Das alte Germanien nannte er ein „Sauland“, und auch über die Neogermanen seiner Zeit, die „deutschvölkischen Wanderscholaren“, die angeblich präparierte Bärenfelle mit Stierhörnern über ihren bärtigen Häuptern trügen, hat Hitler sich nicht gerade schmeichelhaft geäußert.1 Genützt haben diese harschen Urteile des „Führers“ denjenigen, die sich gegenwärtig auf das germanische Heidentum positiv beziehen, wenig; das Bart-Klischee wich dem der Glatze, und wenn in den Medien von Heidentum die Rede ist, dann meist unter dem Schlagwort des „Rechtsextremismus“. Kirchliche Sektenbeauftragte sekundieren den staatlichen oder journalistischen Blockwarten gerne und fügen manchmal das andere Gruselwort „Satanismus“ hinzu, bekämpfen den einstigen heidnischen Erzfeind heute aber eher aus politischen als aus wirklichen Glaubensgründen.
Gleichwohl stößt heidnische Religiosität in Zeiten leerer oder umfunktionierter Kirchen seit den achtziger Jahren auf wachsendes Interesse in der gesamten westlichen Welt: Ein bunt durchmischter, interkultureller Esoterikmarkt setzt die okkultistischen, runenkundlichen oder theosophischen Traditionen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts fort, und selbst das so mißtrauisch beäugte oder offen angefeindete germanische Neuheidentum in Deutschland hat unter dem Einfluß neopaganer Strömungen aus Skandinavien, dem sogenannten Asatru, oder dem angelsächsischen Raum eine ungebrochene Faszination behauptet.
Während das Prinzip „anything goes“ die moderne Esoterik prägt, herrscht ständiger Zwist innerhalb der germanisch-heidnischen Szene. Neue Vereine, von denen einige langfristig die Gleichstellung mit den christlichen Konfessionen als Körperschaften öffentlichen Rechts anstreben, traten neben die älteren, völkisch geprägten Gemeinschaften, deren Wurzeln noch in die Vorkriegszeit zurückreichen, und bekämpfen diese erbittert.2 Zwar gibt es auch Versuche, Dachverbände zu gründen; bislang scheiterten sie jedoch am Individualismus und der undogmatischen Gesinnung vieler Heiden, aber auch am Alleinvertretungsanspruch mancher Protagonisten sowie nicht zuletzt an der Besorgnis, durch eine Zusammenarbeit mit politisch „anrüchigen“ Personen oder Vereinen den eigenen Ruf zu ruinieren. Darüber hinaus ist den meisten Neuheiden Vereinsmeierei sowieso zuwider; sie gründen lieber Hexen-„Covens“ oder schließen sich in Freundeskreisen, die sie zuweilen als „Sippen“ oder „Clans“ bezeichnen, zusammen, tummeln sich in Online-Foren, besuchen schamanische Wochenend-Workshops, heilige Stätten und „Kraftorte“, feiern Sonnenwenden oder andere Feste, sumbeln und blóten.3 Traditionalisten, die nach authentischen Wegen suchen, konkurrieren mit Modernisierern oder Patchwork-Heiden, die indianische Medizinräder mit keltischem Tarot und Runen-Yoga verbinden. Die Übergänge zur reinen Freizeitgestaltung sind fließend; in manchen musikalischen Subkulturen (Gothic, Neofolk sowie Black, Pagan oder Viking Metal) trägt jeder zweite heidnische Symbole wie Thorhammer und Irminsul als Schmuckstücke, Mittelaltermärkte und historisches „Reenactment“ besuchen Zehntausende. Neben einer diffusen Begeisterung für vor- und außerchristliche Kulturen und einem Lebensgefühl, dem der Katholizismus als dogmatisch und patriarchalisch oder das evangelische Christentum als postmodern-beliebig und politisch-korrekt erscheint, steht der religiös motivierte Versuch, heidnische Spiritualität wiederzubeleben.
Von all dem soll hier freilich nicht näher die Rede sein, weder von der „Mettrinker-Fraktion“, deren Heidentum darin besteht, am Lagerfeuer das Horn kreisen zu lassen, noch primär vom Neuheidentum als religiöser Bewegung der Gegenwart, sondern vom Heidentum im allgemeinen. Obwohl – oder weil – dieses schon seinem Begriff nach lange Zeit auf das angeblich überwundene Gegenbild des Christentums reduziert wurde, soll hier auch nicht das historische Heidentum im Mittelpunkt stehen, sondern Heidentum als Urreligion verstanden werden, als „Religion überhaupt“ oder religiöse Grundhaltung des Menschen.
Nach der weithin akzeptierten etymologischen Deutung des Laktanz leitet sich religio von religare („rückbinden“) her; der Apologet des 4. Jahrhunderts meinte damit eine Bindung des Gläubigen an den christlichen Gott, aber der Begriff kann auch weiter gefaßt werden. Religion bezeichnet dann eine existenzielle Befindlichkeit, ein Gefühl „schlechthinniger Abhängigkeit“ (Schleiermacher) oder eines Eingebunden-Seins des Menschen, der sich als Teil des Natur- und Schicksalszusammenhangs versteht. Cicero, von dem sich Laktanz kritisch abgrenzte, hatte den Begriff religio noch anders interpretiert: als Ableitung von relegere, was „wieder (auf-)lesen“ oder „einsammeln“, im übertragenen Sinne auch „achtgeben“, „sorgsam beobachten“ bedeutet: Der Priester hatte die überkommenen rituellen Vorschriften einzuhalten; was er oder die anderen Ritualteilnehmer dabei glaubten, war gleichgültig. Es ging um die Form, nicht um den Inhalt.
Erst mit der weitgehenden Etablierung des Christentums im Abendland konnte es zur Gleichsetzung bzw. Verwechselung von Religion und Glauben kommen – was aber geglaubt werden soll, kann stets auch bezweifelt werden, so daß das Christentum, wie sein feindlicher muslimischer Bruder, von Beginn an seine Schismen und Häretiker produzierte. Religion, die Glauben nötig hat, ist jedoch schon eine Schwundstufe des religiösen Urphänomens; der Mensch von archaischer Religiosität erfaßte das Göttliche noch in der Natur, im Kreislauf der Gestirne, im Wechsel von Ebbe und Flut und dem Reigen der Jahreszeiten, in der Kraft des Feuers oder des Bären, in der überwältigenden Macht von Liebe, Geburt und Tod.
Ciceros Definition ist nicht nur für die heidnische Auffassung von Religion, sondern für das Wesen des Religiösen insgesamt charakteristisch und findet sich ganz ähnlich auch bei den Skandinaviern der Wikingerzeit, auf die sich heute fast alle germanischen Neuheiden aufgrund der dürftigen Überlieferungssituation außerhalb Skandinaviens berufen: Religion hieß damals forn sidr (dän.), „alte Sitte“ – auch hier ging es um das, was man immer schon tat, und nicht um das, was man glaubte. Aber auch das deutsche Wort „Glauben“ wurde in der mittelalterlichen Bekehrungszeit noch anders verstanden: Etwas zu gilouban (althochdt.) hieß nicht, dieses für wahr zu halten, sondern ihm Treue zu geloben. Während das neuhochdeutsche „Glauben“ diese Bedeutung nicht mehr aufweist und hauptsächlich „Vermuten“, daneben allenfalls noch ein vages Bindungsgefühl bezeichnet, meint auch das lateinische fides in erster Linie die Treue und damit ein Verhalten. Besonders im germanischen Kulturkreis entsprach das Verhältnis von Göttern und Menschen demjenigen von – grundsätzlich wohlwollenden – Fürsten zu ihren Gefolgsleuten; man gab wechselweise, was man einander an Schutz und Opfergaben schuldig war, fürchtete zuweilen zwar die Unberechenbarkeit der Götter, nicht aber, wie die alttestamentlichen Israeliten, deren nie zu befriedigende Rachsucht. Fritz Steinbock betont deshalb zu Recht den pragmatischen und rituellen Charakter der germanischen Religion;4 sie sei primär der gemeinsame Kultus, in dem sich – in den Augen der Feiernden – ein mythisches Urereignis wiederhole und die „heilige Zeit“ des Urbeginns, wie von dem rumänischen Religionswissenschaftler Mircea Eliade beschrieben, für einen Augenblick die „profane Zeit“ aufhebe.
„Glaubst du an (einen) Gott?“ ist daher eine Frage, die sich vor dem Hintergrund einer traditionell heidnisch geprägten Kultur kaum stellte; die Frage lautete eher: „Welchem Gott (oder welchen Göttern) opferst du?“ Nur gänzlich Besitzlose, insbesondere Sklaven, hätten darauf geantwortet, daß sie überhaupt keinem Gott opfern (können). Wer von einem glücklichen Schicksal begünstigt war, wird gerne vielen Göttern geopfert haben; und das Problem bestand nicht darin, „den falschen“ oder zu vielen Göttern zu opfern, sondern darin, womöglich einen zu vergessen. Die mythologischen Texte des Altertums berichten davon, daß es zwar zu Eifersucht zwischen Göttern kam, die sich ihre Opfer neideten, aber kein Gott – oder Mensch – hätte je die Existenz anderer Götter in Frage gestellt; selbst das Erste Gebot „Du sollst nicht andere Götter haben neben mir“ geht noch vom altjüdischen Polytheismus aus, der Jahwe nicht als einzigen, sondern nur als den von seinem auserwählten Volk allein zu verehrenden Gott ansah; andere Völker hatten andere Götter, deren Huldigung als Verrat am eigenen Volk angesehen wurde, dessen „metaphysisches Zentrum“ sein Gott darstellte.5 Der Gegensatz zwischen Jahwe und den Göttern der Nachbarvölker Israels bestand, nach Auffassung des jüdischen Religionsphilosophen Oskar Goldberg, vor allem darin, daß Jahwe kein Orts-, sondern ein „ortloser“ (Wüsten-)Gott war, der sich sein Volk „auserwählt“ und mit ihm einen „Bund“ geschlossen hat. Alle anderen Götter haben hingegen einen konkreten Bezug zu einer bestimmten Landschaft, in der sie besonders erfahrbar sind, und stehen mit „ihrem“ Volk in einer natürlichen Verbindung, meist als dessen „Stammvater“ (nicht „Schöpfer“). Ein Abstammungsverhältnis kann nicht aufgelöst, wohl aber kann ein Bund gebrochen werden, woraus Jahwes besondere Eifersucht und die bereits von antiken Autoren problematisierte Singularität Israels unter den Völkern, den gojim, resultiert. Da Jahwe von Natur aus kein Volk „besaß“ und zudem „landlos“ und „akosmisch“ (vielleicht auch deshalb zur biblischen Rolle des im Raumlosen schwebenden Schöpfers der Erde prädestiniert) war, befand er sich gegenüber den im Kosmos verwurzelten Göttern zunächst im Nachteil. Auch die geringe Macht seines kleinen Volkes war anfangs nachteilig, konnte von dessen Propheten während der babylonischen Gefangenschaft aber auf sehr erfolgreiche Weise neu interpretiert werden: Allgemein herrschte in der Antike die – paradigmatisch etwa an den Götterkämpfen der Ilias zu beobachtende – Vorstellung, daß das Kriegsglück der Völker aus der Macht deren Götter folge. Siegen die feindlichen Götter, haben diese sich als stärker erwiesen und müssen nun auch von den unterlegenen Völkern verehrt werden. Zwar können die besiegten Götter in das Pantheon der Siegreichen aufgenommen oder als deren lokale Erscheinungen aufgefaßt werden, aber insgesamt droht die Gefahr des Verlustes der kulturellen Identität der Besiegten. Den Propheten gelang es nun, die Niederlage so zu wenden, daß dem jüdischen Volk seine Identität auch unter den Bedingungen fremder Herrschaft erhalten blieb: Nicht Jahwe hat versagt – so lehrten sie –, sondern sein Volk hat es an der nötigen Gesetzestreue fehlen lassen, weshalb er es durch die Feinde strafen ließ; nun hat das treulose Volk aber die Möglichkeit, durch besonderes Wohlverhalten seine Gunst wieder zurückzugewinnen.
Zweifellos liegt in dieser neuartigen Gedankenfigur6 eine Wurzel für das Erfolgsmodell der jüdischen Identität unter äußerlich widrigen Bedingungen; der Preis, der dafür zu zahlen war, lag in einem wachsenden Gegensatz des von seinem Gott auserwählten und immer wieder gestraften Volkes zu den übrigen Völkern bereits des Orbis Terrarum.
Einige Aspekte dieses Gegensatzes gingen dann auf denjenigen zwischen Heiden und Christen über: Auch die Kreuzigung Christi wurde zunächst als dessen Scheitern empfunden, mußte also als heilsgeschichtlich notwendiges Selbstopfer interpretiert werden, und die Christen traten als Märtyrer, denen Tod und Verfolgung nichts anhaben konnten, aus dem heidnisch-erfahrungsreligiösen Kontext heraus. Ihr Reich war „nicht von dieser Welt“, und ihre linear-eschatologische Zeitvorstellung eine andere als die zyklische Zeitauffassung des Heidentums. Da die Christen sämtliche Götter des antiken Pantheons ablehnten, nahmen sie für sich eine Sonderrolle in Anspruch, auch wenn sie diese nicht mehr auf Abstammung und einen Bund Gottes mit den Stammvätern zurückführten. Der Bundesgedanke wurde in der Taufe in gewisser Weise beibehalten – nur ist es jetzt nicht mehr Gott, der sich sein Volk auswählt, sondern der einzelne; selbst der geringste Sklave kann sich, indem er sich zu Gott bekennt und ihn für sich „auserwählt“, selbst zum „Auserwählten“ machen.
„Tres sunt in mundo religiones, Iudaeorum, paganorum et Christianorum“, heißt es bei Vigilius von Thapsus. Wer ist nun mit den (kleingeschriebenen) pagani gemeint? Der Begriff ist abgeleitet von pagus, „Dorf, Gau, Volksstamm“, und bezeichnet in einem pejorativen Sinn einerseits den bäuerlich lebenden „Dörfler“ und andererseits den autochthonen Landbewohner aus der Sicht des Fremden, etwa des römischen Beamten oder des zeitweilig stationierten Soldaten. Aus der Perspektive des letzteren hat paganus auch die spöttisch-abwertend gemeinte Bedeutung des „Zivilisten“.
Eine geringschätzige Bezeichnung für „rückständige“, „wilde“, „unzivilisierte“, „barbarische“ Völker an der Peripherie des Reiches ging also auf die Anhänger der nichtchristlichen Religionen über, da sich das Christentum zunächst in den großen Metropolen, vorwiegend bei den Unterschichten sowie unter den Soldaten – bei den geographisch und kulturell Entwurzelten – ausbreitete, bis die Romanitas mit der Christianitas gleichgesetzt werden konnte. Bei den germanischen Völkern setzte sich schließlich ein vielen Dialekten gemeinsames Wort als Übersetzung von paganus durch:
„Als keltisch-germanische Wurzel hat man *kaito- in der Bedeutung von ‚Wald, unbebauter Landstrich’, als urgermanische Stammform *haithanas, rekonstruiert. Davon leiten manche althochdeutsch heidan/heidin, angelsächsisch haeden, isländisch heidinn, englisch heathen, mittelhochdeutsch heiden ab. […] Jedenfalls habe ‚der Heide’ denselben Wortstamm wie ‚die Heide’, auf der kein angebautes, sondern wildes Kraut und Gestrüpp wächst. ‚Der Heide’ in der mitübernommenen Bedeutung des Nichtchristen wäre dann eine klassische Lehnübersetzung von paganus und bezeichnete wie dieses den Ungläubigen, der auf dem Lande, jetzt sogar: in wilder, unkultivierter Gegend, wohnt.“7
Begrifflich bestand der Gegensatz zwischen Christentum und Heidentum zunächst also in dem von Zivilisation und Barbarei (aus christlicher Sicht). Inhaltlich liegt dem heidnisch-christlichen Zwiespalt, der tief durch die abendländische Seele geht, jedoch wesentlich für ihre kulturelle Produktivität verantwortlich war, ein ganzes Geflecht von Gegensätzen, aber auch von Überschneidungen und Mischungen zugrunde, das im folgenden etwas entwirrt werden soll.
Die populärste Unterscheidung liegt sicher darin, daß das Christentum monotheistisch sei, im Heidentum hingegen ein Polytheismus vorherrsche, der von christlicher Seite traditionell einem primitiven religiösen Bewußtsein zugeordnet wird. Allerdings ist schon diese Differenz problematisch und trifft nicht den Kern der Sache. Einerseits nimmt auch der Islam für sich in Anspruch, zur eigentlichen Wahrheit des Monotheismus durchgedrungen zu sein, und wirft dem Christentum vor, aufgrund seines trinitarischen Gottesbildes dem Heidentum verhaftet zu bleiben; andererseits gibt es auch innerhalb des Heidentums monotheistische Tendenzen. Die älteste bekannte ist die „religiöse Revolution“ des Echnaton, der die alleinige Verehrung des Sonnengottes durchzusetzen versuchte, worin manche Ägyptologen eine Vorwegnahme des mosaischen Gottesbildes erkennen. (Unabhängig von den geschichtlichen Entwicklungslinien ist ein Sonnengott aufgrund der scheinbaren Allgegenwart des Lichtes phänomenologisch besonders dafür prädestiniert, andere Gottheiten zu verdrängen.) Auch im Hinduismus gibt es die tendenziell monotheistische Auffassung, daß die Götter Erscheinungsformen einer einzigen Urgottheit, des Brahman, seien. Weit verbreitet war die Vorstellung eines „Urmonotheismus“ auch in deutschen heidnischen Kreisen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Viele Protagonisten der völkischen Bewegung, etwa Guido von List und Hermann Wirth, oder der Nationalrevolutionär Friedrich Hielscher, vertraten ein solches Konzept unter Rückgriff auf mystische und pantheistische Traditionen; die germanische Götterwelt erschien ihnen als Ausdruck einer populären Versinnbildlichung des Ur-Einen oder als dessen Emanation. Vorstellungen dieser Art wurden auch im „Ahnenerbe“ der SS aufgegriffen, weil man sich von ihnen aufgrund ihrer relativen Nähe zum Christentum eine größere Akzeptanz der projektierten künftigen „NS-Religion“ als von einem Rückgriff auf ein polytheistisches Modell erhoffte; gleichwohl dürfen diese Ideen nicht auf ihre politische Instrumentalisierung reduziert werden. Historisch ist ein „Urmonotheismus“ bei archaischen Völkern nicht nachweisbar; soweit bekannt, finden sich dort stets polytheistische Anschauungen. Erst im Rahmen komplexer philosophischer Systeme wurden, bei den alten Indern wie bei den Griechen, monotheistische Konzepte ausgebildet. Sie treten also auch schon in heidnischen Kontexten auf, stellen aber Spätentwicklungen dar, in denen die mythologische Anschaulichkeit, die sich immer auf die Vielheit der Welt richtet, dem Denken in abstrakten, vereinheitlichenden Kategorien weicht, das oft mit dem Übergang von oralen zu literalen Kulturen verbunden ist.
In dieser „Medienrevolution“ zeigt sich ein weiterer häufig anzutreffender Unterschied zwischen Heiden- und Christentum: Dem Primat der mündlichen Überlieferung steht eine Verschriftlichung der religiösen Tradition gegenüber. Zwar werden auch in heidnischen Kulturen religiöse oder mythologische Texte niedergeschrieben, aber diese Aufzeichnung ist für ihre Geltung nicht wesentlich – im Gegenteil ist mit ihr manchmal sogar ein Bedeutungsverlust bzw. eine Reduktion auf „bloße Literatur“ verbunden. Das religiöse Wissen brauchte man nicht aufzuschreiben; „man“ – oder zumindest die zuständige Elite von Experten, deren Rang auf ihrer Erinnerungskapazität und nicht auf dem Anspruch beruhte, über die richtige Interpretation zu verfügen – hatte es im Gedächtnis. Demgegenüber vollzieht sich bereits im Judentum eine Wendung zur schriftlichen Fixierung, die schließlich im „Traditionsschluß“ (Jan Assmann), der Festlegung eines bestimmten Kanons, und der Ausbildung eines zu dessen Interpretation berufenen Standes führte. Christentum und Islam haben das Judentum in dieser Hinsicht beerbt, und der Protestantismus stellte lediglich eine Opposition gegen die Interpretationselite, nicht aber gegen das Schriftprinzip dar. „Die Schrift“ ist „heilig“, das „Heilige Buch“ wurde in der Vergangenheit offenbart, und an seine Aussagen muß, ungeachtet eventueller Widersprüche, die aus der Heterogenität der Überlieferungen resultieren, geglaubt werden; Schrift- bzw. Buchreligionen sind daher auch Offenbarungs- und diese wiederum stets Glaubensreligionen, denn die Offenbarung kann als einmaliges, vergangenes Ereignis nicht unmittelbar erlebt, sondern nur aus dem heiligen Text rekonstruiert werden. Das Heidentum hat demgegenüber keine Offenbarung nötig, da es im „Buch der Natur“ liest.
Im Gegensatz zu den Glaubensreligionen handelt es sich beim Heidentum also um eine Erfahrungsreligion.8 Diese Bestimmung ist allerdings nur näherungsweise zu verstehen: In dem Maße, in dem die Erfahrung des Religiösen auch in heidnischen Kulturen institutionell verwaltet wird, unterliegt sie einer Transformation durch glaubensreligiöse Elemente, und umgekehrt hat auch die christliche Glaubensreligion auf die Elemente unmittelbarer Erfahrung nicht verzichten können; besonders die üppigen Kultpraktiken der katholischen wie der orthodoxen Kirche sind hier zu nennen, aber auch die musikalische Tradition des – sonst eher an das rational durchdachte, individuelle Bekenntnis appellierenden – Protestantismus. Auch der Glauben kommt also nicht ohne Erfahrung aus, und es gibt im Christentum echte religiöse Erfahrung, nur wird diese überformt und verfremdet.
Solche Mischungen ergaben sich also teils aus archetypischen und existentiellen Gegebenheiten, teils lagen ihnen auch pragmatische Erwägungen während der Missionszeit im frühen Mittelalter zugrunde: So hat Papst Gregor der Große um 600 die Anweisung erteilt, heidnische Kultstätten nicht grundsätzlich zu zerstören, sondern umzuwidmen, und auch die dort gepflegten Rituale nicht zu verbieten, sondern im christlichen Sinne neu zu interpretieren – etwa so, daß man Opfertiere nicht schlachtet, um sie den Göttern zu opfern, sondern um sie, nach einem Dank an den Schöpfer, selbst zu verspeisen. Langfristig war diese Strategie erfolgreicher als die (von Gregor ebenfalls vorangetriebene) Mission mit Feuer und Schwert; sie knüpft in gewisser Weise an die behutsame, heute würde man sagen „kultursensible“, Missionspraxis der iro-schottischen Mönche in Süddeutschland an, wo der Katholizismus dauerhafter verankert werden konnte als im Norden und Osten. Bekanntlich wurde unter den Sachsen das Christentum von Karl dem Großen in blutigen, selbst von zeitgenössischen Chronisten als ungewöhnlich grausam beschriebenen Kriegen durchgesetzt, und unter den slawischen und baltischen Bewohnern des späteren nordöstlichen Deutschland wurde diese Praxis im Hochmittelalter fortgesetzt. Von daher verwundert es nicht, daß sich vornehmlich in diesen gewaltsam missionierten Gebieten der Protestantismus einige Jahrhunderte später als Opposition gegen die noch immer als traumatisch bedrückend empfundene Macht der katholischen Kirche ausbreitete.
Der Glaubenskrieg führte langfristig zum Gegenstoß, aber auch die „Aufpropfungsstrategie“ Papst Gregors war nicht unproblematisch. Zwar wurden die Heiden christianisiert, aber das Christentum in mancherlei Hinsicht auch paganisiert. Vielleicht lag darin jedoch auch eine erfahrungsreligiöse Vertiefung des Christentums, ohne die es sich im Abendland niemals hätte verbreiten können?
Was aber ist unter Erfahrungsreligion bzw. religiöser Erfahrung im allgemeinen zu verstehen?
Der Philosoph Reinhard Falter beschreibt die „Götter der Erfahrungsreligion“ als „Grundqualitäten oder Grundcharaktere der Welt, die in der Psyche ebenso wie in der Natur erscheinen. Apoll und Dionysos, Athene und Hermes sind ergreifende Atmosphären. Mythische Rede ist gekennzeichnet durch Anerkennung der Atmosphären als Wesenheiten […].“9 Ähnlich, wenn auch mit einer polemischen Spitze gegen das Christentum, bezeichnet Fritz Steinbock das Heidentum „im Gegensatz zu autoritären Offenbarungslehren, die nur blind geglaubt werden können“, als „Erfahrungsreligion, die statt auf Glauben auf die lebendige Begegnung mit den Göttern setzt. Diese Begegnung kann auf vielerlei Weise geschehen: im Erleben der Natur um uns und der ‚Natur, die wir selbst sind’, in persönlichen Visionen und in kollektiven Erfahrungen, die uns Mythen und Traditionen mitteilen, an heiligen Plätzen und Kraftorten, in Ausnahmefällen oder ganz unerwartet im täglichen Leben.“10
Beide Autoren stehen in einer Tradition, die im zwanzigsten Jahrhundert durch Denker wie Carl Gustav Jung, Ludwig Klages, Martin Heidegger, Mircea Eliade, Kurt Hübner oder Hermann Schmitz repräsentiert wird. Falters Begriff der „Grundcharaktere“ verweist auf die Archetypenlehre C. G. Jungs, und seine Bezugnahme auf „Atmosphären“ knüpft an Klages’ „Lehre von der Wirklichkeit der Bilder“11 sowie an Schmitz’ Neue Phänomenologie an. Gemeinsam ist all diesen Autoren ein antikonstruktivistischer Grundzug: Sie gehen von einer Sphäre des Religiösen aus, die wirklich existiert und – in einer Haltung der Offenheit – zumindest zeitweise erfahrbar ist. In der Vergangenheit vollzog sich diese Erfahrung vor allem im gemeinsamen Ritual – angesichts von Gottesdiensten, denen der Gottesbezug heute weitgehend abhanden gekommen ist, und der namentlich in protestantischen Kreisen vorherrschenden Beliebigkeit gegenüber religiösen Dingen ist es jedoch verständlich, wenn der Suchende die Kirchen meidet und sich stattdessen in die Einsamkeit der Natur begibt. Vielleicht begegnet ihm das Göttliche dort in stiller Kontemplation, vielleicht aber auch in ekstatischer Trance unter Anleitung eines Schamanen. Eventuell handelt es sich um ein wiederkehrendes Ereignis, womöglich aber auch um eine plötzliche Epiphanie. Mircea Eliade hat in seiner Unterscheidung von heiliger und profaner Zeit vor allem ersteres im Blick: Die heilige Zeit ist die des Urbeginns, der im Ritual immer wieder (nach-)vollzogen wird und, seinem Wesen nach unverändert, wiederkehrt; sie ist die Ewigkeit im Unterschied zum flüchtigen Verfließen der profanen, alltäglichen Zeit, von der wir ständig sagen, daß wir sie nicht haben. Demgegenüber betont Ludwig Klages gerade die sich immerzu wandelnde Zeitlichkeit der lebendigen Wirklichkeit, der die leblose Unveränderlichkeit abstrakter Entitäten und künstlicher mechanischer Dinge entgegenstünde. Kein Augenblick kehre wieder, kein Wesen der Natur gleiche dem anderen, nur der menschliche Geist fingiere abstrakte Identitäten, um sich die Natur zu unterwerfen und die Welt „auf den Begriff zu bringen“. Der Widerspruch zwischen beiden Denkern löst sich allerdings auf, insofern es ihnen um ein ähnliches Erlebnis der Epiphanie geht, um den Einbruch von etwas Göttlichem, dessen Ewigkeit und Außerzeitlichkeit nicht in statischer Beharrung in sich selbst, sondern in seiner qualitativen Differenz zur gewöhnlichen, meist quantitativ unterteilten Realität besteht. Als Urbild bleibt es immer dasselbe, aber seine – allein erfahrbare – Erscheinungsseite ist immer eine andere.
Das Göttliche kann in uns oder außer uns, im Mikro- oder Makrokosmos, erlebt werden, weil den gesamten Kosmos dieselben polar beschreibbaren Qualitäten durchwalten: Solche Urpolaritäten sind etwa diejenigen von Verdichtung und Verflüchtigung, Zusammenziehung und Ausdehnung, Teilchen und Welle, Raum und Zeit, Materie und Dynamik, weiblich bergendem und männlich schweifendem Wesen und so fort. Wahrscheinlich liegt im Rätsel der Zeit das eigentliche Urphänomen des Göttlichen beschlossen – die Zeit ist das hervorbringende, schöpferische Agens der Welt, aber sie bedarf ihres räumlichen Gegenspielers, um sich zu manifestieren.12 Vielleicht können wir den oben angedeuteten Gegensatz zwischen einem „Gott“ bzw. Göttlichen13 und der Vielheit der Götter dahingehend auflösen, daß wir das allen Göttern gemeinsame Göttliche als zeitlichen Aspekt und die Götter als dessen Verräumlichungen, als Archetypen des Raumes, fassen. Die Götter konstituieren alle gemeinsam den Kosmos, und dieser wird belebt durch das Göttliche.
Der Begriff des Kosmischen verweist uns auf die letzte Dichotomie zwischen Heidentum und (christlich-jüdisch-islamischer) Offenbarungsreligion, die wir hier hervorheben wollen: auf diejenige von Kosmozentrismus und Theozentrismus, die in neuerer Zeit Jan Assmann untersucht hat. Die Götter sind Teile oder Aspekte des Kosmos; die Sonderform des Gottes der abrahamitischen Religionen steht hingegen außerhalb der Welt – er ist das „ganz Andere“ und „Absolute“, über das wenig mehr gesagt werden kann, als was es alles nicht ist. Gott ist ein „lauteres Nichts“ in der Sprache der Mystik, und aufgrund seiner Bestimmungslosigkeit fallen in ihm, in Hegelscher Dialektik, Sein und Nichts zusammen. Aus dieser Orientierung an einer bild- und gestaltlosen Transzendenz ergibt sich das mosaische Bilderverbot, das sich gegen die Heiligkeit und Faszination des Kosmos richtet.
Viel gibt es hingegen von den Göttern der kosmozentrischen Erfahrungsreligionen zu erzählen. Die Mythen der Völker sind voller Berichte vom Wesen und Handeln der Götter, und ihre berückende oder verstörende Schönheit inspiriert die Künstler seit Urzeiten. Die erste und ursprüngliche Tätigkeit der Götter war stets die Ordnung des Kosmos (nicht aber dessen Schöpfung aus dem Nichts), der durch sie erst vom Chaos in ein gegliedertes Ganzes verwandelt wurde.
In der Lieder-Edda berichtet das Vafþrúðnismál davon, wie Odin, Vili und Ve nach der Tötung des Urriesen Ymir aus dessen Körperteilen Himmel und Erde erschufen:14
Aus Ymirs Fleisch
ward die Erde geschaffen,
aus dem Gebein das Gebirg,
der Himmel aus dem Schädel
des schneekalten Riesen,
die Brandung aus dem Blut.
Und die Völuspá belehrt uns über die Einsetzung der kosmischen Ordnung durch die Götter:15
Zum Richtstuhl gingen
die Rater alle,
heilge Götter,
und hielten Rat:
für Nacht und Neumond
wählten sie Namen,
benannten Morgen
und Mittag auch,
Zwielicht und Abend,
die Zeit zu messen.
Der Bezug der Götter zum Kosmos in der gesamten indoeuropäischen Mythologie ist offenkundig. Hesiod hat die ersten Göttergenerationen in seiner Theogonie explizit mit kosmischen Bereichen, etwa Gaia (Erde), Himmel (Aether) und Meer (Pontos), gleichgesetzt; in der nordischen Mythologie bestehen die Teile der Welt aus den Körperteilen des getöteten Urriesen als „Makanthropos“ und erhalten von den Göttern ihren jeweiligen Ort zugemessen. Auch diese selbst haben in der Mythologie der Edda ihren je eigenen Sitz, ihr „Heim“, am Himmel, und das gesamte Universum wird von der Weltesche Yggdrasil als kosmischer, am Polarstern gipfelnder Achse gegliedert.16 Unterschiede etwa zwischen der griechischen und der germanischen Mythologie ergeben sich aus der verschiedenen Gewichtung des Zeitlichen: Während den Griechen der Kosmos als dauerhaft von den Göttern geordnet erschien, glaubte der Germane an das drohende Ende des gegenwärtigen Weltalters und den Untergang der herrschenden Göttergeschlechter, die der Hilfe des Menschen im Kampf gegen die Mächte des Chaos bedürfen. Letztlich wird dieser sich als aussichtslos erweisen, aber auf die Vernichtung wird eine kosmische Erneuerung folgen, die als Beginn eines neuen Zyklus, nicht aber als ein der biblischen Apokalypse analoges Prinzip anzusehen ist, wie diejenigen Interpreten meinen, die jedes Mythologem der Edda auf christliche Einflüsse zurückführen möchten. Da auch im indischen Kulturkreis von Tod und Wiedergeburt der Götter sowie von einer zyklischen Folge immer kürzerer, niedergehender Weltalter ausgegangen wird, hat die nordische Mythologie das indoeuropäische Erbe womöglich noch ursprünglicher bewahrt als die reicher erhaltene griechische.
Die Verbundenheit der Götter mit dem Kosmos und dessen „Sphären“ sowie mit den irdischen Landschaften als deren Entsprechungen verdeutlicht, inwiefern das Heidentum auch immer eine Naturreligion war und ist. Dieser Begriff ist allerdings nicht auf seine pantheistische oder monistische, von der Aufklärung geprägte Bedeutung zu reduzieren; im Sinne einer modernen Intellektuellenreligion bezeichnete er oft nur das Bestreben, den Glauben an die Naturwissenschaften mit einem religiösen Gefühl zu verbinden. Demgegenüber ist festzustellen, daß die heidnische Auffassung der Welt mit der naturwissenschaftlichen zwar vereinbar, aber doch von dieser verschieden ist. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Perspektiven, eine „ganzheitlich“-qualitative und eine partikular-zergliedernde. Die Haltung des (natur-)religiösen Menschen der Welt gegenüber ist mit der – freilich etwas reduzierteren – ästhetischen Einstellung des Betrachters eines Kunstwerks, z. B. eines Gemäldes, vergleichbar – der Naturwissenschaftler hingegen wird, wenn er etwa ein Chemiker ist, das Gemälde im Hinblick auf die Zusammensetzung seiner Farben analysieren. Keine der beiden Zugangsweisen ist per se falsch; das Beispiel hinkt allerdings etwas, da wir die chemische Analyse eines Gemäldes selbstverständlich nicht als Erfassung seines künstlerischen Gehaltes ansehen, während hier lediglich die unterschiedlichen Bezugnahmen verdeutlicht werden sollen. Natürlich kann – und sollte – ein Betrachter danach streben, möglichst viele verschiedene Perspektiven einzunehmen, woraus größere Objektivität erwächst; er wird jedoch niemals alle Perspektiven oder einen absoluten Standpunkt einnehmen können, aus der sich sein Erkenntnisgegenstand zur Gänze offenbart. Uns sind immer nur unsere jeweiligen Perspektiven gegeben, die weiter oder enger sein können, woraus jedoch kein Relativismus, Subjektivismus oder Nihilismus folgt, denn es handelt sich immer um unsere Bezugnahmen auf einen Ausschnitt der Welt selbst in ihrer von den einzelnen Göttern archetypisch durchwalteten und gegliederten Mannigfaltigkeit. Der Vorwurf, Naturreligion habe sich im Zeitalter der Naturwissenschaften überlebt, da wir die Welt heute besser verstehen und exakter beschreiben als früher, geht insofern daneben, als der naturreligiöse Mensch nicht z. B. die Erde oder die Sonne als solche, sondern ihre Qualitäten verehrt: das Hervorbringende, Tragende und in sich Zurücknehmende bzw. das Licht und Leben Spendende, das „unsere“ Himmelskörper im Sonnensystem für uns repräsentieren, in anderen Teilen des Universums aber auch durch andere Planeten und Gestirne ausgefüllt werden könnte. Es ist daher auch völlig verfehlt, etwa zu behaupten, Menschen früherer Zeiten hätten sich die Sonne als von Pferden auf einem Wagen gezogen vorgestellt, weil sie es nicht besser wußten. – Wir glauben heute ebensowenig, daß der elektrische „Strom“ aus Wasser besteht, weil wir mit diesem Begriff auch große Flüsse bezeichnen! In beiden Fällen wird eine qualitative Erscheinung – die Bewegung der Sonne oder das Strömen des „Stromes“ – durch eine entsprechende Metaphorik angedeutet: Pferde repräsentierten dem Menschen der Bronzezeit Bewegung und Geschwindigkeit so wie uns noch immer das Wasser als Inbegriff des Strömenden gilt.
Der Begriff „Naturreligion“ impliziert, die Welt als eine am besten in bildhaft-mythischer Rede zu beschreibende, schöne und sinnerfüllte Ganzheit zu betrachten, zu der auch der Tod – als „Kunstgriff“ der Natur, „viel Leben zu haben“ (Goethe) – gehört. „Ganzheit“ heißt, daß die Welt nicht auf ein Jenseits bezogen ist, nicht von einer Transzendenz unendlich überstiegen wird, sondern daß das Göttliche in seinen Ausfaltungen in ihr enthalten ist und daß letztlich nichts in ihr verlorengeht. Alles transformiert sich fortwährend, ist Wandel und Übergang, und jeder Zustand wiederholt einen früheren, ohne ihn doch identisch abzubilden; vielmehr stellt jeder Zyklus eine fortwährende Erneuerung und Verjüngung dar. Nicht der Kreis als Symbol der Wiederkehr des Immergleichen noch gar die Linie als Wegstrecke vom Sündenfall zum zukünftigen Reich Gottes, sondern die Spirale als Figur einer Wiederkehr auf „höherer Stufe“ veranschaulicht die Zeitauffassung heidnischer Naturreligion.17 Alles Existierende wird also im dreifachen Sinne „aufgehoben“, d. h. beendet, bewahrt und erhöht. Der Heide „findet genügend Trost in der Vorstellung, daß er in das ewige ‚Stirb und Werde‘ der göttlichen Natur eingebettet ist,“18 schreibt Kurt Oertel in einem Aufsatz über die Jenseitsvorstellungen verschiedener Religionen, in dem er den Wiedergeburtsglauben, dem viele heutige Heiden anhängen, als konstitutiv für das Heidentum zurückweist. Seiner Auffassung nach besteht darin nur ein Konzept moderner Esoterik, die indische Glaubenslehren, durch die Theosophie vermittelt, übernommen und trivialisiert habe. Dem Inder erscheine die Wiedergeburt hingegen als ein leidvolles Verhaftetsein an die Welt, nach dessen Überwindung man streben solle. Zudem lasse sich ein Wiedergeburtsgedanke anhand der Zeugnisse des europäischen Heidentums nicht hinreichend belegen; die einzige Art von „Wiedergeburt“, die diese – zumal im nordisch-germanischen Kulturkreis, etwa in den isländischen Sagas – belegten, sei die Wiederverkörperung des Ahnen in seinen Nachfahren, was sogar zu dessen Lebzeiten geschehen könne. Offenbar handelt es sich dabei also um eine Erneuerung charakteristischer Eigenschaften, deren Gesamtheit Römer und Griechen als genius bzw. daimon eines Geschlechtes bezeichneten.
Dem stehen jedoch die Äußerungen antiker Autoren über einen Wiedergeburtsglauben bei den Kelten entgegen, und auch die eddischen Überlieferungen, die von (schamanischen?) Reisen der Götter in das Totenreich und einer Wiederkehr aus diesem oder von der Rückkehr des getöteten Balder aus der Unterwelt zu Beginn einer neuen Erd-Epoche sprechen, lassen sich im Sinne einer Wiedergeburt deuten. Es bleibt aber fraglich, wie diese verstanden wurde, und Oertel ist zuzustimmen, daß die Idee der Neueinkörperung einer individuellen Seele in einen neuen Körper nicht zu einer Kultur paßt, die noch von ganz anderen, mehrschichtigen Seelenbegriffen, von unterschiedlichen Seelenteilen oder Seelenaspekten, ausging.
„Wiedergeburt“ kann jedoch auch ganz anders verstanden werden: nämlich als Fortsetzung dessen, was im letzten Leben beendet wurde. Diese Auffassung entspricht sowohl der des (ursprünglichen) Buddhismus als auch, im Westen, derjenigen etwa von Guido von List.
Das erfahrungs- und naturreligiöse Grundprinzip, „daß nichts verloren geht“, bedeutet, daß sich zwar das einzelne in seine Bestandteile auflöst, diese aber in neue Zusammenhänge eingehen. Alles verbleibt innerhalb eines Kontinuums. Für die geistig-seelische Welt gilt das gleiche: Kein Gedanke kann völlig verschwinden, da er wieder andere Gedanken hervorbringt und das Geistige wie das Körperliche in seinen Wirkungen fortlebt. Das so oft mißverstandene Prinzip des Karma (Tat) bezeichnet genau dieses (und nicht etwa eine geheimnisvolle, verborgene Macht). Jede Tat bewirkt neue Taten, jeder Gedanke steht in Kontinuität zu weiteren Gedanken, und da Geistiges und Körperliches zwar verbunden, nicht aber aufeinander reduzierbar sind, wirkt letztlich auch alles Geistige, trotz des Todes seines körperlichen „Trägers“, unendlich fort. Die Vorstellung, daß jedes Leben nach dem Tod seine ihm gemäße Fortsetzung findet, so daß der eine etwa in Walhall einkehrt, der andere zur Hel hinabfährt, bringt dieses Prinzip bildhaft zum Ausdruck. Das Urphänomen von „Stirb und Werde“ wurde und wird immer wieder neu interpretiert, und da Heiden, wie oben angedeutet, nicht darauf angewiesen sind, ein „heiliges Buch“ als wörtlich gültige Wahrheit anzuerkennen, müssen sie sich nicht auf eine einzige Interpretation festlegen.
Die Spirale dreht sich weiter, kreist in sich und erneuert sich, und auch dies ist nur eine Interpretation.
1 Adolf Hitler: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Ausgabe, München 1943 (851. bis 855. Aufl.), S. 395 f.
2 Unter den neueren germanisch-heidnischen Vereinen in Deutschland sind besonders der VfGH („Verein für Germanisches Heidentum“), gegründet 1995 unter dem Namen „Odinic Rite Deutschland“ (ORD) als Ableger des britischen „Odinic Rite“, von dem er sich mittlerweile getrennt hat, und der 2000 gegründete „Eldaring“ zu nennen; sehr einflußreich ist der „Rabenclan“, der vor allem die politische Denunziation anderer Heiden als „rechtsextrem“ betreibt. Alte, traditionsreiche heidnische Vereine sind die seit 1951 bestehende „Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung“ und die „Germanische Glaubens-Gemeinschaft“ (GGG), deren Wurzeln bereits vor dem Ersten Weltkrieg liegen (das genaue Gründungsjahr – 1912 oder sogar schon 1907 – ist umstritten). 1964 wurde die GGG im Vereinsregister gelöscht, 1991 aber von Géza von Neményi wiederbegründet. Großen Einfluß unter den traditionellen, noch von der heidnischen Bewegung der Vorkriegszeit geprägten Vereinigungen hatte auch der an die Guido-von-List-Gesellschaft anknüpfende, von Adolf Schleipfer 1976 gegründete „Armanen-Orden“.
3 Ein Sumbel ist ein ritueller Umtrunk, bei dem man im germanischen Heidentum die Götter preist, der Ahnen gedenkt und Eide oder Gelübde ablegt, das Blót ist dagegen eine reine Opferzeremonie, die die Verbindung mit den Göttern erneuern soll.
4 Fritz Steinbock: Das heilige Fest. Rituale des traditionellen germanischen Heidentums in heutiger Zeit, Hamburg 2004.
5 Zur altjüdischen Gottesvorstellung siehe Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer. Einleitung in das System des Pentateuch, Wiesbaden 2005 (Erstausgabe Berlin 1925).
6 Zum Niederlagendiskurs im allgemeinen vgl. Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865 – Frankreich 1871 – Deutschland 1918, Frankfurt/M. (2. Aufl.) 2007. Zu deutschen Strategien der Niederlagenverarbeitung vgl. Baal Müller: Der Vorsprung der Besiegten. Identität nach der Niederlage, Schnellroda 2009.
7 Carsten Colpe: Die Ausbildung des Heidenbegriffs. In: Die Restauration der Götter. Antike Religion und Neo-Paganismus, hrsg. von Richard Faber und Renate Schlesier, Würzburg 1986, S. 61–87, hier S. 79 f.
8 Wie auch beim Buddhismus (vor allem in seinen ursprünglichen Theravada-Formen), sofern man diese auf Erkenntnis der existentiellen Befindlichkeit des Menschen abzielende Weisheitslehre überhaupt als Religion bezeichnen kann.
9 Reinhard Falter: Natur neu denken. Erfahrung – Bedeutung – Sinn, Klein Jasedow 2003, S. 45.
10 Fritz Steinbock: Das heilige Fest, S. 23. Der österreichische Journalist Fritz Steinbock war, als er dieses Buch publizierte, der für das Ritualwesen zuständige „Ewart“ des „Vereins für Germanisches Heidentum“ (VfGH).
11 Ludwig Klages, einer der Hauptvertreter der Lebensphilosophie, suchte in seinem Hauptwerk „Der Geist als Widersacher der Seele“ (1929–1933) eine „Metaphysik des Heidentums“ zu entwerfen, d. h. die ontologischen Strukturen heidnischen Denkens freizulegen. Zu Klages siehe Reinhard Falter: Ludwig Klages. Lebensphilosophie als Zivilisationskritik, München 2003, und Baal Müller: Kosmik. Prozeßontologie und temporale Poetik bei Ludwig Klages und Alfred Schuler: Zur Philosophie und Dichtung der Schwabinger Kosmischen Runde, Schwielowsee 2007.
12 Zeit und Raum bilden ein polares Gefüge, in dem sich der Kosmos aufspannt. Die Zeit wird nicht durch ein verräumlichendes Denken verfremdet, wie Henri Bergson annahm, sondern die Reduktion des Zeitphänomens ergibt sich aus der Ersetzung der (immer unterschiedlichen) qualitativen Mannigfaltigkeit des Erscheinenden durch das quantitative Einerlei des Meßbaren. Von solcher Verfremdung ist der Raum ebenso betroffen wie die Zeit.
13 Gemeint ist das Göttliche als allen Göttern gemeinsames Wesen. Wenn wir von „einem Gott“ sprechen, sind ansonsten immer auch andere mitgemeint.
14 Die Edda, übertragen von Felix Genzmer. In: Thule – Altnordische Dichtung und Prosa, Bd. 2, hrsg. von Felix Niedner und Gustav Neckel, Düsseldorf/Köln 1963, S. 89.
15 Ebd., S. 36.
16 Eingehend zur Kosmologie der Edda: Otto Sigfrid Reuter: Das Rätsel der Edda und der arische Urglaube, 2 Bände, Sontra 1922 und Bad Berka 1923.
17 „Wenn dies nun aber immer so fort ginge ohne Wandel und Wechsel, so würde es weder Fortschritt noch Entwicklung geben, es wäre ein ewiger – unsagbar öder! – Kreislauf, was es aber nicht ist, wohl aber ein aufwärtsführender Spirallauf, gleich einer ‚Wendeltreppe‘, der von den tieferen Ebenen (Zyklen) zu den höheren geleitet.“ Guido von List: Neuzeitliche Einherier. In: Johannes Balzli: Guido von List. Der Wiederentdecker Uralter Arischer Weisheit. Sein Leben und sein Schaffen, Leipzig 1917, S. 116–124, S. 121. Bereits Goethe hat die Spirale als Symbol des Lebensgesetzes angesehen.
18 Kurt Oertel: Von den Beschwernissen der letzten Reise. In: Heidnisches Jahrbuch (3/2008), hrsg. von Daniel Junker und Holger Kliemannel, Hamburg 2008, S. 179–220, S. 217 f. Oertel ist im „Eldaring“ als „Bewahrer“ für religiöse Grundsatzfragen zuständig.