In Teil I dieser Betrachtung zu einem Leben in Harmonie habe ich versucht, einen Rahmen dessen abzustecken, was uns bewegen sollte. Eine Einführung in ein Denken, welches man als harmonisch, ganzheitlich oder auch einfach als naturnah bezeichnen könnte und sollte. Das Leben des Menschen ist seit einigen Jahrhunderten komplett aus der Bahn geworfen. Man muß sich allerdings bewußt werden, daß es vermutlich spätestens seit der Seßhaftigkeit des westlichen Menschen kein wirklich ideales Leben mehr gegeben hat. Es hat Momente, Eigenschaften und Arbeitsweise des Menschen gegeben, die dem entsprechen, was wir als „naturnah“ bezeichnen; ob es aber die wirkliche naturnahe Lebensweise der breiten Masse der Menschen gegeben hat, ist ein Streitpunkt. Wenn wir uns zum Beispiel andere Kontinente genauer ansehen, so erkennen wird dort noch viel mehr an authentischem und harmonischem Leben, welches aber nicht selten von „Ansprüchen“ innerhalb dieser Gemeinschaften selbst auf eine harte Probe gestellt wird. Das Streben nach scheinbaren Arbeitserleichterungen (nicht selten verbunden mit dem Wunsch, die „Produktivität“ dadurch zu steigern) ist meist der erste Schritt zum sicheren Ende traditionellen Lebens, wenn diese „Arbeitserleichterung“ mit einem Streben nach Technik verbunden wird. Dieses schwierige Spannungsfeld zwischen traditionellen und hochtechnisierten Arbeitsweisen berührt jede Tätigkeit in dieser Welt, worauf an späterer Stelle noch einzugehen sein wird.
In diesem zweiten Teil soll es nun zunächst um Grundlagen des harmonischen Lebens gehen. Was macht ein „harmonisches Leben“ im Kern aus? Aus welchen Quellen schöpfen wir? Ist harmonisches Leben „neu“? Eine Weltsicht unter vielen, die einen weiteren Lebensentwurf des Menschen der Moderne oder Postmoderne darstellt, der eine weitere Nische besetzt? Ist es überhaupt notwendig, den zahlreichen, mehr oder weniger „esoterischen“, ökologischen Lebensentwürfen einen weiteren hinzuzufügen? Diese letzte Frage soll als erstes beantwortet werden: Ja, es braucht eine harmonische-naturnahe Sichtweise, und ja, sie ist etwas anderes als die bisher geläufigen Bewegungen, die sich mehr oder minder einer neuen Lebensweise im Einklang mit der Natur verschrieben haben. Es handelte und handelt sich bei den meisten dieser ökologischen Bewegungen um geistige Neuerungen, bei vielen handelt es sich um kurzlebige Produkte, die auch deshalb ein kurzes Leben haben mußten, weil sie nicht auf ausreichender Praxis gegründet waren oder aber die Praxis sie vom Ideal entfernte. Man muß sich zunächst dreierlei bewußt sein:
das harmonisch-naturnahe Leben ist ein Leben gegen die Moderne in der Moderne, rein räumlich gesehen.
eine harmonisch-naturnahe Lebenswirklichkeit wird nur in Schritten, organisch-schichtenweise, niemals aber revolutionär-gewalttätig herstellbar sein, und eine solche Lebenswirklichkeit wird stets unmittelbar an denjenigen geknüpft sein müssen, der sie lebt.
die strikte Trennung zwischen Berufs- und Privatleben und damit die eigentliche Unterwerfung des „Lebens“ unter die Zwänge der modernen Arbeitswelt, ist im wahrsten Sinne des Wortes „Häresie“.
Natürlich wird der eine oder andere einwenden: Punkt 1 und 2 sind zumindest beide erklärungsbedürftig. Was bedeutet nun „organisch-schichtenweise“ und was „revolutionär-gewalttätig“? Die Antwort hierauf wird auch im Verlaufe dieses zweiten Teils meines Artikels gegeben werden. Aber dies sind letztlich alles Bedingungen, keine unbedingten Gründe. Der Hauptgrund, warum eine harmonisch-naturnahe Lebenssicht nötigt ist, liegt nicht nur in unseren momentanen Lebensbedingungen, sondern auch in der zeitlosen Überlieferung. Ausbeutung des Kosmos, dazu zählen alle Geschöpfe, kann niemals mit einem Leben in der Überlieferung vereinbar sein. Bisher haben sich „Konservative“ in der Breite der Notwendigkeit einer solchen harmonisch-naturnahen Lebensweise erfolgreich widersetzen können, weil ihnen dies von ihren jeweiligen Lehrämtern (sofern es welche in personaler Form gibt, ansonsten eben von einem unpersönlichen Lehramt) nicht unbedingt als religiöse Pflicht aufgetragen wurde. Die Frage übrigens, wie sich harmonisch-naturnah arbeitende und (vor allem) lebende Menschen politisch einzuordnen „haben“, ist die vielleicht schwierigste und einfachste zugleich.
Diese harmonisch-naturnahe Sichtweise, die hier skizziert werden soll, unterscheidet sich also sowohl in ihren Wurzeln als auch in ihrer konkreten Ausprägung im Hier und Jetzt und damit in ihrer Zielsetzung massiv von dem, was wir bisher unter „Ökologie“ kannten. Um diese Wurzeln wird es nun in diesem zweiten Beitrag gehen.
Einheit, Balance, Harmonie: diese drei Grundbegriffe sind diesen Überlegungen als eine Art „Generalüberschrift“ vorangestellt und sie sind, im engen Sinne, Programm. Allerdings muß hier gleich eingeschoben werden, daß es sich bei der Niederschrift dieses Weltbildes nicht um eine positivistisch-wissenschaftliche Abhandlung handelt. Ein solch harmonisch-naturnahes Weltbild ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit (es entspricht der Natur des Menschen); es handelt sich um eine Weltsicht, die heute nicht selbstverständlich ist, die aber für alle Stände selbstverständlich sein sollte. Die folgende Betrachtung ist daher eine Betrachtung des Einfachen, des Offensichtlichen. Es bilden sich ja heutzutage „Umwelt-Pädagogen“, „Umwelt-Trainer“ und was weiß ich noch alles heraus, die „studieren“, was wir zu fühlen haben. Ohne alle über einen Kamm zu scheren, muß man schlicht anmerken, daß diese Kopfgeburten und Kopfberufe mit wirklich naturnaher Lebensweise meist fast nichts zu tun haben. Es wird hierbei auch, und darauf werden wir noch ausführlich zu sprechen kommen, viel zu viel geredet, viel zu viel romantisiert und auch verdreht. Was einen Bauer und einen traditionell arbeitenden Handwerker beschäftigt, wie sie ihren Alltag gestalten, von all dem haben diese Vertreter einer „gefühlsduseligen Ökologie“ meist wenig Ahnung. Der Begriff „gefühlsduselige Ökologie“ mag abwertend und auch beleidigend klingen, aber dennoch trifft er, so leid es dem Autor dieser Zeilen auch tut, eine Stimmung in einem Teil der sogenannten „Ökologiebewegung“, die einfach nicht authentisch wirkt und es meist auch nicht ist. Die Romantisierung der harten landwirtschaftlichen und handwerklichen Tätigkeit muß in die Irre führen, weil man sich bewußt sein muß, daß beispielsweise ein nach traditionellen Kriterien arbeitender Mensch es, wiederum beispielsweise, „körperlich“ nicht „leichter“ hat. Er gewinnt zwar ein höheres Maß an wahrer Zufriedenheit, weltlich und materiell gesehen, „leichter“ hat er es aber eben nicht unbedingt und nicht automatisch. Und gerade deswegen scheitern nicht wenige Menschen, die diese reine Gefühlsebene als Zugang zu einem traditionellen Leben als Basis aufweisen, relativ schnell. In der Landwirtschaft finden wir vielleicht noch Menschen, die ich der „gefühlsduseligen Ökologie“ zuschreiben würde, aber im Handwerk finden wir, bis auf ganz wenige Beispiele1, fast keine naturnah oder im vollen Sinne traditionell arbeitende Menschen; dabei ist gerade das traditionelle Handwerk ein Weg der Initiation2. Wir brauchen all diese gefühlsduseligen „Studien“ nun eigentlich nicht; was wir brauchen, ist ein Aufbruch zu einem wahrhaft einfachen, organischen und dauerhaftem Leben.
Wir alle kennen das vermutlich aus unserer direkten Umgebung: Die große Welt, so glauben viele, die rettet man in der sogenannten „Dritten Welt“, in Afrika, Lateinamerika oder auch Asien. Aber die Welt vor unserer Türe, die ganz unmittelbare uns umgebende Welt, die wird selten in ihrer ausdrücklichen Not wahrgenommen und erkannt. Alles liegt im Prinzip vor uns ausgebreitet. Auch heute noch scheint die Göttliche Wahrheit zu uns hindurch. Wenn wir es in uns still werden lassen, dann können wir diese Wahrheiten verstehen lernen. Die Grundlagen eines naturnahen Lebens sind daher gerade in der Heiligen Schrift der Christen voll enthalten.
Der Mensch in der heutigen Zeit, und hier besonders auch jene, die einen grundsätzlichen Sensus für Spiritualität haben, suchen ihr „Heil“ nicht selten in fernöstlichen Religionen oder in dem, was sie darunter verstehen. Freilich werden diese Glaubenskonstrukte dann sehr oft, wenn überhaupt, in einer selektiven Weise gelebt. Im Grunde genommen werden völlig neue Glaubensgebäude errichtet, die auf dem Subjektivismus des westlichen Menschen gründen, und sich maximal einiger Leihgaben aus den entsprechenden Religionen bedienen. Diese Haltungen nicht weniger Menschen im Westen sind allerdings meist gespeist aus einer Enttäuschung über das in Institutionen gegossene „Christentum“, sprich aus einer Enttäuschung über die sogenannten „Amtskirchen“. Die allermeisten Menschen im Westen nehmen allerdings auch die Bibel nicht wahr. Die Bibel bietet den reichen Fundus der Tradition, in ihr ist im wesentlichen alles enthalten, was der Mensch für ein harmonisches Leben benötigt.
Die biblisch-christliche Tradition, die also einerseits wesentlich auf den Grundlagen und Quellen der Heiligen Schrift und andererseits auf den verbalen Überlieferungen beruht, ist leider dem westlichen Menschen weithin unbekannt. Daran haben mehrere Faktoren schuld; wesentlich ist und bleibt allerdings allein schon die Tatsache, daß viele Christen, vor allem auch Katholiken, zwar über Hutgrößen, Quasten und Gewänder ihrer Würdenträger lebhaft zu streiten wissen, sich aber kaum bis überhaupt nicht mit der Bibel beschäftigen. Dieser Umstand hat auch dazu geführt, daß das Christentum nicht mehr zu einer allumfassenden Weltsicht verhilft, also das Kleine wie das Große mit einschließt, sondern stets irgendwelchen Partikularinteressen dient. Das Christentum bietet aber in seinem Reichtum eine vollständige Weltsicht an, nicht nur eine geteilte, und es bietet einen Blick auf die uns umgebende Natur, der selbstverständlich auf die natürliche Schöpfungsordnung abzielt, die eine Ausbeutung der Natur, so wie sie derzeit in unseren Breiten geschieht, absolut verurteilt und ausschließt. Man muß sich hier der Grundlagen schlichtweg bewußt sein, daher seien nun einige Bibelstellen angeführt, die offenbar in unserer Zeit vergessen scheinen:
Wenn man mit der Genesis beginnt, dann heißt es dort ja bereits eindeutig:
„Gott, der Herr, machte Adam und seiner Frau Fellröcke und bekleidete sie. Dann sprach er: ‚Ja, der Mensch ist jetzt einer von uns geworden, da er Gutes und Böses erkennt. Nun geht es darum, daß er nicht noch seine Hand ausstrecke, sich am Baum des Lebens vergreife, davon esse und ewig lebe!‘ So wies Gott, der Herr, ihn aus dem Garten Eden fort, daß er den Ackerboden bearbeite, von dem er genommen war.“ (Genesis: 1. Mose 3, 21–23)
Aus diesem kurzen Abschnitt kann man nun mehrerlei erkennen; zum einen, daß eine eigentliche Bestimmung des Menschen die Arbeit am „Feld“ ist. So ist die Arbeit auf dem Acker zwar auch hier klar erkennbar eine Stufe auf der Involution, der menschlichen Rück- und Fortentwicklung vom menschlichen Leben in Fülle bei Gott. Aber es handelt sich immer noch, und auch heute noch, um die ideale Existenz menschlichen Lebens, denn Gott selbst hat sie dem Menschen überlassen. Naturgemäß war früher das Leben als Nomaden, als umherziehende und nicht seßhafte Menschen, im wahrsten Sinne ein Leben im Ideal; der Mensch hat allerdings selbst schuld an dieser Entwicklung, durch Raffgier und Egoismus. In dem Gott dem Menschen nun das bäuerliche Dasein als nächste Stufe anbietet, weist er ihm eine Berufung zu, die der Mensch gleichsam annehmen und erfüllen muß. Hier fließen die Begriffe des Dienens“ und „Herrschens“ in ihr rechtes, harmonisches Bild. Denn „Herrschaft“ im wahren Sinne bedeutet nicht gewaltsame Unterdrückung, Unterordnung oder auch Ungleichheit, sondern vielmehr ist Herrschaft „Dienst“; auf etwas Achtgeben, etwas Behüten, Pflegen, Hegen, für etwas ganz und gar da sein, ist die eigene Existenz davon durchdringen zu lassen. So ist die gärtnerische und bäuerliche Arbeit immer schon mehr als nur „Arbeit“, denn kaum eine andere Tätigkeit ist derart eng mit dem Jahreslauf verbunden, mit der Woche, dem Sonnenauf- und Untergang, dem Lauf des Mondes, ja, schlichtweg mit dem Lauf der gesamten Schöpfung. Die Tätigkeit des Gärtners erfährt hier sogar eine biblische „Legitimation“:
„Gott, der Herr, nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, damit er ihn bebaue und erhalte.“ (Genesis: 1. Mose 2, 15)
Interessant ist beispielsweise, daß die Amish3 bis heute eben dies als Begründung für ihr bäuerliches Dasein heranziehen:
„Die Amish waren seit jeher – wie früher in Deutschland – Farmer. Für sie ist die Arbeit auf dem Land ein Teil ihrer christlichen Pflichterfüllung gemäß dem göttlichen Auftrag an Adam, ‚den Boden zu beackern, aus dem er stammt‘. (Genesis: 1. Mose 3; 23). So fühlen sie sich Gott und der Schöpfung nahe. Ein Amish-Farmer: ‚Das Land gehört Gott und es ist die Aufgabe für mich und alle Amish, uns für IHN darum zu kümmern. Wir dürfen nicht versuchen, das Land zu verändern, zu erobern oder auszubeuten. Das würde sich gegen Gottes Willen richten. Mein Weg, Gott nahe zu sein, ist, genau das jeden Tag zu tun. SEIN Land muss man ehren!‘“4
Interessant ist daran vor allem die absolute Treue zu Gottes Wort in der Bibel, die den einzigen Bezugsrahmen ausgibt, nach dem sich ein Amish zu richten hat, naturgemäß auch die Tradition in Form der Weitergabe dieser Wahrheit im praktischen Leben. Noch wesentlicher als die konkrete Ausprägung in der Lebensweise der Amish aber ist eine andere Stelle der Heiligen Schrift, in der es heißt: „den Boden zu beackern, aus dem er stammt“. Hier ist gleichermaßen ausgesagt, daß der Mensch aus demselben Boden stammt, den er nun bearbeitet, er ist also im Prinzip Teil dieses Bodens und der Boden ist Teil von ihm; wie könnte nun der Mensch den Boden vernichten (durch Überdüngung und chemische Substanzen) aus dem er doch eigentlich stammt? Ohne die direkten Glaubensüberzeugungen der Amish zu übernehmen, kann man doch von ihnen einiges lernen. Rüdiger H. H. Schneider schreibt:
„Im Laufe der Jahrhunderte haben sie gelernt, mit vielerlei Mitteln und ohne die sonst üblichen gewaltigen Farmmaschinen, Gottes Land noch fruchtbarer zu machen. Eine normale Farm beträgt bis ca. einhundert ‚acre‘, das sind rund vierzig Hektar. Bei dieser Größe kann man noch Pferde statt Traktoren verwenden und sich als Nachbarn gegenseitig helfen, was natürlich ein Vorteil ist. So bleibt die Gemeinschaft in einer engen und überschaubaren Größe. Sie arbeiten, um zu arbeiten und nicht um Freizeit und Unterhaltung zu finanzieren oder besonderen Reichtum anzuhäufen.“5
Und weiter schreibt Schneider:
„Die Gewinne investieren sie dementsprechend auch wieder in die Farm. Ihre Zufriedenheit liegt in der Bewältigung dessen, was sie gerade tun.“6
Wir sehen hier also einen Zugang zur Arbeit, der keine Unterscheidung von Privat- und Berufsleben kennt, der die Welt als organisches Ganzes wahrnimmt. Interessant ist auch, daß die Amish vor großen Herausforderungen nicht zur Gänze einknickten:
„Nach dem 2. Weltkrieg versuchte der Staat, sie dazu zu bewegen, ihre traditionelle Arbeit auf der Farm mit Pferden aufzugeben und Traktoren zu benutzen, um die Agrar-Erträge der USA – vornehmlich für den Export – zu steigern. Man begründete das vor allem mit der Hilfe für die Not leidende und hungrige Bevölkerung Europas. Außerdem, so die Regierung damals, sei diese Art der Farmarbeit unmodern und unwirtschaftlich. Einige Amish-Siedlungen folgten diesen Appell, während die Mehrheit von ihnen der alten Arbeitsweise treu blieb. Ihr Argument: Vollautomatische Farmarbeit zerstöre die Notwendigkeit, miteinander zu arbeiten. Gerade diese Zusammenarbeit in der Gruppe stellt aber für sie einen besonderen Wert dar. Auch waren sie mehrheitlich der Meinung, dass die Anschaffung teurer landwirtschaftlicher Geräte und Maschinen sie nur unnötig in Schulden stürzen und die damit einhergehende Mechanisierung und Automatisierung der Farmarbeit viele Arbeitsplätze überflüssig machen und vernichten würde.“7
Wer denkt hier nicht an die erzwungene oder freiwillige, je nach Blickwinkel, Vollmechanisierung der Landwirtschaft in Mitteleuropa, die dazu führte, daß der Bauer weit mehr „Manager“ ist und nicht mehr Hüter des Landes? Diese Vollmechanisierung stürzte nicht wenige Bauern in Schulden und/oder vollkommene Abhängigkeit von den „Förderungen“. Waren die Bauern früherer Zeiten tatsächlich zur Selbstversorgung fähig, so sind sie heute oft nichts anderes als moderne „Dienstleister“, oder „Produzenten“ von dem einen oder anderen Spartenprodukt. Ob vermeintlicher Luxus, wie Auto, Flachbildfernseher, Modekleidung etc., das Leben des Bauern besser (erfüllter!) werden ließ? Naturgemäß gehört die Fähigkeit zum einfachen, aber vollen(!) Leben ebenso zu einer Wende, wie der Wille, den modernen Versuchungen zu widerstehen. Im übrigen steht bei den Amish auch das „Handwerk“ in einer rechten Bindung an die traditionelle Lebensweise, wie Schneider schreibt:
„Ihre oft alten und von der Industrie nicht mehr hergestellten landwirtschaftlichen Geräte werden Jahr für Jahr in kleinen Amish-Werkstätten repariert, wiederhergestellt oder sogar neu gebaut.“8
Man muß hier den Autor kurz leicht „korrigieren“. Viele der Werkzeuge der Amish existierten bestimmt vor der Industrialisierung, und die Industrie vermochte sie bestimmt niemals so zu bauen, wie es kleine Handwerksbetriebe vermögen. Hier wird klar, warum Landwirtschaft und Handwerk, beide zusammen, mögliche Wege der Initiation sind, warum beide gleichermaßen dem Mensch als Wege auf dem traditionellen Leben dienen – nicht aber die moderne Industrie. Beides sind Dinge, die dem Essentiellen dienen, der Arbeit und dem traditionellen Leben; die, man kann nicht oft genug auf diesen Umstand hinweisen, in einer Welt der Einheit, der Harmonie, nicht getrennt sind. Leben ist eng mit der guten Arbeit verbunden; sie bilden eine Einheit und werden nicht als Strafe verstanden, sondern als Weg hin zur Erfüllung. Traditionelle Handwerkskunst ist weit mehr als maschinelle Fertigkeit. Darauf nun hier auch noch einzugehen, würde allerdings den Rahmen bei weitem sprengen.
Natürlich geraten auch die Amish, das soll hier keineswegs verschwiegen werden, in den Bann der modernen Problemstellungen: Landknappheit und verschiedene andere Faktoren bedrohen auch das ursprüngliche Leben dieser Gemeinschaft; die Grundsätze sind aber immer noch ungebrochen vorhanden, und diese Herausforderungen werden durch eine außer Rand und Band geratenen Welt an die Amish herangetragen, nicht umgekehrt. Vielleicht wird die anhaltende und sich sicherlich weiter verstärkende Krise der Wirtschaft und Gesellschaft der westlich lebenden Welt diese Entwicklung eines Tages aufhalten und ein Leben der Tradition wieder voll umfänglich gewährleisten oder es aber zumindest nicht unmöglich machen. Möglicherweise, das ist nicht mit Sicherheit feststellbar, ist eines Tages ein harmonisches Leben für viele auch dann möglich, wenn es nur unter Schwierigkeiten verwirklichbar ist. Wenn wir aber zu dieser Einheit finden wollen, dann müssen wir uns der Einheit alles Geschaffenen bewußt sein:
So sagt uns Gott durch die Heilige Schrift, daß die Tiere unsere Mitgeschöpfe sind:
„Und Gott sprach weiter: ‚Die Wasser sollen ein Gewimmel lebender Seelen hervorwimmeln (…). Und Gott ging daran, die großen Seeungetüme zu erschaffen und jede lebende Seele, die sich regt (…)‘“ (Genesis: 1. Mose 2, 20–21)
In der einen Bibelübersetzung heißt es „Lebewesen“, in einer anderen schlicht „lebender Seelen“; ausgesagt ist mit den unterschiedlichen Wörtern aber im Grunde genommen dasselbe: die Tiere sind beseelt, sie sind Lebewesen, die wie wir Menschen auch von Gott geschaffen wurden, sie leben und haben eine eigene Existenzberechtigung.
Diese Existenzberechtigung stellt sie grundsätzlich dem Menschen als Geschöpfe, mit den Einschränkungen der konkreten Lebensform, gleich. Ihre willkürliche Tötung, die also nicht der direkten Nahrungsnotwendigkeit, nicht der Ernährung dient, muß folgerichtig Sünde sein. Das rechte Maß ist ein wesentlicher Begriff in dieser christlichen Perspektive; ist dieses rechte Maß nun nicht mehr gegeben, dann muß es der Mensch nach Kräften wiederherstellen. So ist die moderne Massentierhaltung eine Verletzung des biblischen, des rechten Maßes; sie ist eine Versklavung und Knechtung von Gottes eigenem Geschöpf. Die modernen Form der Landwirtschaft stellt ja keineswegs notwendige Nahrungsmittel her, sondern sie dient der Völlerei, dem Überfluß und letztlich der Sünde.
Ganz klar ist die Heilige Schrift auch in Bezug auf dieses rechte Maß, wenn es im Buch der Sprüche heißt:
„Sei nicht bei denen, die dem Weine frönen, bei denen, die im Fleischgenusse schlemmen! Der Säufer und der Schlemmer wird verarmen, und Schläfrigkeit bekleidet dich mit Lumpen.“ (Sprüche 23, 20–21)
Diese „Verarmung“, von welcher die Heilige Schrift zeugt, finden wir sie nicht heute überall auf der Welt, materiell wie auch geistig? Wer wäre heute noch in der westlichen Welt in der Lage, seine Nahrung selbst anzubauen? Entweder ist durch die Bauwut landwirtschaftliche Fläche überhaupt verschwunden, oder aber der Mensch interessiert sich nicht für die Landbauweise; sie ist ihm fremd geworden, er ist ihrer überdrüssig und kauft sich allerlei Ramsch im Supermarkt. Die Heilige Schrift verurteilt im Grunde nicht unbedingt den Wein- oder Fleischkonsum; sie setzt der Konsumierung beider Güter allerdings klare und eindeutige Grenzen. Dort, wo die Ernährung und der maßvolle Genuß endet, dort beginnt die Völlerei, die Trunkenheit und in weiterer Folge auch die Sündhaftigkeit. Alexander Solschenizyn schrieb einmal:
„Welchen Weg ich wirklich vorschlage – damit habe ich meine Rede in Harvard beendet und kann es hier nur wiederholen: den Weg aufwärts. Ich meine, dieses luxuriös-materielle 20. Jahrhundert hat uns alle zu lange im halbtierischen Stadium festgehalten, die einen aus Überfluß, die anderen aus Hunger.“9
Der Teil „(…) die einen aus Überfluß, die anderen aus Hunger“ trifft das Dilemma der heutigen Zeit tatsächlich auf den Punkt. Der Überfluß der einen ist für den Hunger der anderen verantwortlich. Man kann nämlich unter diesem „Hunger“ einerseits den tatsächlich physischen Hunger verstehen , aber auch den „Hunger“ nach einem vermeintlichen Leben in Luxus. Das Dilemma der letzten noch traditionell lebenden Gemeinschaften ist ja oft, daß sie nach einem „Leben“ streben, das ihnen den Tod bringt.
Das Neue Testament ist ebenso klar in der Beschreibung der Folgen eines unbiblischen Umgangs mit der Schöpfung:
„(…) und zu verderben, die die Erde verderben“ (Offenbarung 11,18).
Hier ist naturgemäß nicht nur das menschliche Leben gemeint, sondern die Erde als Gottes Schöpfung und damit alle Geschöpfe. Naturgemäß muß man nun weiter fragen: Wie kann ein biblisches Leben, eben ein Leben in Harmonie, heute noch gelingen?
Die „Einheit alles Geschaffenen“, diese tiefe Wahrheit ist dem harmonisch-naturnahen Weltbild tief eingeprägt und sie wurzelt auch, aber freilich nicht nur, in der christlichen Überlieferung. Die Betrachtung zur „Einheit“ soll mit dem Christentum beginnen, da es jene Überlieferung ist, die uns am nächsten steht. Die Fehldeutung des Menschen als „Krone der Schöpfung“ hat gewiß gerade im westlichen Christentum – hier ist das römisch-katholische gemeint –, zu gefährlichen und bedenklichen Verengungen geführt. Wir müssen bei dem Bild des Menschen als „Krone der Schöpfung“ einen Moment verweilen um die rechte Bedeutung dieses Bildes für unser Dasein zu erfassen. Der Mensch ist Körper und Geist (Seele), er besitzt also eine sinnlich-wahrnehmbare und eine übersinnlich-verborgene Seite.
Wenn es in der Heiligen Schrift heißt:
„Gott, der Herr, nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, damit er ihn bebaue und erhalte“ (Genesis: 1. Mose 2,15),
dann ist damit bereits vorgegeben, worum es zunächst einmal geht: Gottes Schöpfung zu bewahren und zu erhalten. Herrschaft muß sich stets nach Gerechtigkeit und Umsicht sehnen. Das Christentum ist, wie die Tradition an sich, ein geschlossenes System, das die Harmonie und die Balance alles Geschaffenen garantiert, sofern diese Harmonie in Einheit gelebt wird; Einheit mit allem Geschaffenen, Umsicht und Umschau. Dazu zählt ein großes Maß an Selbstbescheidung, ein Geist echten Fastens als eine Art Gegenstück zur modernen Verschwendung. Und es zählt dazu ein großes Maß an Umsicht. Die Schöpfung ist von Hybris und Egoismus freizuhalten, von menschlichem Gewinnstreben und Völlerei. Diese Einheit alles Geschaffenen zu behüten und zu bebauen, ist die größte Aufgabe eines jeden Menschen. Damit ist naturgemäß auch gesagt, daß gerade die rechte Ausübung der landbaulichen Berufe (Gärtner und Bauer) im wahrsten Sinne des Wortes edle Berufe sind, die in ihrer Tätigkeit alleine Gottesdienst sein können. Der moderne Mensch, der diesem Leben entfremdet ist, kann natürlich auch das seinige tun, um dieser Einheit, dieser göttlichen Ordnung, in rechter Weise zu dienen: So erzählte mir eines Tages ein Sufi, daß man die Bäume stets mit „Salam“ grüße. Dieser Gruß, der ja viel mehr als nur ein „Gruß“ ist – er ist viel mehr rituelle Formel, Gebet, Anrufung, Segenswunsch –, stellt eine direkte Kommunikationslinie zwischen dem Grüßenden und seinem Gegenüber her. Wer auch nur annähernd die islamisch-sufistischen Höflichkeitsregeln kennt, der weiß um die tiefe und auch wichtige Bedeutung dieses Grußes. Aber nicht nur das: Wenn ich mich als Gärtner oder als Bauer in dieser Weise meinem zu bearbeitenden Baum nähere, dann stelle ich mit ihm nicht nur eine emotionale Bindung her, die sich eben auf der rein menschlichen Ebene bewegen würde, sondern ich erkläre mich und den Baum zu Verbundenen in der einen Existenz. Dieser Zugang, der natürlich aus einem tiefen Glauben erwächst, ist es, der die Einheit alles Geschaffenen, alles, welches sich der Zugehörigkeit zu dem einen Zentrum rühmen kann, wiederherstellen kann. So geht es mir immer, wenn ich mich einem meiner Obstbäume nähere. Zunächst betrachte ich den Baum, er wird von mir erzogen, seine Wuchsform wird behutsam so verändert, daß Ertrag und natürliche Bedürfnisse eine möglichst hohe Harmonie bilden. Mit der Zeit lerne ich den Baum so kennen; das alles ist allerdings weit von jeder Verkitschung entfernt, all dies muß einer natürlich organischen Bewegung folgen, die letztlich in der Überlieferung wurzelt. Es sind diese relativ kleinen Schritte, die die eine Ordnung in uns und mit der Natur um uns wiederum herstellen, es sind kleine Schritte, keine großen Stampfer, die die Ordnung wieder errichten und für ein dauerhaftes Gleichgewicht zu sorgen vermögen. Und insofern beginnt eine Umkehr immer zuerst in uns selbst, dann in unserer unmittelbaren Umgebung und dann erst vielleicht in den nächsten Kreisen menschlicher Organisationsformen. Diese letzte Änderung, also die Änderung menschlicher Gemeinschaft, ist aber kein Ziel an sich; es ist unser erstes und direktes Bestreben, beim einzelnen Menschen mit der Änderung zu beginnen, und das kann dieser Mensch nur ganz selbst für sich tun. Alles andere wäre unfruchtbarer Totalitarismus. Natürlich kann man vorsichtig Leitlinien aufstellen, man kann die Überlieferung wieder in Erinnerung rufen, und man kann auch unumstößliche Grundregeln aufstellen, die die Orientierung erleichtern, aber die Änderung muß zunächst jeder Mensch bei sich beginnen, erst dann kann die „Herde“ gelenkt werden. Alexander Solschenizyn merkte in diesem Zusammenhang einmal an:
„Ich sehe für die Menschheit keine andere Rettung als die Selbstbeschränkung jedes einzelnen und jedes Volkes.“10
Diese Selbstbeschränkung können wir auf unser Verhältnis zur Natur umlegen, und diese Selbstbeschränkung ist auf unser Verhalten im Konsum anzuwenden. Es kann gerade auch in dieser Welt des 21. Jahrhunderts geboten sein, und es ist in der Tat geboten, Widerstand durch Verzicht zu leisten, Fleischkonsum auf ein Minimum zu reduzieren oder gänzlich auf Fleisch zu verzichten, wenn das rechte Maß nicht mehr gegeben ist – und es ist nicht mehr gegeben. Wir sollten diesen Sensus für die Einheitlichkeit der Schöpfung wiedererlangen, wir sollten erkennen, daß es letztlich nur diese Einheit ist, die uns ein gerechtes und gottgefälliges Leben ermöglicht. Vieles ist in unserer Welt eben nicht mehr selbstverständlich, daher beginnt Änderung immer als ein persönlicher Akt des Willens zu einer solchen Änderung. Und genau das brauchen wir heute: den Mut, die Dinge zu erkennen, aber noch mehr den Mut zur Umkehr11, zur Änderung unseres eigenen Verhaltens.
Nicht nur die traditionelle Landwirtschaft, auch das echte Handwerk sind mögliche Wege der Initiation, weil in beiden Leben und Arbeit eine Einheit bilden.
Gregor Semrad/Mark Perry, Traditionelle Handwerkskunst in Österreich, 2. Aufl., Leopold Stocker Verlag, Graz, 2012, 160 S., 300 Farbabb., HC, € 22,90.
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1 Hier ist zum Beispiel auf die „Waldviertler Schuhe“ zu verweisen. Heini Staudinger produziert diese sehr erfolgreich und auch qualitativ hochwertig.
2 Unter Initiation wird hierbei die Vollendung des menschlichen Daseins verstanden, Harmonie bedeutet mit sich und Gott im
Reinen zu sein und damit auch mit der Schöpfung. Alles Leben ist Annäherung; die Vollendung, die natürlich jeder Christ anstrebt, ist ohnehin nur nach unserem irdischen Dasein möglich.
3 Es wird nun unweigerlich der Vorwurf oder der Anwurf laut werden, der Autor dieser Zeilen verherrliche die Gemeinschaft der Amish. Ich selbst bin gewiß der Überzeugung, daß diesem Leben, dieser Form des Lebens, ein tiefer Gehalt an Wahrhaftigkeit innewohnt, ob aber der Amish-Glaube „wahr“ ist, das vermag ich nicht zu beurteilen.
4 Schneider, Rüdiger, H. H. , Die Amish – Von Gewaltlosigkeit und Widerstand – Überleben in drei Jahrhunderten, Edition Octopus, 2007, S. 156. Die Kursivschreibung und die Betonung einzelner Wörter durch Großschreibung entspricht dem zitierten Originaltext von Rüdiger H. H. Schneider.
5 Ebenda, S. 156–157.
6 Ebenda, S. 157.
7 Ebenda, S. 160–161.
8 Ebenda, S. 161.
9 Solschenizyn, Alexander, Warnung – die tödliche Gefahr des Kommunismus, Frankfurt/M., Berlin, Wien, 1980, S. 97.
10 Ebenda, S. 101; Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Alexander Solschenizyn bereits 1980 im selben Text den Naturschutz gleichwertig neben dem Schutz anderer traditioneller Werte nennt: „Ich rief dazu auf, uns aus dem Abgrund des Alltagsdaseins und der Moral zu erheben, in dem unser Volk lebt, vor allem aber, die Kinder vor ideologischer Verdummung, die Frauen vor körperlicher Schwerstarbeit, die Männer vor Trunksucht, die Natur vor Verschmutzung zu schützen (…)“ Ebenda, S. 89.
11 Man kann und darf nicht müde werden zu betonen, daß diesen doch mehr grundsätzlichen Bemerkungen auch praktisch umsetzbare Regeln folgen sollten. Dazu fehlt hier aber der Raum. Eine solche „Umkehr“ muß jedenfalls zunächst bei jedem einzelnen beginnen und muß auch praktische Konsequenzen nach sich ziehen. Ein Beispiel: Die lächerliche, aber gefährliche, „Revolte“ der 1960er und 1970er Jahre, vornehmlich von verwöhnten Studenten, ist jedenfalls das absolute und auch krasse Gegenteil dessen, was hier unter „Umkehr“ verstanden wird. Hier wird auch nicht mit der linken oder aber der völkischen „Ökologiebewegung“ sympathisiert, vielmehr sollte in diesen beiden Essays klar nachgezeichnet werden, daß eine naturnahe-harmonische Lebensweise eben dem Christentum ureigen innewohnt und es keinem, möglicherweise auch noch so gut gemeintem, „Flirt“ mit sowohl linken als auch völkischen „Ökologiebewegungen“ bedarf.