Die deutschsprachige Literatur des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts ist voll von konservativ-revolutionären Strukturen, die auf den Ganzheitsverlust in der Kunsttradition reagieren. Wer Literaturgeschichte von der Warte des Fortschritts betreibt, muß solche Spuren übersehen, verkennen oder verwerfen. Einige Beispiele aus Österreich sollen zeigen, wie der Bruch mit der „Moderne“ in die Vergessenheit führte und gerade deshalb, ernst genommen, Fenster zur Revision unserer Wertmaßstäbe öffnet.
Ich weiß, wie Zeit und Tod mit mir verfahren.
Verlassen war ich, jetzt bin ich verkannt.
In trägen, lahmen, lauen Kommentaren
zerbröseln sie den Sturm, den Kampf, den Brand.
Erschütternd kann ein Volk sich offenbaren,
das seinem Schicksal letzte Worte fand.
Ich wollte meinem Land die Sprache wahren
und bin ein düstrer Niemand diesem Land.
Nicht ich ging fort, ich wurde fortgestoßen.
Nicht Trotz mehr, Gram ist meine Einsamkeit.
Und bin ich schuldig, bin ich es im Leiden.
Ich sterbe an der Zeit! An meinem großen
Zugrundegehn hinwieder stirbt die Zeit.
Doch könnt ich Ewigkeit verleihn uns beiden!
Dieses Gedicht schrieb Josef Weinheber (1892–1945) im Herbst 19351; im Dezember darauf wurde es in der Zeitschrift Das Innere Reich erstmals veröffentlicht. Der Dichter war damals wirklich erst vor kurzem, und buchstäblich aus heiterem Himmel, zu Ruhm und Ehre gekommen. Er stand aber schon im 44. Lebensjahr und hatte sein schwer errungenes, den widrigsten Verhältnissen abgetrotztes Reifewerk, das seit etwa Mitte der zwanziger Jahre entstanden war, eine bittere Zeit hindurch fast zur Gänze für die Schublade schreiben müssen. Nun war er plötzlich in aller Munde, seine beiden im Adolf Luser-Verlag erschienen Lyrikbücher, die abendländisch weit ausgreifende Sammlung Adel und Untergang und die volkstümlich-heimatliche, der Mundart zugewandte Sammlung Wien wörtlich, waren Großereignisse der deutschsprachigen Literatur der Jahre 1934/35.
Das zitierte Gedicht formuliert Schlüsselgedanken zu dem Problem, das die folgenden Zeilen anhand einiger Überlegungen und mit einigen wenigen Anschauungsbeispielen näherbringen möchten: Es bekennt die tragische Entfernung, die zwischen „Künstler“ und „Volk“ eingetreten sei (um es mit den Motivworten Weinhebers auszudrücken) – eine doppelte Problematik: Denn dahinter steht das Bild des Künstlers, des Poeten, der ohne diesen Zusammenhang, Zusammenhalt sein Amt nicht verrichten kann, seine Aufgabe nicht zu erfüllen vermag. Weiters macht das Gedicht den damit verknüpften Sprachverlust als Grundübel der Zeit und des Verhältnisses zwischen Kunst, Künstler und Zeit aus (gemeint ist natürlich immer der Dichter). „Sprachverlust“ im tieferen Sinne nämlich: als das Schwinden der Fähigkeit, Sprache als Geheimnis zu lesen, als Symbol für ein höheres Leben, ein tieferes Sein. Für eine Kunstauffassung, die im Kunstschaffen, im Werk der poetischen Sprache zugleich die eigentliche Kraft des Weltschöpfens erblickt, den Prozeß der Gestaltung der menschlichen als einer geistigen Wirklichkeit, zu der alles drängt und von der alles abhängt, für eine solche Auffassung bedeutet ein derartiger Befund über das sprachliche Leben der Zeit eine Katastrophe. Und in letzter Konsequenz sieht sie sich damit an ein Ende gelangt, sie meint vor einer unüberwindbar gewordenen Mauer zu stehen, an der sie nur noch wissend verharren kann: tapfer im „großen Zugrundegehen“, indem sie nicht die Augen davor verschließt, sich nichts vormacht, keine Ausflüchte duldet. Sie verrichtet also, wie es Weinheber in einem anderen Gedicht ausdrückt, gleichsam einen „Dienst im aufgelaßnen Heiligtum“2.
Was aber ist schuld an dieser endzeitlichen Tragik, von der Weinheber überzeugt ist und die er in seinem ganzen Werk bekundet? Was hat dazu geführt? Geht sie auf ein „Bildungsproblem“ zurück, eine schleichende „Bildungskatastrophe“? „Bildung“ dürfte dann freilich nicht im Sinne von „Schulwissen“, von zivilisatorischen Fertigkeiten und dem Vermögen an rationaler (konstruktiver) Intelligenz verstanden werden. Sondern sie müßte vor allem auf ein Sprach- und Formbewußtsein zielen, wie es nur eine gut ausgebildete und gepflegte „anschauliche Vernunft“ (Vorstellungskraft, Phantasie) gewährleistet, ein „Gestaltwissen“ also, das aber nur das Ergebnis eines gesunden kulturellen Ganzen sein kann. Es setzt seelische Empfänglichkeit voraus, es kommt nicht aus ohne ethische Komponenten, eine klare, geordnete Sittlichkeit, und das „Gestaltwissen“ ist immer auch Überlieferungswissen, d. h. es steht in einer „Tradition“, die konkret und figürlich ist, und das bedeutet in der Regel, daß sie einem nationalen Nomos (Herkunftsgesetz) eingeschrieben ist, daß sie mit diesem gewachsen ist.
Nun erscheint jenes Sprach- und Formbewußtsein zerstört: durch die Entstehung von sprachlichen oder bildlichen „Zwischenwelten“, wie sie der Siegeszug der sog. „Medien“, d. h. jener modernen Vervielfältigungs- und Vermittlungsformen hervorbringt, die sich an die Masse richten bzw. diese voraussetzen: die moderne Presse, Werbung, Propaganda, Foto, Film. Mit ihnen vollzog sich in der Zeit Josef Weinhebers, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und zur Mitte des 20. Jahrhunderts hin in stark beschleunigtem Maße der Einzug der massentauglichen Phrase in Wort, Bild und Ton in den Umgang mit Literatur und Kunst, mit den Dingen des schöpferischen Geistes (darauf deutet die Wendung „in trägen, lahmen, lauen Kommentaren …“ in dem zitierten Gedicht).
Und schließlich fällt auf: Weinhebers Befund betrifft ja die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Im Lichte dieses Textzeugnisses datiert also das Verstummen und schließliche Verschwinden jener Kunst, die er – Weinheber – mit stolzer Trauer vertritt bzw. vertreten möchte, nicht selbstverständlich oder jedenfalls nicht vorwiegend aus den politischen Ereignissen und Entwicklungen, mit denen man es gemeinhin und aus zunächst naheliegenden Gründen verbinden würde: mit dem Beginn der „Reeducation“- und „Westernisation“-Prozesse im deutschen Kulturraum seit 1945 zum Beispiel, mit der „Kulturrevolution“ der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, mit den ersten Etappen der erfolgreichen Institutionalisierung des „68er“-Geistes (in Österreich etwa die Waldheim-Jahre 1986/1988) usw. Diese gesellschaftsgeschichtlichen Vordergrundentwicklungen, von denen die mediale Oberfläche unserer Zeit kündet, spielen gewiß eine Rolle für unsere Frage. Ihre Verbindung mit dem Kernphänomen, um das es hier geht, bedarf aber zweifellos der Klärung, eine ursächliche Verantwortung (im Sinne eines Prioritätsrechts) ist bei genauerem Hinsehen wohl nicht zu orten.
In dem angedeuteten Sinne sprach der österreichische Kunsthistoriker Hans Sedlmayr (1896–1984) von dem „Verlust der Mitte“, welcher in der bildenden Kunst des Abendlandes zu unserer Zeit hin stattgefunden habe. Sein berühmtes und heftig umstrittenes Buch mit diesem Titel erschien erstmals 19483; es ist allerdings – auch das ist bezeichnend – im wesentlichen schon vor 1945 entstanden. Seine Gedanken wurden jedenfalls zweifellos unter dem Eindruck entwickelt, an einem entscheidenden Wendepunkt zu stehen, in einer Zeit der kulturellen Entscheidung zu leben. Sie seien hier, stellvertretend und andeutungsweise, herangezogen, soweit sie sich für einen auch auf die Literaturgeschichte anwendbaren Befund verallgemeinern lassen. Dabei sollen sie für eine Reihe weiterer, auch heute noch oder gerade heute wieder höchst lesenswerter kulturkritischer und philosophischer Streitschriften sprechen, die sich damals, in den vierziger und fünfziger Jahren, mit der allgemein verbreiteten Erfahrung des sich immer deutlicher abzeichnenden grundstürzenden Traditionswandels in Mitteleuropa auseinandersetzten.4 Diese Schriften atmen einen sehr ernsthaften, tiefschürfenden und vor allem auch handlungsfähigen deutschen Konservativismus, wie wir ihn heute überhaupt nicht mehr kennen (aber dringend nötig hätten). Sie alle fassen das Geschehende vor dem Hintergrund der Moderne in der Kunst tatsächlich als einen „Hiatus“ auf, mithin als eine wirkliche Unterbrechung des kulturell Gewachsenen, gestalthaft Gewordenen. Sie sehen es als einen Abbruch an, über dessen Dauer oder gar Endgültigkeit zwar noch zu befinden sei, dem jedoch allemal die Tendenz zu einem nicht nur vorübergehenden, sondern vollständigen Traditionsbruch innewohne. Sie versuchen, dieses Ereignis von seinen Ursachen und Ausprägungen her zu deuten und verbliebene gegenläufige Handlungsspielräume abzustecken.
Mit dem Begriff der „Mitte“ ist bei Sedlmayr gemeint, daß die Welt der Kunst traditionell einem Ganzen verpflichtet sei, das religiös definiert und durch einen gemeinschaftlichen Kultus in selbstverständlicher („organischer“) Weise geformt erscheint. Sowohl das Kunstschaffen als auch die Kunstwahrnehmung sind in dieses Ganze mehr oder minder fraglos eingeordnet. Nach „Oben“ und nach „Unten“, zum „Göttlichen“ wie zum „Dämonischen“ hin hält das Menschenbild solcher Kunst ein Verhältnis des wissenden Gleichgewichts, das sich über seine metaphysische Verantwortung nach beiden Richtungen im klaren ist. Daß diese Ordnung vorstellungsmäßig auch mit einer gewissen ethnischen und territorialen „Integrität“ – einer überschaubaren nationalen Überlieferungskontinuität – verknüpft ist, daß ihr trotz ihres anderen Ranges auch eine Art Volks- und Heimatbewußtsein – also das Bewußtsein des Eigenen gegenüber dem Fremden – notwendig angehört, sei nur am Rande hinzugefügt.
Die Kunst der Moderne wird für Sedlmayr hingegen wesentlich dadurch charakterisiert, daß sie aus dem allgemeinen Gültigkeitsverlust dieser religiös-kultischen Maßstäbe entspringt; sie wird also ex-zentrisch (hat ihr Zentrum, ihr Gleichgewicht verloren). Und auch der Künstler selbst begreift sich nicht mehr als Diener des (überlieferten) Ganzen. In der modernen, aufgeklärt-säkularen Welt ist der einzelne Träger der Kunstausübung in mehrfacher Hinsicht halt-los geworden, er verliert – buchstäblich und im übertragenen, gesellschaftlichen Sinne – seinen „Stand“. So muß er sich veränderte Rollen erringen und neue „Ganzheiten“ suchen – individuelle, kollektive, dem modernen Einzelgängertum oder der modernen Masse entspringende, jedenfalls meist rasch wechselnde. Er tut dies mit einer bislang ungekannten, erst aus dem Verlustgefühl entspringenden Kraft. Die moderne Kunst bezieht ihre Dynamik also sozusagen aus dem klaffenden Spalt, dem Leerraum, aus der Rat- und Ruhelosigkeit, die jener Verlust hinerläßt. Sie gelangt zu ihren immer neuen individuellen Höhenflügen gerade durch ihn, fällt aber durch ihn auch, gleichsam als Wechselspiel – und im geschichtlichen Verlauf in zunehmender Weise – bloßen Moden anheim. Sie mißrät zu Gesten und Posen, ihr Reiz beschränkt sich auf „Tricks“ und „Schocks“. Sie vermag keinen in sich ruhenden Gesamtstil mehr zu schaffen – der ja ein von der gesamten Kultur getragenes Kunstwollen voraussetzte. An die Stelle von „Werkstätten“ und „Schulen“ als Fortpflanzern und Ausformern des überlieferten Kunstwissens ist eine zum Beliebigen tendierende Stilvielfalt getreten, ein immer willkürlicheres Neben- und Miteinander widerstreitender Formen, Techniken und Symbole. Das Metaphysikum aber, also die Fähigkeit des Ästhetischen zum „Geheimnis“, zum „Rätsel“, tragen die Dichter und Künstler noch durch weite Entwicklungsstufen der Moderne – und sei es auch noch so stark verwandelt gegenüber seiner Erscheinung in vormodernen Epochen.
Heute freilich erscheint es – soviel darf man wohl sagen, ohne sich allzu grober Vereinfachung zeihen zu müssen – auf ein diesseitig Psychisches und materiell Soziales herabgebrochen. In letzter Konsequenz ist Kunst hier zu einem politisch-sozialen „Statement“ zusammengeschrumpft. Damit hat sie zwar funktional wieder „Anschluß“ gefunden (und materiellen Wert gewonnen, wie der Kunstmarkt zeigt), aber ihre ureigentliche Berechtigung verloren: Ebenso geheimnis- wie gefahrlos („postmoderne“ Langeweile), zeigt sich die von unserer Gesellschaftsordnung geduldete und gepflegte Kunst, jedenfalls nach außen, überhaupt nicht mehr auf eine höhere Ordnung des Maßes und der Mitte angewiesen. Diese ist in ihr einfach ab-wesend. (Wobei man vielleicht einräumen muß, daß der Eindruck, hier sei etwas zu Ende gelangt, es habe sich totgelaufen, auf die bildenden Künste, die Architektur ganz entschieden eingeschlossen, ein gutes Stück eher zutrifft als noch auf die Literatur.) Die „Mitte“ in der Kunst und in der Kultur repräsentiert den menschgemäßen Unterschied zwischen Unten und Oben. In der Kunst der fortschrittlichen Moderne ist dieser Unterschied eingeebnet, und das bedeutet: Sie hat sich ganz auf das „Untere“ zurückgezogen.
Natürlich muß man sich bewußt halten, daß Sedlmayrs „Mitte“ eine Figur beschreibt, die immer erst durch ihre Abwesenheit Gestalt und Bedeutung gewinnt. Nur eine Epoche, die die „Mitte“, das „Maß“ vermißt oder bedroht sieht, der sie zum „Problem“ geworden ist, wird sie überhaupt thematisieren, sich begrifflich und motivisch mit ihr auseinandersetzen. Wichtig ist nun, daß der eigentliche Beginn dieses Prozesses für Sedlmayr von einem Vorgang herrührt, mit dem sich die heute so selbstverständliche, als reiner Topos gar nicht mehr problematisierte „Autonomie“ des Künstlers und des Kunstwerks als Leitidee erst herstellt: Das geschieht im Zuge der fortschreitenden Aufklärung (ideengeschichtlich gesprochen), an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert; für die Literatur: mit dem Anbruch der „Goethezeit“ (der Genieepoche). Zu diesem Zeitpunkt der neuzeitlichen Kulturgeschichte des Abendlands wird ein völlig neuer Typus des Künstlers geschaffen. Es ist der große Außenseiter, der leidende, irrende, an der Um- und Mitwelt verzweifelnde Künstler, der sich in eine gleichsam existenznotwendige Isolation von der Gesellschaft begibt, um schaffen zu können.
Seine gesellschaftliche Entsprechung findet dieser neuer Charaktertypus in der allmählichen Entstehung einer städtischen Intellektualität. Übrigens ist paradoxerweise auch der literarische „Markt“ ein Produkt des Kunst- und Literaturbegriffs, der sich in diesem Sinne gewandelt, von dem Hintergrund der Erbauung, Belehrung und Verehrung abgelöst und verselbständigt hat. Das gleiche gilt für den sog. literarischen „Betrieb“, der diesem Markt zuarbeitet. In der Zeit Weinhebers nun, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erhebt diese Schicht der Intellektualität ihren antibürgerlichen Lebensstil und die krisische Lebenshaltung bereits zusehends zum Selbstzweck. Der „Betrieb“ hat sich zur Routine entwickelt und feste, beinahe unüberwindbare, unhintergehbare Systemstrukturen entwickelt. Kunst, Literatur, die sich auf dieses Milieu stützt, auf es angewiesen zeigt, kultiviert natürlich das „Inseldasein“. Uns heute gilt dies gleichsam als „selbstverständlicher“ Bestandteil unserer auch innerlich am Urbanen als Leitmodell ausgerichteten Gesellschaft. Jedoch erklären sich aus den großen und grundlegenden Konflikten, aus denen dieser Zustand gesprossen ist, die lebensreformatorischen Bemühungen, die schon die Anfänge und Aufbrüche der literarisch-künstlerischen Moderne begleiteten. Sie treten auch in der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts wieder als Korrektive oder mehr oder minder prägnante Gegenströmungen in Erscheinung (bis hin zu dem weitverzweigten Feld der sog. Heimatkunst und der programmatischen Antimoderne).
Aus dem Gesagten würde aber folgen: Erst auf der Grundlage, unter der Voraussetzung eines bedeutend längeren – weitgehend aus hausgemachten Quellen gespeisten – Prozesses konnte zustande kommen, was im späten 20. und im frühen 21. Jahrhundert in einen Zustand mündet, in dem ein Volk die eigene Geschichte und Kultur mit einer noch wenige Jahrzehnte zuvor als „fremd“ empfundenen zu vertauschen bereit ist, ja sie bereitwillig und weitgehend bedenkenlos schon durch eine neue Konglomeratkultur ersetzt hat. Dieser Vorgang aber reicht dann bis in die alltäglichen vergegenwärtigenden und erinnernden Orientierungsprozesse hinein. Er hat also eine neue „Identität“ konstruiert bzw. die eigene „Identität“ weitgehend unbemerkt umgeschrieben. Verkörpert wird sie durch die für alle vom „westlichen“ Modell beeinflußten Spätzivilisationen taugliche amerikanische Populärkultur, die eben auch eine polpuläramerikanische Erinnerungsidentität einpflanzt (etwa wenn junge Österreicher und Deutsche in der U.S.-amerikanischen Geschichte weit sicherer und unbekümmerter zuhause sind als in der eigenen, oder wenn sich die Kunst- und Wortanteile bei ganz gewöhnlichen Festen und Feiern und in vielen Ritualen des alltäglichen Lebens breiter Schichten weitgehend aus der englischsprachigen „Globalkultur“ speisen).
Der Befund vom „Verlust der Mitte“ schmälert nicht die Richtigkeit des Eindrucks, daß im deutschen Kulturraum, bedingt durch die totalitären Experimente, die Kriegs- und Nachkriegskatastrophen, die Dämme früher und rascher brachen als anderswo im alten Europa. Er soll aber den Glauben an die Bedeutung der einschlägigen politischen Zäsuren und Lagerkonflikte für die literarische Kanonentwicklung im 20. Jahrhundert zugunsten einer kunst- und kulturhistorischen Gesamtbetrachtung ein wenig relativieren.
Daß die kulturkritische Gedankenfigur, die Sedlmayr entfaltet, um Vorstellungen und Motive kreist, die in das zentrale Problemgefüge des verworrenen 20. Jahrhunderts greifen, wird dadurch bewiesen, daß sie, in vielerlei Form und Verwandlung vorweggenommen oder angesteuert, an wichtiger Stelle Eingang finden in die deutschsprachige Dichtung der Kriegs-, Bürgerkriegs und Wirtschaftskrisenjahrzehnte. Bei Josef Weinheber, auf den wir uns eingangs berufen haben, ist der „Mensch der Mitte“ – in auffälliger Parallelität zu Sedlmayrs Zeitdiagnose – ein Leitmotiv der Lyrik der dreißiger und vierziger Jahre, um das sich eigentlich der größte Bereich der in seinem Werk niedergelegten Anschauungen gruppiert. Und dies besonders in den späten Jahren, wo er es auch als Gegenstandpunkt zu den inzwischen doktrinär herrschenden Gesinnungen behauptet. Im folgenden sollen noch zwei weitere, durchaus anders geartete Dichter unter diesen Gesichtspunkten kurz berührt werden.
Es sind nun in der Tat solche Dichter, die ihr Weg und die Art und Weise, wie sie sich jenem „Traditionsbruch“ stellen und von ihm schließlich erfaßt werden, zu Vergessenen machte. Daß sie heute kein Publikum mehr haben – oder jedenfalls keines, das nach heutigen Maßstäben zählte und sie zu Größen machte, mit denen man rechnete –, daß sie vergessen oder ins Vergessen gedrängt wurden, das bringt sie uns umso näher, wenn wir nach Alternativen und Auswegen aus unserer gegenwärtigen geistigen Misere suchen und uns von dieser Suche auf die für das Gedächtnis verlorenen Bestandteile unserer Geschichte verwiesen sehen. Wenn wir allerdings heute mit neu erwachtem und noch neu zu erweckendem Interesse von einer deutschen Literatur abseits des Hauptstroms sprechen, die, gegen diesen Strom ankämpfend, zuletzt aber doch vom „Fortschritt“ überschwemmt wurde, so müssen wir vor diesem Horizont immer das Spätzeitliche mitbedenken, das ihr eignet: Wohl wurde sie „Opfer“ der Zeit – sie war aber auch „Kämpfer“ der Zeit mit all den Unwäg- und Fehlbarkeiten, die aus dem Ringen um Antworten auf den erkannten Traditionsbruch geboren wurden. Gerade in der Zuspitzung dieses Ringens – das sie heute oft wieder besonders faszinierend erscheinen läßt – waren die „Opfer“ des Traditionsbruches zugleich immer auch dessen Akteure.
Franz Karl Ginzkey (1871–1963) entstammt einer Familie aus dem Reichenberger Land (Nordböhmen) und wuchs in Pola im altösterreichischen Küstenland auf. Aus einer mutterlosen, von Einsamkeit und Fremdheit überschatteten Kindheit und Jugend heraus zunächst zur Kriegsmarine und danach zum Offizier der k. k. Infanterie erzogen, findet er erst in „Deutschösterreich“ eine wirkliche Heimat, und dort besonders in Wien, in Badgastein und in Salzburg, wo er zunächst schon als ganz junger Fähnrich tätig ist und viel später, nach dem 1. Weltkrieg, als Schriftsteller das geistig-kulturelle Leben mitprägt, u. a. als Mitglied des Gründungskomitees der Festspiele.5
Man berichtet in Wien von einem Habilitationskolloquium, in dem Anfang der achtziger Jahre über eine Arbeit befunden werden sollte, die Franz Karl Ginzkey gewidmet war. Es war, bezeichnend für Lage und Selbstverständnis der Germanistik, eine Studie über „Literatur und Markt“.6 Sie gestand Ginzkey also nur noch sozialwissenschaftliches Interesse zu, während er ihr künstlerisch bloß als „kleinmeisterlicher Autor“ galt. Diesen Widerspruch zwischen geringer literarischer Bedeutung und jahrzehntelanger erfolgreicher Schriftstellerkarriere wollte sie exemplarisch erhellen. Am Ende des damaligen Kolloquiums soll eines der Mitglieder der Kommission, ein später geradezu zum österreichischen Literaturpapst ausgerufener Literarhistoriker, mit polternder Stimme erklärt haben: Er hoffe, hiermit sei nun das Kapitel Ginzkey ein für alle Mal abgeschlossen, dieser unausstehliche Dichter endlich „erledigt“ und „das letzte Wort“ über ihn gesprochen. – Der Mann der neuen Zeit sollte seinen Willen bekommen.
Franz Karl Ginzkey war nun tatsächlich zu seiner Zeit alles andere als ein Übersehener. Sein Schicksal zu Lebzeiten war mithin ein ganz anderes als dasjenige Weinhebers (den er im übrigen sehr schätzte). Er muß als feste Größe der deutschen, namentlich der österreichischen Literatur von etwa 1910 – also noch vom letzten Jahrzehnt der Habsburgermonarchie her – bis in die fünfziger und sechziger Jahre hinein betrachtet werden. Er stand dabei auf Augenhöhe mit Hofmannsthal, Bahr, Stefan Zweig oder Anton Wildgans, mit denen er auch persönlich verkehrte. Das angedeutete Vorurteil unterstellt ihm, er verdanke seine anhaltende Popularität, sein Renommee der Fähigkeit, sich mit einer Literatur der unscheinbaren, harmlosen, aber geschmackssicheren Kultiviertheit geschickt allen Wirrungen und Wandlungen der politischen Geschichte des turbulenten Jahrhunderts anzupassen. Ein „Mann für jede Jahreszeit“ sozusagen, gefragt und geehrt unter dem Kaiser ebenso wie in der jungen Republik, im Ständestaat wie nach dem „Anschluß“ und von neuem in den Jahrzehnten des Wiederaufbaus.
Doch lohnt es sich, solchen Dünkel – der natürlich über das eine oder andere Körnchen Wahrheit verfügt – beiseite zu schieben und sich näher auf das Schaffen dieses Dichters einzulassen. Dann zeigt sich vor allem der sehr ernst zu nehmende Prosaschriftsteller, der Erzähler (mehr noch vielleicht als der Lyriker und Balladiker, der er ebenfalls in reichem Maße war): Hier steht Ginzkey – er bekennt es selbst an verschiedener Stelle – in der Tradition des späten bürgerlichen Realismus, der für Österreich eine sehr bedeutende, bis weit in das 20. Jahrhundert hinein fruchtbare Linie hervorgebracht hat (man denke z. B. noch an Max Mell, Franz Nabl, Otto Stoessl und Emil Ertl). Ginzkey beruft sich auf Adalbert Stifter und nennt neben dem Norddeutschen Theodor Storm und dem Schweizer Conrad Ferdinand Meyer unter den jüngeren Vorbildern vor allem Ferdinand von Saar, von dem er im Aufbau und in der Komposition viel gelernt haben dürfte, und Peter Rosegger, der ihn in jungen Jahren maßgeblich gefördert hat. Es sind vor allem autobiographische Skizzen und Betrachtungen sowie eine Anzahl von höchst bemerkenswerten Erzählungen und Novellen, teils aus der Geschichte genommen, teils in der eigenen Gegenwart angesiedelt, worin Ginzkey diese künstlerische Herkunftslinie in später Zeit behauptet – unter bewußter Ausklammerung solcher Lösungen, wie sie die jener Linie widerstrebenden, mit ihr gewaltsam brechenden Strömungen der österreichischen und deutschen literarischen Avantgarde (z. B. „Jung-Wien“) anbieten.
Wie gesagt: Dieser Dichter ist sich seiner Entscheidung zum ästhetischen Konservativismus sehr bewußt, sie gehorcht weder einem plumpen antimodernen Ressentiment noch entspringt sie kommerziellem Kalkül. Wirklich hält er an dem althergebrachten (klassizistischen) Kunstbegriff fest, demzufolge der Künstler dem Auftrag gehorchen müsse, in seinem Werk als einem Dienst an der Schönheit jene metaphysische „Harmonie“ sichtbar zu machen, die der Welt des Menschen, wenn auch nicht als Schlüssel zur bitteren Realität, so doch als geheimes, inneres Gesetz zugrunde liege. Das Kunstwerk habe der Wiederherstellung jenes ,Gleichgewichts‘ zu dienen, welches das verworrene Dasein, das Ginzkey durchaus in all seinen emotionalen und physischen Anfechtungen und Belastungen anzuerkennen und zu schildern versteht, nicht verrät. Dazu gehören ein entsprechender ,Gleichgewichtssinn‘ beim Dichter, die „Forderung zu beruhigten Maßen“, zu „Sparsamkeit in der Empfindung“, kurz: künstlerischer „Takt“. Diese und die folgenden Zitate entstammen der Rede Aus der Werkstatt des Lyrikers von 19137, aber dieselben oder ähnliche Begriffe kehren an vielen Stellen im Werk Ginzkeys reflektierend wieder: Und es sind durchwegs Begriffe und Vorstellungen, die deutlich machen, daß dieser Dichter sich dem von Sedlmayr bezeichneten Grundproblem stellt und daß er weiß, wie schwer, ja beinahe aussichtslos es in seinen Zeiten geworden ist, gegen die „Gleichgewichtsstörungen“ anzukämpfen, da, wie er selbst schreibt, „weder aus den überlieferten Sicherheiten der Religion [...] noch aus den frei zu wählenden Bewußtheiten der Philosophie“ länger mehr Halt und Stütze zu beziehen seien.
Der Dichter, der sich nach jenem harmonischen Verhältnis zum „Weltganzen“ sehnt, „sieht zuletzt sich durchaus auf sich selbst gestellt“, das weiß auch Ginzkey. Er muß „lernen“, seine „Sehnsucht“ um ihrer selbst willen zu „lieben“, da ihr Erfüllung nicht beschieden ist. Daher findet seine Auffassung ihre notwendige Entsprechung in der „Persönlichkeit“, die der Dichter als Künstler auszubilden habe: Es ist ein bestimmtes Lebensmodell, ein Muster der Lebensführung, in dessen Sinne der Künstler zeitlebens an sich selbst zu arbeiten habe. (Dem Kunstgeist unserer Gegenwart ist eine solche Haltung kulturell so fremd und unverständlich geworden, daß er dafür wohl nur noch Hohn und Verachtung übrig hätte.)
Folgerichtig durchzieht eine Vielfalt von Distanz-, Demuts- und Bescheidungsmotiven – allesamt Figuren der „Mitte“ und des „Maßes“ – die erzählerische Welt des Franz Karl Ginzkey. Es liegt auch nahe, daß er sich, dieser Bedeutung gemäß, besonders der Gattung der Künstlernovelle zuwendet. Auf diesem Feld ergeben sich aus den Distanzierungskonstellationen wunderschöne, eindrucksvolle Leitmotive. Stellvertretend sei hier auf zwei Fälle aufmerksam gemacht: zum einen das Symbol des Zaunes, das in der Novelle Der Wiesenzaun von 19138, einer Geschichte um Albrecht Dürer in der bewegten Lutherzeit, gestaltet ist; zum anderen das Symbol des Spiegels, das in der Gegenwartserzählung Rositta von 19219 zur Anwendung gelangt. Rositta, ebenfalls eine Malernovelle, entwickelt eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des österreichisch-italienischen Verhältnisses unmittelbar vor dem Ausbruch des Weltkriegs. Der immer wieder motivisch in die Geschichte eingreifenden Malerspiegel, ein klassisches Dingsymbol, veranschaulicht die geheimnisvolle Macht, die den verewigenden Kunstprozeß vom wirklichen Leben trennt und das Künstlerschicksal bestimmen muß (welches trotz allem auch über das Eingeboren-Sein in eine konkrete ethnische Heimat nicht hinausgelangen kann).
Franz Spunda, geboren 1889, gestorben 1963, also im selben Jahr wie Ginzkey, ist wie dieser sudetendeutscher Abstammung (deutschmährisch, aus einer Olmützer Schneiderfamilie). Aber fast zwei Jahrzehnte jünger als Ginzkey, schlägt er bereits einen deutlich anderen Weg ein. Fast will es scheinen, als ob Spundas Weg ins Gegensätzliche ginge: dort, bei Ginzkey, der Pfad der Entsagung, dem Stifters „sanftes Gesetz“ vorschwebt, hier, bei Spunda, der Ausbruch in den Irrationalismus, die fieberhafte Vergewisserung neuen Glaubens. Aber bei aller Verschiedenheit entzündet sich doch auch Spundas charakteristisches Schaffen an der Problematik des aus dem Lot geratenen Gefüges der modernen Welt. Auch sein Dichten stellt sich der Frage, wie denn der Mensch in der Kunst auf die Erfahrung des Weltverlusts zu antworten habe, wie es ihm – dank der Kunst – gelingen könne, von neuem Fuß zu fassen: nicht in der bedingungslosen Anpassung an das rasende Rad der Zeit, sondern in der Bemühung um ein Verhältnis zum Zeitlosen.
Spundas Weg führt über eine Gegenposition, die ihn betont antirationale Überlieferungen und Praktiken aufsuchen läßt: Zunächst im brennenden Interesse für magische und mystische Geheimlehren, die einen dem Höheren, Göttlichen geöffneten Lebensinhalt in die graue, einer technischen Vernunft hörige Gegenwart gerettet haben und somit den Keim eines Neuaufbruchs bergen könnten. Spundas sog. „magische Romane“ der zwanziger Jahre – eine Gattung, die er auch theoretisch ausführlich begründet10 – schließen sich einer Strömung an, worin die deutsche Literatur der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts mit der Hinwendung zu grotesk-phantastischen Stoffen und Themen auf die geistigen und gesellschaftlichen Wirren des Zusammenbruchs der alten Ordnung reagierte (einschlägige Werke finden sich etwa auch bei Gustav Meyrink, Karl Hans Strobl und Hanns Heinz Ewers).
Dann aber entwickelt sich aus dieser romanhaften Verarbeitung mystisch-esoterischer Überlieferungen und Erfahrungswelten in einer zweiten Stufe Spundas größere Suche nach dem Mythos. Noch immer kreist die Dichtung Spundas um den Faktor der Exaltation, den seelischen Ausnahmezustand. Dieser entschieden unbürgerliche, d. h. gegen das spätzeitlich Zivilisatorische gerichtete Weg zur Erkenntnis, zur Reinigung und Selbstüberwindung des vom ursprünglichen Geheimnis schon so weit entfernten Menschen führt für Spunda vor allem über die Versenkung in die frühen abendländischen Kulturen an der Grenze zum Osten, das alte, archaische Griechentum, die Spuren der vorhellenischen Zeit (minoische Kultur), die besonderen spirituellen Traditionen der griechischen Orthodoxie. Gegenüber seinen spekulativen schriftstellerischen Anfängen tritt mit der stofflichen Verschiebung immer stärker ein Gedanke hinzu, der das Ringen um Festigung durch den Mythos betont: Indem sich der einzelne Mensch, das moderne Individuum dem Irrationalen aussetzt und diese Erfahrung bewältigt, erscheint es möglich, ihn in eine – neue – geistige „Mitte“ zurückzuführen. In diesem Sinne könne die Menschheit sich an der Lehre der Griechen erneuern, die darin besteht, „Herren gleichzeitig der oberen und unteren Welten zu sein“. Dem elementaren Schrecken des Tierischen („Asiatischen“) gegenüber könne der abendländische Mensch „gar nicht anders als mit griechischen Augen sehen“. „Gott wohnt am liebsten dort, wo er den Dämon niedergerungen“. Somit erschöpfe sich dieses griechische Vorbild beileibe nicht in jener unverbindlichen Formel von „edler Einfalt und stiller Größe“; es bedeutet laut Spunda vielmehr: „gebändigte Kraft, gewaltigstes Menschentum voll innerer Erleuchtung, der Gott im Menschen: das ist wirkliches Griechentum“.11
Das sind, zugegeben, nicht mehr als ein paar Andeutungen, um Spundas Griechenland-Erlebnis zu charakterisieren. Er gestaltet sein zentrales Thema im Roman wie in der Lyrik. Am wichtigsten aber und unter literarischen Gesichtspunkten am wertvollsten erscheinen seine Reisebeschreibungen. 1924 bricht er zum ersten Mal nach Griechenland auf, einer Einladung des berühmten Zeitgenossen Theodor Däubler, eines verwandten Schriftstellergeistes, folgend. Bis an sein Lebensende folgen dreizehn weitere Griechenlandreisen. Von der letzten kehrt der Dreiundsiebzigjährige zum Tode erkrankt zurück; wenige Tage später stirbt er. Spundas erfolgreiche Reisebücher, in mehreren Auflagen und Fassungen vorgelegt, sind halbepisch, das heißt, sie berichten teils autobiographisch erzählend, teils kultur- und kunsthistorisch reflektierend. Ein handelndes und intensiv erlebendes Ich verbindet eine chronologische Struktur und epische Spannung mit gelehrter Betrachtung. Und auf diese besondere Einheit kommt es an! Die Erstausgaben heißen: Griechische Reise“ (192612); Der heilige Berg Athos. Landschaft und Legende (192813); Griechische Mönche (192814).
Immer reist Spunda mit nicht mehr als einem Rucksack als Gepäck, mit der Eisenbahn 3. Klasse, dem Frachtschiff, dann schlägt er sich zu Fuß durchs Land. Der Ich-Erzähler seiner Griechenlandbücher sucht auch keine Genuß- oder Erholungsreise, sondern unternimmt Bildungswanderungen: allerdings solche der inneren Bildung, wovon er sich Erkenntnis und Verwandlung erhofft. Er begegnet einer Welt, die den Tourismus in moderner Form – als Massenphänomen – noch gar nicht kennt und die sich gerade erst an der Schwelle zum technischen Zeitalter befindet. In die Provinzen und an die entlegenen Orte, an denen Spunda die Überbleibsel aus vorchristlicher Zeit aufsucht, ist es noch nicht vorgedrungen. Hier sind über die verstreuten Zeugen des heidnischen Götter- und Heldenkultus Furcht, Scheu und Unverstand des christlichen Aberglaubens gebreitet. Es ist aber diese zeitferne Atmosphäre, die altjunge Landschaft, worin sich das höhere, eigentliche Bildungserlebnis begeben kann. Es gewinnt in Spundas Schilderungen Gestalt aus dem mystischen Zusammenfließen von geschichtlicher Rekonstruktion mit gelehrten Mitteln einerseits und ergriffener Versenkung, Hingebung an den Geist der Gegend andererseits. Daß das vergangene mythisch-kultische Ganze auch durch das Fragmentarische hindurchscheint und seine Bedeutung dem späten Besucher offenbart, gewährleistet erst seine Erneuerung in der dem Gefühl, den Sinnen hingegebenen, oftmals dem Willen enthobenen Erlebnis der Ursprungslandschaft: Auch dies eine Strategie der Überwindung jener von Sedlmayr auf den Punkt gebrachten modernen Verlusterfahrung.
Spundas Ansatz liefert eines von mehreren namhaften Beispielen für einen bestimmten Typus von Dichter, der sich in der Zeit nach dem Zusammenbruch von 1918 der „nationalen Revolution“ annähert, also politisch radikalisiert. Er versteht sein Werk – in dem meist das Erzählerische den Ton angibt – in erster Linie als Arbeit an dem neu- oder umformenden Entwurf einer tragfähigen Weltanschauung und räumt dabei dem gegenrationalistischen, antimodernen Moment eine wichtige Rolle ein (weitere Beispiele sind Erwin Guido Kolbenheyer, Ernst Kratzmann, Hans von Hammerstein, wohl auch Hermann Graedener). Diesen nationalrevolutionären Faktor der ersehnten Umkehr sieht man in einer späteren Phase in der nationalsozialistischen Bewegung, welche im Deutschen Reich schon im Begriffe ist, die Macht zu erlangen, verkörpert, wenn auch nicht grundsätzlich verwirklicht.
Die Vorstellungen und Bemühungen, diese politische Entwicklung beeinflussen, an ihr „mitbauen“ zu können, geben vor allem einen deutlichen Hinweis auf die Vielgestaltigkeit dessen, was sich kulturell und kulturpolitisch unter dem Dach des Nationalsozialismus glaubt versammeln zu können. Diese Funktion, Projektionsfläche zu sein für das breite Feld nationalkonservativer und nationalrevolutionärer Ansätze, das sich in den Krisenjahren der jungen Demokratie auftut, wird von der Hitlerpartei und später auch vom Regime bis zu einem gewissen Grad begünstigt und noch verhältnismäßig lange, wenn auch nur innerhalb bestimmter Grenzen geduldet.
Bei Spunda, wie ähnlich bei vielen seiner schriftstellerischen Weggefährten aus Österreich, folgt die von der Realität ernüchterte, z. T. entsetzte Abkehr von diesem Geschichtsoptimismus schon in der Zeit des „Anschlusses“. In Werken der frühen vierziger Jahre bedient Spunda sich dann Strategien der „Inneren Emigration“, um dieser Entfernung Ausdruck zu verleihen (etwa indem der Autor, väterlicherseits tschechischstämmig, in historischem oder legendarischem Gewand die Frage der Slawenpolitik, des Verhältnisses zwischen Deutschen und Slawen widersprüchlich zur herrschenden Doktrin und Praxis thematisiert).15 Nach dem Krieg entzog ihm die Entnazifizierungsbehörde dennoch sein Lehramt als Gymnasialprofessor in Wien, und sein Gesamtwerk wurde auf den Index gesetzt. Erst 1948 begann er wieder zu veröffentlichen.16
Die jüngere Zeitgeschichtsschreibung stellt solche Fälle deutscher Weltanschauungsdichtung gerne unter ideologischen Generalverdacht. Es spricht gleichwohl viel dafür – und Spundas Beispiel zeigt es –, das plumpe „Seuchenmodell“, zu dem sie uns raten möchte („wenn ein Teil befallen ist, muß man das Ganze entfernen, um eine Ausbreitung zu verhindern“), in der kunstgeschichtlichen Orientierung beiseite zu lassen und mit wachem, offenem Interesse auch an diese Teile unseres literarischen Erbes heranzutreten.
Die hier vorgestellten Teile der deutschen Literaturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts tragen alle den Stachel gegen die Moderne in sich, ohne sich freilich mit blinder Unkenntnis, einer plakativen Verweigerungshaltung zu begnügen. Dieser Stachel aber, so scheint es, ist der wichtigste Beweggrund für die Entwertung, die jene Werke und Dichter durch die Nachwelt – die Kinder- und Enkelkindergeneration – erfahren haben. Wir leben doch in einer Zeit, die sich sehr stark, ja beinahe apodiktisch über die scheinbare Gewißheit definiert, seit damals und gegenüber den damaligen Generationen des eigenen Volkes zum Besseren fortgeschritten zu sein. Sie rechtfertigt sich selbst – moralisch, politisch, kulturell – durch den Gegensatz, das Ganz-anders-Sein, das sie gegenüber der Vergangenheit glaubt beanspruchen zu können. Eine solche Zeit kann es sich nicht leisten, am Wert dessen irre zu werden, womit sie ihre eigene Erfolgsgeschichte von der Kunst, vom Geistigen und Schöpferischen her ausschmückt. Gerade dazu aber würde es führen, wenn man den Kanon der literarischen Moderne in der deutschen Literaturgeschichte ruhigen Gewissens und kalten Blutes um einen Kanon der Anti-, Alternativ- und Gegenmoderne bereicherte.17
Natürlich hat die Kunst, die jenen Stachel in sich trägt, nicht nur ästhetische, sondern auch weltanschauliche, ideelle Konsequenzen. Es wäre wenig sinnvoll, vor diesen die Augen zu verschließen. Ganz formelhaft zusammengefaßt, beruft sie sich dabei, erstens, grundsätzlich auf einen „Willen zur Tradition“ (ein Begriff Nietzsches). Sie bekennt sich, zweitens, zu einem „Willen zur Form“ (eine Prägung Paul Ernsts), oft verbunden mit der das Literarisch-Künstlerische übersteigenden Suche nach solchen Kräften in der Geschichte, die die „Fähigkeit zur Form“ (wie es Carl Schmitt nennt) bewiesen haben, die also formschaffend, formbewahrend wirken können (wie z. B. Kirche, ständische Gesellschaftsordnung, bäuerliche Welt, Volkstum, Reich). Und drittens verpflichtet dieses künstlerische Schaffen sich auf die Kategorie der „Nation“ (meist im neueren Sinn als „Volksnation“ verstanden); es faßt sie als Richtschnur und Fokus des geistigen und politischen Lebens auf, wobei es Literatur und Kunst als wesentliche Faktoren der politischen Gestaltwerdung der Nation und als Träger der dazu erforderlichen „nationalen Erziehung“ begreift.
Wer sich diese Grundsätze vergegenwärtigt, den wird auch aus dieser Warte nicht verwundern, daß Produkte des Kulturkampfes, die in wissenschaftlichem Gewand auftreten, ihren Teil zu dem Dilemma beigetragen haben, in dem sich der heutige Umgang mit jenen Bezirken unserer Kunst- und Literaturgeschichte befindet. Als Beispiel kann abschließend die Weinheber-Monographie eines Klagenfurter Germanistik-Ordinarius dienen, die dieser 1999 erscheinen ließ.18 Das geschah ausgerechnet bei Otto Müller in Salzburg, einstmals eines der herausragenden christlich-konservativen Verlagshäuser für österreichische Literatur und in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg der Hausverlag für das Werk Josef Weinhebers. Unter diesem Dach hatte dieses u. a. mit Hans Sedlmayrs Verlust der Mitte zusammengefunden. Jenes Buch nun, es sei rundheraus gesagt19, ist ein Pamphlet, das, als mutige Vergangenheitsbewältigungsstudie ausgegeben, durch Weinhebers Werk und Leben stolpert, um rund um das politische „Sündenregister“ des Dichters den Nachweis zu erbringen, wie eine fragwürdige Ideologie mehr oder minder das gesamte Schaffen Weinhebers infiziert habe. Ein Innsbrucker Kollege und Mitstreiter des Verfassers kam in seiner Besprechung des Buches für eine Wiener Tageszeitung zu dem nicht unerwarteten Resümee: „Warum man sich heute noch für diesen pathetischen Lyriker interessieren soll, wird – verständlicherweise – nirgends recht deutlich. Im Grunde ist der Autor Weinheber viel weniger interessant als seine Rezeption, als der Glaube eines recht großen (durchwegs vor etwa 1925 geborenen) Publikums, über das Jahr 1945 hinaus, an den Rang dieses Dichters.“20
Man bemerkt: Wieder muß das Urteil darauf hinauslaufen, dem (politisch) Verpönten auch die künstlerische Substanz abzusprechen. Nur dadurch kann in einem Zuge mit dem Dichter auch die Generation der „Verehrer“ in Mark und Bein getroffen werden. Unter dieser Voraussetzung weist der Irrtum, in dem sie gefangen schien, geradezu absolute – natürlich auch absolut fremde – Züge auf. Die Spitze gegen das „Pathos“ wirkt natürlich ein wenig entlarvend, da sie zeigt, wie wenig der Autor grundsätzlich von den überlieferten Gesetzen der Redekunst versteht – Pathos als Stil des Leidens, Mitleidens, als Sprache der Leidenschaft, in Form gebracht und somit geläutert – und wie wenig er vom Ort des Pathos innerhalb der Weinheberschen Sprach- und Kunstauffassung im speziellen weiß.
Es gibt aber doch auch heute noch, in unserer späten Zeit, die gerechte Ohrfeige, sozusagen die „gsunde Watschn“, die die Literaturgeschichte selbst über die Zäsuren hinweg den jeweiligen Literaturgewitzten der Zeit, den Groß- und Kleinwesiren des Literaturfeuilletons auszuteilen versteht. So fand jüngst ein bemerkenswertes Plädoyer für den Lyriker Josef Weinheber in den Druck des großmächtigen Suhrkamp-Verlages: ebenfalls eine Zeitungsbesprechung, allerdings stammt sie schon aus dem Jahre 1955 und ist der Gesamtausgabe gewidmet, von der damals soeben vier Bände abgeschlossen vorlagen. In der Besprechung wird der nunmehr insgesamt überschaubaren Lyrik Weinhebers eine „schier unerschöpfliche Fülle der Themen und Leidenschaften“ attestiert. Der Rezensent sieht darin den „Gipfelpunkt der Sprache […] erreicht“. Am höchsten schätzt er den – ganz auf das reiche, schwierige Pathos der Odensprache abgestellten – Zyklus Zwischen Göttern und Dämonen (1938). (Dieser trägt übrigens schon im Titel die Gedankenfigur, die wir mit Hans Sedlmayr kulturkritisch zu bezeichnen versuchten.) Der Geist der „Dichtung“, so schreibt der Rezensent, „hauchte den ,Göttern und Dämonen‘ den stärksten Atem ein. In diesem Buch liegt Weinhebers Leben und Tod. Nichts schafft mehr Gemüt und Österreichertum und Deutschtum zugleich als dieses Werk. […]“
Nun: der Verfasser dieser wieder ausgegrabenen Zeilen, dieses nachdrücklichen Bekenntnisses zu Josef Weinheber, war niemand anders als der junge Thomas Bernhard, geboren 1931, damals in seinen Anfängen in Salzburg wirkend, später bekanntlich ein Säulenheiliger der österreichischen Literatur neuen, modernen Zuschnitts.21 Welche unliebsamen Fragen wirft die selbstbewußte Nähe auf, mit der die neue Größe in ihren Aufbruchsjahren einer der alten Größen ihre Reverenz erwies? Einer offenbar beträchtlichen inneren Verknüpfung zuwiderlaufend, offenbart die Verwerfung des einen und Verklärung des anderen jedenfalls jenen großen Bruch, auf den die vorliegenden Ausführungen hinweisen wollten. Sie ist nicht das gleichsam natürliche Ergebnis eines Fortschrittsprozesses, der rechtschaffen Schwaches von Starkem, ästhetisch Höherwertiges von Minderwertigem oder gar moralisch Gutes von Bösem schied (was sind das auch für Kriterien?), sondern sie ist, im Soziologenjargon ausgedrückt: das Produkt eines Hegemonialdiskurses, in dem sich Wissen und Unwissen, Verstand und Unverstand, Erinnern und Vergessen vermengen und konfrontieren. Kurz: unsere neuere Literaturgeschichte ist als solche nicht umkehrbar, aber für den Betrachter – den einzelnen „Benützer“ – ist sie durchaus umdeutbar. – Darin liegt, wenn wir so wollen, der Gedanke eines heilsamen, ausgesprochen befreienden Re-visionismus. Und wahrscheinlich läßt der Ernst der Lage auch gar keine anderen Spielräume der Verantwortung mehr zu, als im Hinblick auf den schöpferischen Geist Revisionist zu sein.
1 Josef Weinheber: Sämtliche Werke. Hrg.: Friedrich Jenaczek. Bd. II. Salzburg: Otto Müller 1972, S. 268 („Von der Kunst und vom Künstler“ VIII).
2 Ebd., S. 314 („Die Nacht ist groß“).
3 Hans Sedlmayr: Der Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit. Salzburg: Otto Müller 1948, 111998.
4 Vgl. Verf.: Der Zahn der Zeit? Vom Vergessenwerden und Verschwundensein in der jüngeren Literaturgeschichte. In: Karl J. Trauner/Christoph Fackelmann: Vergessene Dichter – verschwundenes Wort. Porträts und Skizzen zur deutschen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Wien 2011 (= Eckartschrift 205), S. 4–30, hier unter besonderer Berücksichtigung zweier Traktate, die Ernst Jünger Anfang der fünfziger Jahre veröffentlichte: „Über die Linie“ und „Der Waldgang“.
5 Vgl. Franz Karl Ginzkey: Der Heimatsucher. Ein Leben und eine Sehnsucht. Graz: Leopold Stocker 1948.
6 Klaus Heydemann: Literatur und Markt. Werdegang und Durchsetzung eines kleinmeisterlichen Autors in Österreich (1891–1938). Der Fall Franz Karl Ginzkey. Wien, Univ. Habil.-Schr. (masch.) 1985.
7 Franz Karl Ginzkey: Aus der Werkstatt des Lyrikers. Vortrag, gehalten […] zu Gunsten des Wiener Volksbildungsvereines am 16. Jänner 1913. Leipzig–Wien: Hugo Heller 1913 (= Aus der eigenen Werkstatt 15), S. 3–36.
8 Franz Karl Ginzkey: Der Wiesenzaun. Erzählung. Mit Abbildungen nach A. Dürer. Leipzig: L. Staackmann 1913.
9 Ders.: Rositta. Leipzig: L. Staackmann 1921.
10 Vgl. Franz Spunda: Der magische Dichter. Essays. Leipzig: Wolkenwanderer Verlag 1923.
11 Ders.: Griechenland. Fahrten zu den alten Göttern. Mit 64 Bildtafeln. Leipzig: Insel-Verlag 1938, S. 148 f., 225, 276.
12 Mit 24 Bildtafeln. Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft; Neuausgabe s. Anm. 11, letzte Fassung Wien: Ullstein 1956.
13 Mit 40 Bildtafeln. Leipzig: Insel-Verlag; letzte Fassung Stuttgart: Steinkopf 1962.
14 München: Georg Müller (=Religio).
15 Vgl. Ludvík Václavek: Franz Spunda. In: Lexikon deutschmährischer Autoren. Hrg.: Ingeborg Fiala-Fürst u. a. Olmütz 2006 (= Beiträge zur mährischen deutschsprachigen Literatur, Bd. 7) [Loseblattausg.].
16 Vgl. Karl Müller. Zäsuren ohne Folgen. Das lange Leben der österreichischen Antimoderne seit den 30er Jahren. Salzburg 1990, S. 189–200.
17 Dies ist einer der Gedanken, die ein Buchprojekt leiten, welches derzeit erarbeitet wird und im Ares-Verlag, Graz, erscheinen soll; vgl. Christoph Fackelmann/Dirk Herrmann: Dichter im Umkreis der Konservativen Revolution – Präliminarien zu einem bio-bibliographischen Handbuch. In: Literaturwissenschaftliche Jahresgabe der Josef Weinheber-Gesellschaft, N. F., 2010/11/12, Wien–Berlin–Münster 2013, i. Vorb.
18 Albert Berger: Josef Weinheber (1892–1945). Leben und Werk – Leben im Werk. Salzburg 1999.
19 Dieses scharfe Urteil wird Mißverständnisse hervorrufen. Verf. hat es mehrmals genauer begründet, u. a. in: Was kann und was muß Forschung zum Werk Josef Weinhebers leisten? In: Jahrbuch der Österreichischen Goethe-Gesellschaft, Bd. 106/107 (2002/2003), Wien 2004, S. 218–232.
20 Sigurd Paul Scheichl: Gedankengebräu des Heurigen-Hölderlin. Über Albert Bergers erhellende Weinheber-Monographie. In: Die Presse, Wien, 29./30. Jänner 2000, Beil. „Spectrum“, S. V.
21 Thomas Bernhard: Das Werk von Josef Weinheber. In: Ders.: Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Hrg.: Wolfram Bayer u. a. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 18–20 (Erstdruck in: Münchner Merkur, 16. 2. 1955).