Die deutsch-französische Freundschaft ist das europäische Dogma. Darauf ruht der Konsens über die „Grundwerte“. Dabei galt das ganze 19. Jahrhundert hindurch und bis zum Zweiten Weltkrieg das genaue Gegenteil. Deutschland und Frankreich waren „Erbfeinde“ nicht nur aus politischen, sondern aus geistigen Gründen.
Paris in Schutt und Asche zu sehen, war der größte Wunsch Richard Wagners. Er hatte dort den modernen Kunstbetrieb erlebt, und immerhin gelang ihm in der deutschen Provinz ein Gegenentwurf. Dorthin pilgerten auch viele Franzosen, die das Besondere, man kann sagen das Exotische suchten. Und so ist Deutschland bis zum Zweiten Weltkrieg für die Franzosen die fremdartige Herausforderung geblieben. Nach 1945 allerdings wollten die Deutschen plötzlich einen französischen Zwilling darstellen, genauso wie sie den amerikanischen Zwilling abgaben. Wer hätte diese Demut wohl zurückgewiesen? Es wurde Freundschaft geschlossen und im Elysée-Vertrag vom 20. Januar 1963 besiegelt. Das ist jetzt 50 Jahre her, und man will es feiern. Unter anderem mit einer Ausstellung deutscher Künstler im Louvre. Und siehe da, die Freundschaft steht auf wackeligen Beinen.
Im Unterschied zur amerikanischen Bindung ist die Nähe zu Frankreich immer politische Rhetorik geblieben. Das zeigt sich schon daran, daß das Englische sich sowohl in Deutschland als auch in Frankreich (trotz französischer Gegenmaßnahmen) stark verbreitet hat, während in Deutschland heute kaum noch jemand Französisch und in Frankreich fast keiner Deutsch spricht. Kulturell gibt es kaum eine Annäherung, sondern beide Nationen sind zunächst amerikanisiert und dann (Frankreich noch stärker als Deutschland) mit Farbigen und Moslems überzogen worden. Dadurch mögen jetzt beide Länder ähnlich wirken, aber das gilt insgesamt für die Globalisierung. Unter den Tisch gefallen ist dabei sowohl das spezifisch Französische wie das deutsche Wesen – was für die Franzosen noch ärgerlicher ist, da sie sich zu den Siegern des Weltkrieges zählen. Genauso wie die Deutschen haben sie jedoch ihre Seele verloren, und den Streit der beiden Antipoden hat der lachende Dritte – die Angloamerikaner – beendet. Inzwischen allerdings ist auch das Angloamerikanische auf dem Rückzug, und außereuropäische Einflüsse gewinnen an Bedeutung. Das ist – besonders in Paris – nicht zu übersehen, doch parallel zu den neuen Entwicklungen klappert die alte Mühle weiter, und die Regierungen beider Länder, Präsident Hollande und Bundeskanzlerin Merkel sowie die Kulturminister, reisten zur Ausstellungseröffnung und droschen Phrasen von der „deutsch-französischen Freundschaft“, die schon vor 50 Jahren nicht gestimmt haben und inzwischen niemanden mehr interessieren.
Doch in diesem Jahr wäre es sogar beschönigt, wollte man die Repräsentation leer nennen. Sie tendiert bereits zur Heuchelei, weil das Verhältnis des französischen Partners zu Deutschland durch die Euro-Krise unbestreitbar belastet ist. Auch Frankreich gehört zu jenen „südlichen“ EU-Ländern, die zu viel ausgeben und zu wenig sparen. Und die Deutschen betätigen sich auch hier als Schulmeister, der schlechte Noten verteilt und mit mühsam bezähmter Ungeduld erklärt, wie man es richtig macht. Nämlich so, wie es die Deutschen vor etwa zehn Jahren machten, als sie in der Krise Löhne und Sozialausgaben beschränkten. In Frankreich fragt man sich, weshalb Deutschland sich in die Angelegenheiten der anderen einmischen muß. Manche haben den Eindruck, als wollten wir – wieder einmal – die Vorherrschaft auf dem Kontinent übernehmen.
Die Atmosphäre ist gespannt. Und das führt zu einem Rückfall in alte Animositäten. Die Ausstellung unter dem Titel „De L’Allemagne 1800–1939. De Friedrich à Beckmann“ findet im Louvre statt. Schon dadurch sticht das Ereignis aus dem regulären Kulturbetrieb heraus, daß der deutschen Kunst erstmals in dem pompösen ehemaligen Königsschloß ein so breiter Raum gewährt wird. Sie hat in Frankreich immer noch einen eher geringen Bekanntheitsgrad. Zumindest das große Publikum empfindet die deutschen Maler als eher fremd. Die Ausstellung zielt aber auf den durchschnittlichen Kulturinteressierten und nicht auf ein Fachpublikum. Mit diesem Argument rechtfertigt der Leiter des Louvre, Henri Loyrette, die etwas plakative Einteilung in „apollinisch“ und „dionysisch“. Unter diesen Gegensatz sind die Bilder geordnet, und das Begriffspaar prägt auch die erklärenden Texte. Damit dominiert das Weltanschauliche von vornherein die rein künstlerische Betrachtungsweise. Die Bilder werden zu Trägern guter oder böser Absichten.
Nun stimmt es allerdings, daß der normale Ausstellungsbesucher kein Kunstsachverständiger ist, sondern ganz allgemein etwas über Kultur und Geschichte erfahren möchte. Der Standpunkt der Künstler und Kunsthistoriker, daß es in erster Linie um Form und Farbe gehe, um das also, was konkret auf der Leinwand zu sehen ist, nicht aber um irgendwelche Deutungen und Sinngehalte, diese Ermahnungen verhallen beim Publikum meist ungehört. Man möchte wissen, „was der Künstler damit sagen wollte“, und am liebsten gleich hinterher beim Kaffee eine eigene Meinung dazu äußern. Nur dann macht der Museumsbesuch Spaß. Und Spaß machen soll Kultur heute, sonst kommen die Leute nicht.
Zur deutschen Kunst zwischen 1800 und 1939 sind schon jetzt mehr Besucher gekommen, als man erwartet hatte. Dieser Erfolg hat auch mit der plakativen Darbietung zu tun, die von den französischen Ausstellungsmachern kommt. Das deutsche Forum für Kunstgeschichte in Paris sollte zwar an der Planung teilnehmen, durfte dann aber nach Aussage des Leiters, Andreas Beyer, keinerlei Einfluß nehmen. Soll man sagen, die Deutschen wurden von den Franzosen „herausgemobbt“? Oder war Beyer zu wenig „teamfähig“? Mit der Auswahl der Gemälde jedenfalls sind alle zufrieden. Es handelt sich um etwa 200 Bilder, fast alles Leihgaben. Darunter befinden sich 20 Gemälde von Caspar David Friedrich, was für Frankreich bisher einmalig ist. Jeder staunt über die Vielfalt, die hier präsentiert wird. Die dazugehörigen Texte allerdings (ohne deutsche Übersetzung), das Begleitheft und die Tonband-Führung bringen den künstlerischen Reichtum auf einen simplen Nenner: „deutsche Kunst als Versinnbildlichung einer politischen Verfallsgeschichte“, wie die liberale Wochenzeitung „Zeit“ konstatiert. Im Zentrum steht der „Saal des Dionysos“ mit Arnold Böcklins „Spiel der Nereiden“, Anselm Feuerbachs „Medea an der Urne“ und dem „Kampf ums Weib“ von Franz von Stuck. Damit soll das Rauschhafte und Wilde illustriert werden, dem sich Deutschland spätestens seit der Reichsgründung hingegeben habe. Der Goethe von Tischbein am Beginn der Schau steht noch für Form und Ordnung. Von diesem schönen Ideal soll Deutschland sich abgewendet haben, bis es schließlich dem Nationalsozialismus verfiel. Es ist die alte These vom „Sonderweg“, die hier ihre Wiederauferstehung feiert.
Einiges spricht dafür, daß das weniger mit den Bildern zu tun hat als mit einer gewissen antideutschen Stimmung, die auch in Frankreich aufgekommen ist. „Noch begegnet man keiner offenen Feindseligkeit, aber das Klima verändert sich“, stellt Thomas E. Schmidt in der „Zeit“ fest. Das Magazin „Marianne“ beschwert sich über die kulturelle Vorherrschaft der Deutschen – wohlgemerkt in der Gegenwart. Zu dieser Behauptung gehört schon eine beträchtliche Verbitterung. Auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ beklagt sich über die einseitige Tendenz der Ausstellung. Sie verweist auf das Buch „Wie deutsch ist die deutsche Kunst?“ (1999) von Werner Hofmann, der nachgewiesen habe, wie uneinheitlich und teilweise gegensätzlich die künstlerischen Strömungen in Wahrheit gewesen sind. Doch die Franzosen flüchten sich in die Harmlosigkeit. Keineswegs solle das Dionysische auf den Nationalsozialismus deuten, erklärt Henri Loyrette, und zu Leni Riefenstahl gebe es nur einen kurzen Ausschnitt aus dem Olympia-Film.
Es hat sich wieder einmal eine Debatte entsponnen, zwar keine große Debatte, wie sie noch Jahrzehnte in Erinnerung bleiben, doch immerhin verschiebt sich das Interesse von den rein finanziellen Aspekten endlich zum Gehalt der europäischen Einigung. Die vielbeschworenen gemeinsamen Werte sind offenbar umstritten. Die Franzosen streben eine Vorbildfunktion an, wie sie zur Zeit Ludwigs XIV. und noch unter Napoleon herrschte. Zu dieser Zeit aber erhoben sich die Deutschen gegen den westlichen Nachbarn, der mit dem Schimpfwort „welsch“ belegt wurde, und strebten nach Eigenständigkeit. Doch was ist die Eigenart des Deutschen? Liegt sie tatsächlich in einem gefährlichen Wahn? Mitten in diese Kontroverse platzte ein Pamphlet des italienischen Philosophen Giorgio Agamben. In der Zeitung „Libération“ beschränkt er sich nicht darauf, die Deutschen zu kritisieren, sondern schlägt ein Bündnis der südlichen Europäer (Frankreich, Italien, Spanien) mit einer eigenen Programmatik vor.
Eine Frage gerät bei der wieder aufgeflammten nationalen Polemik schnell aus dem Blick. Wie soll sich das dionysisch-deutsche Unwesen in der Malweise bzw. in den Bildern selbst niederschlagen? Und was würde das für die Kunstwerke bedeuten? Wenn es einen Niederschlag des Dumpfen und Reaktionären in den Bildern gäbe, so müßten es schlechte Bilder sein. Daß im Louvre neuerdings schlechte Bilder hängen, hat aber keine der streitenden Parteien behauptet. Über die hohe künstlerische Qualität sind sich alle einig. Wenn sich also die weltanschauliche Tendenz in den Bildern gar nicht zeigt, dann gehört sie auch nicht in die Begleittexte. Zeigt sie sich aber trotz der hohen Qualität, dann kann diese Weltanschauung nicht dumpf und reaktionär sein. Dann stellt sie eine ernsthafte Alternative zur europäischen Moderne dar.
Das Merkwürdige an der Geschichte ist die Aktualisierung, die der alte Gegensatz durch die Euro-Krise erfahren hat. Denn die Vorzeichen stimmen doch längst nicht mehr. Da wendet man sich gegen das „deutsche Wesen“ und meint damit offensichtlich die Bundeskanzlerin Angela Merkel! Dabei hat die Bundesrepublik doch stets die Abkehr vom „Sonderweg“ und die Orientierung an den westlichen Werten vertreten. Die Französische Revolution liegt mit der Gründung der Vereinigten Staaten auf einer Linie, und die Vereinigten Staaten sind von Anfang an das erklärte Vorbild der Bundesrepublik gewesen. Die Unbeliebtheit, in die Deutschland durch die Euro-Krise geraten ist, ergibt sich nicht aus einer mangelnden Anpassung, sondern im Gegenteil durch eine perfekte Anpassungsleistung. Daher wirkt es eher hilflos, wenn Deutschland jetzt in eine irrationale romantische Ecke gedrängt werden soll.
Berücksichtigt man den Text von Giorgio Agamben, so eröffnet sich noch ein weiterer Aspekt. Der Philosoph beklagt sich in antimoderner kulturpessimistischer Manier über die rein ökonomische Ausrichtung der EU. Die einzige Tugend, die hier gelte, sei das Geldverdienen. Und Deutschland steht mit diesem bornierten Ökonomismus an erster Stelle. Agamben geht sogar so weit, dem bösen Nachbarn einen Mangel an Kultur vorzuwerfen. Kultur, so erklärt er, gehe in kalter Rationalität nicht auf. Teilweise hört es sich an, als wolle er für sein „lateinisches Reich“ genau das reklamieren, was an den Deutschen verteufelt wird: das Dionysische. Nach der Niederlage hat man uns gezwungen, die moderne westliche Einstellung zu übernehmen. Das taten wir mit großem Erfolg. Und nun werfen die anderen uns diese Konsequenz vor. In der entstandenen kulturellen Wüste ruft man nach der verlorenen oder besser verbotenen Quelle.
Der „Tagesspiegel“ aus Berlin findet die französische Präsentation nicht falsch: „Daß Natur im deutschen Geisteshaushalt eine besondere Rolle spielt, wird schwerlich zu bestreiten sein.“ Und Natur steht der Zivilisation entgegen. Deshalb aber sei in Frankreich heute „die Neugier auf deutsche Kunst und Kultur größer als jemals“. Zu dieser Neugier gehört auch die Furcht, und beides zusammen ergibt die Faszination. Schade allerdings, daß dieses Deutschtum nur noch im Museum existiert. Vom deutschen Staat und seinen Vertretern ist es jedenfalls nicht zu erwarten. Wenn man sich vor dem realexistierenden Deutschland hüten muß, dann sicher nicht wegen seiner leidenschaftlichen Wildheit.
Sind Bilder wie die von Caspar David Friedrich nur noch Fossilien, deren umgebende Welt und kongeniale Menschen für immer verschwanden? Zunächst ja: Solche Deutschen gibt es nicht mehr und wird es nie wieder geben. Wenn auch noch Physiognomien zu finden sind, die in diese Bilder zu passen scheinen. Zumindest gilt das für den Film, den Peter Schamoni 1986 über Friedrich gemacht hat – eine Koproduktion mit Frankreich. Unter dem Titel „Grenzen der Zeit“ rekonstruiert der Film ein provinzielles, karges und eigensinniges Land mit den entsprechenden Gesichtern und Gestalten. Das wäre heute vielleicht schon nicht mehr möglich.
Braucht also niemand mehr die archaische Kraft solcher Kunstwerke zu fürchten, vermögen sie nichts mehr gegen die entleerte Zivilisation, wie sie heute in den Straßen von Paris genauso wie in Berlin oder Wien herrscht? Doch: In jedem Menschen, auch den Franzosen und auch den Einwanderern, wenn sich jemand von ihnen in das Museum verirrt, steckt ein Glutkern, der von der Zivilisation unberührt bleibt, und der kann von den Bildern angesprochen werden. Große Kunst dringt immer in einen Bereich vor, der ursprünglich und gefährlich ist. Und wenn die deutsche Kunst dazu eine besondere Fähigkeit hat, so ist die Bereitschaft dafür überall zu wecken. Über jede Ausstellung muß man sich also freuen, mögen die Texte auch lauten, wie sie wollen.