeutung!

Anmerkungen

1  Zitiert nach Mann, Golo: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Stuttgart / Gütersloh / Wien 1966, S. 89.
2  Zitiert nach Venohr, Wolfgang: Napoleon in Deutschland. Zwischen Imperialismus und Nationalismus 1800-1813. 2. durchgesehene und erweiterte Auflage. München 1998, S. 296.
3  Zitiert nach Gallo, Max: Aus dem Französischen von Manfred Flügge. Band 2. Berlin 2002, S. 401.
4  Zitiert nach Echternkamp, Jörg: „Wo jeder Franzmann heißet Feind ...“? Nationale Propaganda und sozialer Protest im napoleonischen Deutschland. In: Veltzke, Veit (Hg.): Napoleon. Trikolore und Kaiseradler über Rhein und Weser. Köln / Weimar / Wien 2007, S. 411–428, hier: S. 417.
5  Zitiert nach W. Venohr, Napoleon in Deutschland, S. 296.
6  Zitiert nach ebda., S. 296f.
7  Zitiert nach ebda., S. 297.
8  Zitiert nach ebda.
9  Zitiert nach ebda.
10  Dies die Worte von Scheel, Heinrich: Zur Problematik des deutschen Befreiungskrieges 1813. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 11 (1963), S. 1277–1298, hier: S. 1279.

 
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