Laut einer Umfrage ist Joseph Beuys in Deutschland ebenso bekannt wie Albrecht Dürer. Der eine steht für die gute traditionelle Kunst, der andere für die schlechte zeitgenössische. Beuys ist der Inbegriff für jenen Kunstmüll, den die Museen in der Bundesrepublik für viel Geld angekauft haben. Bei genauerem Hinsehen jedoch sind Beuys und Dürer nicht nur Gegensätze, sondern es gibt auch Gemeinsamkeiten. Beide gründen in der Zeichnung. Denn zeichnen konnte Beuys, wenn auch in seinen Werken wenig davon zu merken ist. Beide Künstler finden ihren Glauben in der Natur. Mit seinen Fett-, Filz- und Honigobjekten tritt Beuys gegen die kommerzielle Glitzerwelt und insbesondere die amerikanische Pop-Art an. Und schließlich handelt es sich wie bei Dürer um einen sehr deutschen Künstler. Doch Dürer bleibt sich treu, an Beuys läßt sich zeigen, wie ein deutscher Mensch sich in der Jagd nach dem Erfolg selbst verrät.
Hans-Peter Riegel sieht das freilich anders. Für den Verfasser der neuen umfassenden Biographie von Joseph Beuys sind es die „deutschtümelnden“ und „okkulten“ Neigungen, die die künstlerische Bedeutung von Joseph Beuys schmälern. Darum seien diese Neigungen auch bisher verschwiegen worden. Riegels Buch möchte zwar nicht denunzieren, aber aufdecken will es schon. Es richtet sich gegen den „Beuys-Mythos“. Als Medienstar tummelte sich der Künstler überall dort, wo der Zeitgeist wehte. Regelmäßig erscheint er auf der „documenta“-Messe in Kassel, die in den 70er Jahren als heiliger Gral der modernen Kunst fungierte. An der Düsseldorfer Kunstakademie führte er schon in den 60er Jahren antiautoritäre Methoden ein und spaltete die Professorenschaft. Auf dem Kunstmarkt in seiner Heimatstadt Düsseldorf stiegen die Preise ins Abenteuerliche. Und in der Gründungsphase der „Grünen“ war Joseph Beuys mit Petra Kelly und Rudi Dutschke wieder dabei. Immer in der grünen Anglerweste. Sein Credo lautete: „soziale Plastik“. Statt im Atelier isoliert an einzelnen Werken zu arbeiten, sollte der Künstler das öffentliche Leben mitgestalten. Solche Auffassungen kamen in einem linken Klima wunderbar an. Zwar verstanden die meisten nicht, weshalb Beuys ausgerechnet einen Hasen vor Publikum zerlegen oder ein Klavier in Filz einpacken mußte, doch von der „avantgardistischen“ Zielrichtung seiner Arbeit waren sie überzeugt.
Die Bewunderer hatten sich wenigstens teilweise geirrt. Beuys wirkt zwar links und modern, doch die Bedeutung seiner eigenartigen Kreationen weist in eine ganz andere Richtung. Daran kann man nach der 500-seitigen Biographie von Riegel nicht mehr zweifeln. Die Entdeckung ist überraschend, aber nicht einmalig. Schon bei dem österreichischen Dichter Thomas Bernhard (siehe NO 01/11) hatte sich gezeigt, wie hinter einer modernen Ikone eine geradezu antimoderne Substanz zum Vorschein kommt. Wenn man sich also fragt: Wo sind nach 1945 die großen künstlerischen Begabungen geblieben, so findet man hier eine Antwort. Sie stecken in einer Mimikry, die nicht einmal ihnen selbst ganz durchsichtig ist.
Der Beuys-Mythos beginnt mit der „Tataren-Legende“. 1943 wird der Kriegsfreiwillige über der Krim abgeschossen und bleibt mehrere Wochen verschollen. Immer wieder hat Beuys später von dem Erlebnis erzählt. Hilflos in Schnee und Eis hätten ihn Einheimische gefunden und gerettet, indem sie ihn mit Fett einrieben und in Filz wickelten. Die Vorliebe für diese Materialien leitet sich angeblich von dem Kriegserlebnis her. Außerdem hätten ihn die „Nomaden“ gelehrt, daß man nur durch die Natur Heilung findet. Riegel weist jedoch nach, daß in der Gegend, wo Beuys abstürzte, gar keine Nomaden leben. Die dort angeblich erlernten Weisheiten stammen von Rudolf Steiner, mit dem sich der Künstler nach dem Krieg intensiv beschäftigte. Steiners Anthroposophie blieb für sein gesamtes Denken grundlegend. Allerdings hat Beuys es zeitweise vorgezogen, sich nicht ausdrücklich auf Steiner zu beziehen, weil dies bei Künstlerkollegen auf Unverständnis stieß. Die Lehre, wonach Deutschland seine Orientierung eher im Osten suchen sollte als im Westen, gehört ebenfalls zu Steiner. Sie verweist aber auch auf die Konservative Revolution. Beuys zog es vor, seine geistige Prägung auf das Erlebnis mit den hilfsbereiten Kriegsgegnern zurückzuführen. Das kam politisch allemal besser an.
Wie wird man Künstler? Es gibt die romantische Vorstellung, wonach das Genie ganz im Verborgenen seine Werke schafft, bis es rein zufällig entdeckt wird. Das ist sicher unrealistisch. Dennoch wundert man sich über die pragmatische Einstellung, die der junge Beuys an den Tag legt. Die Bestandsaufnahme des Kriegsheimkehrers fällt dürftig aus: „Ich wusste ja gar nicht, welche Fähigkeiten ich habe. Ich hatte ja fast nichts gemacht.“ Das Abitur hatte er kriegshalber versäumt. Aber auch künstlerisch lag von dem 23-jährigen beinahe nichts vor. Trotzdem setzte sich „Jupp“ ein klar umrissenes Ziel: die Aufnahme in die Düsseldorfer Kunstakademie. „Wie macht man sowas,“ fragte er, „wie kommt man da rein?“ Eine Mappe müsse er vorweisen. „Da bin ich zu einem Bildhauer gegangen. Da habe ich dann angefangen, Sachen zusammenzustellen, Zeichnungen und Skulpturen. Damit bin ich dann zur Akademie gegangen.“
Als Lehrer suchte sich Beuys gleich den bekanntesten Professor aus: Ewald Mataré. Bei mangelnder Begabung hätte er wohl keine Aufnahme in dessen Klasse gefunden. Später erklärte Mataré: „Joseph Beuys war mein bester Schüler. Leider ist er verrückt.“ Diese „Verrücktheit“ führte dazu, daß der Akademie-Absolvent trotz einer gewissen Umtriebigkeit in den ersten zehn Jahren erfolglos blieb. Für den Lebensunterhalt sorgte seine Frau, einer Kunsterzieherin. Mit Eva Beuys, geborene Wurmbach, tritt nach Rudolf Steiner eine weitere politisch verdächtige Gestalt in sein Leben. Denn Eva ist die Tochter des Zoologie-Professors Hermann Wurmbach, der sich nationalsozialistisch betätigt hatte. Trotz seiner unbürgerlichen Lebensweise fand Beuys hier Verständnis. Mit dem Schwiegervater verband ihn das Interesse für die Natur.
Mehr als der Geldmangel drückte den Künstler die fehlende Anerkennung. Dabei entsprachen die Objekte, die er herstellte, durchaus den modernen Anforderungen. Sie bildeten keine Realität ab und schon gar nicht den menschlichen Körper, wie es die Bildhauerei seit der Antike getan hatte. Allerdings handelte es sich auch nicht um abstrakte Gebilde, wie man sie gern vor öffentliche Gebäude stellte. Vielmehr beschäftigte Beuys sich damals schon mit der sogenannten „Konzeptkunst“. Hier geht es weniger um das Herstellen eines Kunstprodukts, sondern um die Darstellung eines Gedankens mit möglichst adäquaten Mitteln. Diese Mittel halten sich nicht an die traditionellen Auffassungen von Kunst. In diesem Sinne erklärte Beuys später seinen Schülern: „Der Fehler beginnt schon damit, daß man sich Leinwand oder Gips kauft.“ Dekorative Gegenstände herzustellen wie Gemälde und Plastiken, hat nach dieser Auffassung keinen Sinn mehr, weil das Schöne inzwischen industriell in Massen gefertigt werden kann.
Die Krise, in die die Kunst geraten ist, hat viel mit der technischen Reproduzierbarkeit zu tun. Bilder überschwemmen die Netzhaut, wo im Mittelalter schon der Anblick der wenigen Gemälde und Statuen in der eigenen Kirche den Betrachter überwältigten. Der Künstler ist durch die synthetische Bilderflut der Medien aufs Stärkste herausgefordert, und entsprechend gewaltsam und schrill fallen die Antworten aus. Wenn von „Verrücktheit“ die Rede ist, so ist damit jedoch nicht nur die Provokation der modernen Kunst gemeint. Beuys fällt noch in besonderer Weise aus dem Rahmen. Das merkt man schon seinen frühen, noch weitgehend unbeachteten Ausstellungen an. Es handelt sich um Zusammengesammeltes, Zurechtgeschnittenes und Geleimtes, wie es typisch für die „Konzept-Kunst“ ist, doch haftet dem Ganzen etwas Naturhaftes, Tierhaftes, Erdhaftes und zugleich Religiöses an. Wiederum stößt man auf die Lehre von Rudolf Steiner. Doch Steiner schöpft aus älteren Quellen, aus den Schriften von Goethe, aus der idealistischen Philosophie, aus der Mystik von Meister Eckhard. Diese Gedanken will Beuys unbedingt vermitteln und zugleich Anschluß an die gegenwärtige Kunstszene gewinnen. Das kann nicht gelingen: „Angesichts der großformatigen, aggressiven Gemälde des Abstrakten Expressionismus wirkten Beuys’ introvertierte Tier- und Sakralmotive überholt“, erklärt der Biograph. „Zudem stand Beuys mit einer Reihe seiner kulturellen Vorlieben Geisteshaltungen nahe, die als geschichtlich belastet galten.“ Mit anderen Worten: „Beuys bewegte sich in einer selbst gewählten intellektuellen Diaspora.“ Und: „Mit seinen Vorlieben und Haltungen, mit seiner diffusen Innerlichkeit wirkte Beuys wie aus der Zeit gefallen. Er stand abseits, unbeachtet, scheinbar ungerührt und doch glühend in seinem Sendungsbewusstsein.“ Das konnte nicht gut gehen. Mit Mitte dreißig gerät der Künstler in eine schwere Depression.
Die mehr als ein Jahr dauernde depressive Phase würde man heute mit Medikamenten und auch stationär behandeln. Beuys unternimmt zwar keinen Suizidversuch, doch verweigert er ernsthaft die Nahrungsaufnahme und zieht sich in die völlige Sprachlosigkeit und Passivität zurück. Wie viele erlebt er die Krise als Lebenseinschnitt und behauptet später, in der Tiefe verwandelt zu sein. Doch in welcher Weise? Gewissermaßen stellt die Depression eine Parallele zu dem Kriegserlebnis dar. Beides sind Wendepunkte. Im russischen Winter findet Beuys zur Natur als Grundbestimmung. Die Depression zeigt dann aber, worauf er trotzdem nicht verzichten kann: den Beifall der Menge. Als Künstler muß er sich so präsentieren, daß die Anerkennung eintritt. Um jeden Preis. Denn ohne sie kann er nicht leben.
So schließt sich Beuys nach seiner Genesung einer internationalen Künstlergruppe an. Das ist Voraussetzung für den großen Durchbruch. Die Gruppe heißt „Fluxus“ und widmet sich vor allem der „Aktionskunst“. Dabei werden vor Publikum bestimmte Handlungen ausgeführt, die zunächst einmal Befremden, Erstaunen und Irritation auslösen sollen. Man will den vielen Selbstverständlichkeiten etwas Sperriges, Nicht-Konsumierbares entgegensetzen. Die Skala bewegt sich zwischen Langeweile und enervierendem Krach, womit sich die Akteure von „Fluxus“ bereits einen Namen gemacht haben. Der unbekannte Beuys wird von der Gruppe akzeptiert. So „verhalfen ihm die um eine Generation jüngeren Fluxus-Künstler zum Einstieg in eine sich dynamisch entwickelnde, international ausgerichtete Kunstavantgarde“, stellt Riegel fest. Und zwar „auch auf die Gefahr hin, als Fellowtraveller (Trittbrettfahrer) zu erscheinen. Mit seinem Vorgehen offenbarte Beuys taktisches Kalkül.“
Man kann nicht behaupten, daß sich hier ein Traditionalist aus taktischen Gründen modernisiert. Denn traditionell ist Beuys nie gewesen. Doch eine Anpassung nimmt er mit „Fluxus“ durchaus vor. Die Frage „Wie macht man das? Wie kommt man da rein?“ bewegt ihn erneut. Anschluß aber findet man durch bekannte Namen. Sie lauten Nam June Paik und Charlotte Moorman. Was Beuys jedoch bei den „Fluxus“-Auftritten zeigt, unterscheidet sich von den Auftritten der Amerikaner deutlich. Es trägt bereits die entwickelte Handschrift des Deutschen: geheimnisvolles Raunen und schwere, teils stinkende Materialien, alles mit tiefgründiger Bedeutung aufgeladen: „Die Reaktionen des Publikums, als Beuys den Hasenleib öffnete, dann als er das Herz herausschnitt, bewegten sich zwischen Erschrecken und Ekel. Der Kontrast zu den ironisch dadaistischen Performances zuvor konnte nicht größer sein. Beuys hatte sich um Mitwirkung bei der Fluxus-Gruppe bemüht, doch schon mit seiner ersten Aktion jedoch markierte er Distanz“, erklärt Riegel. Der Künstler hat nun sein Erfolgsrezept gefunden: im Kulturbetrieb mitmischen und dabei sein eigenes Süppchen kochen.
In den folgenden Jahren profiliert sich Beuys mit einer Reihe von Werken, die bis heute in allgemeiner Erinnerung geblieben sind. Da wäre vor allem die mit Pflastern beklebte Badewanne, in der nichtsahnende Bauarbeiter ihr Bier gekühlt haben sollen. Nach einer anderen Version war es die Putzfrau, die die Pflaster sorgsam entfernte. Klassisch geworden sind auch die „Fettecken“, mit denen Beuys seine Objekt versah. Butter, Margarine oder Schweineschmalz wird mit dem Spatel freigebig platziert, um einen „Wärmepol“ zu schaffen. Immer wieder spricht er von der „Todeszone“, womit aber weder der Mount Everest gemeint ist noch die Konzentrationslager, sondern das ganz normale zivilisierte Leben. Neben Fett schätzt der Künstler auch den Honig als Synonym für Wärme und Leben und installiert für die Ausstellungsbesucher eine eindrucksvolle „Honig-Pumpe“. Neben Bienen und Hasen inspirierten ihn auch die Wölfe. Auf sieben Kinderschlitten sind Pakete mit dem „Lebensnotwendigen“ festgeschnallt, das Ganze firmiert unter dem Titel „Das Rudel“ (The Pack). Zu dieser Zeit ist Beuys schon so erfolgreich, daß er auch einzelne Schlitten in Kopie an weniger bemittelte Kunstfreunde verkaufen konnte. Ansonsten hat er zum Unternehmertum keine Berührungsängste. Es sind keineswegs nur die staatlichen Museen, die für derartige Schöpfungen viel Geld ausgeben. In erster Linie tragen private Sammler den Beuys-Boom. Was den Künstler nicht hindert, in den Chor der Kapitalismus-Kritik einzustimmen.
Berühmt geworden, hielt Beuys den Zeitpunkt für gekommen, seine Mission auch politisch vorzubringen. Zunächst gründet er eine eigene Partei, die sogenannte „Studentenpartei“, und macht Krawall. Als die Studentenunruhen vorbei waren, beteiligte sich Beuys am „Ständigen Jahreskongreß Dritter Weg“, wo es um Demokratisierung, aber auch um die Wiedervereinigung Deutschlands ging. Die deutsche Frage war für den Künstler, wie nicht anders zu erwarten, eine metaphysische Frage: „Im deutschen Volk,“ erklärte er auf dem Kongreß, „steckt, wie schon gesagt, die Auferstehungskraft, die selbstverständlich auch in anderen Völkern steckt, aber die unsere wird sich durch radikal erneuerte Grundlagen des Sozialen hindurch ereignen. Muss sich so ereignen.“ Mit dem „Sozialen“ war bei Beuys nicht so sehr die ökonomische Gerechtigkeit gemeint, sondern so etwas wie Volksgemeinschaft. Die Mitarbeit an der „sozialen Plastik“ – sein Begriff für Volkskörper – sollte jeder an seinem Platz leisten. In diesem Sinne ist auch der viel zitierte Satz „Jeder ist Künstler“ zu verstehen.
Das alles wäre noch nicht so schlimm gewesen, wenn nicht beim „Jahreskongreß“ und später bei der „Aktionsgemeinschaft unabhängiger Deutscher“ (AUD) bestimmte Personen mitgewirkt hätten, die eher dem nationalen Lager zuzuordnen waren. Dazu gehörte der ehemalige Angehörige der SS, Karl Fastabend, über viele Jahre der engste Mitarbeiter von Beuys, oder der ehemalige Waldorf-Lehrer Wilhelm Schmundt, Bruder des Hitler-Adjutanten Rudolf Schmundt, der beim Attentat vom 20. Juli schwer verwundet wurde. Wilhelm hatte bei Kriegsende im Stab der Heeresversuchsanstalt Peenemünde gewirkt. Hinzu kamen August Hausleiter sowie dessen langjähriger Mitstreiter Werner Haverbeck, Präsident der deutschen Sektion des „Weltbundes zum Schutz des Lebens“. Auch diese Organisation gilt als „rechtsextrem“. Selbst seine beiden wichtigsten Sammler hatten dem Nationalsozialismus nahe gestanden: Karl Ströher von der Firma Wella und der Bauunternehmer Erich Marx.
So gab es einige Kritiker, die das künstlerische Phänomen Beuys in einem gefährlichen Licht sahen: „An diesem verfilzten Schimmel-Schummer-Kult entzündet sich vor allem das jungdeutsche Gemüt und gedenkt ergriffen der hehren Fahnenweihen, der Fackelzuge, des Beiltausches und der übrigen verflixten Blinddarmentzündungen germanischen Brauchtums. Ein jeweils neuer, mystisch verbrämter, teilweise mit christlicher Terminologie aufgemöbelter Gartenzwergbanalfetischismus wird als lebensnotwendig und revolutionär gepriesen“, so schimpft ein Akademie-Kollege. Andere bewunderten gerade diese Qualität: „Der Schockprophet Joseph Beuys ist die deutsche Schlüsselfigur. Man muß nicht gleich von Magie und Mythos sprechen, sobald man seine Produkte sieht. Allerdings sind die Dinge so unperfekt, daß sie gegenüber den sterilen Requisiten des modernen Alltags wie versteinerte, abgestorbene Glieder der Protagonisten eines grausamen Wintermärchens wirken. Beuys selbst nicht ausgenommen.“
Seitdem der Deutsche auch in den USA ausstellt, was für deutsche Künstler zur damaligen Zeit noch ungewöhnlich ist, tritt immer mehr der Gegensatz zur gefälligen, schicken Pop-Art hervor. Und der Antiamerikanismus: Um zu vermeiden, amerikanischen Boden zu betreten, läßt Beuys sich auf dem Kennedy-Airport in Filz wickeln und in einem verhängten Ambulanzwagen zur Galerie transportieren. Dann wird ein lebender Kojote (eine Art Fuchs) angeschafft und zu Kunstzwecken dressiert. Beuys will damit das Erbe der nordamerikanischen Indianer wiedererwecken, wo der Kojote eine zentrale mythische Rolle spielt. Die „Installation“ richtet sich gegen die moderne USA. Das Kunstpublikum ist nicht durchweg begeistert. Ein Kritiker drückt das „Empfinden mancher Amerikaner“ aus, „die sich bereits mit der Vorstellung schwertaten, einen ehemaligen Hitlerjungen und Kampfflieger im Guggenheim Museum zu sehen. Beuys’ als dunkel und morbid empfundene Kunst weckte Assoziationen zu einem Deutschland, das man endgültig begraben sehen wollte.“
Im Verlauf der 70er Jahre rückte der Zeitgeist von der Pop-Kultur allmählich ab und an die von Beuys zäh festgehaltene Anthroposophie Steiners wieder heran. Nicht nur, daß die Waldorf-Schulen neuen Zulauf erhielten, es bereitete sich auch die Gründung einer „grünen“ Partei vor. Konservative Kreise um Herbert Gruhl veranstalten am 17. und 18. März 1979 in Frankfurt einen Kongreß mit dem Ziel, verschiedene Umweltinitiativen zu einem Wahlbündnis für die kommende Europawahl am 10. Juni zu verschmelzen. Da ist die Teilnahme eines bekannten Künstlers nur willkommen. Seine Sichtweise der Ökologie fällt allerdings gewohnt radikal aus. Der ökologische Anbau ist für Beuys nicht weniger als „eine Religionsfrage“.
Das Zusammenwirken von Naturmystikern und Apokalyptikern auf der einen, zielstrebigen linken Karrieristen auf der anderen Seite war bekanntlich nicht von langer Dauer. Beuys überwand den Rückzug von Petra Kelly nicht, die er als Lichtgestalt gesehen hatte. Die Grünen ihrerseits brauchten keine Charismatiker mehr, da sie inzwischen genug Wählerstimmen hatten. Unter dem Motto „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ begann Beuys am 16. März im Alleingang ein grünes Projekt. Die im Krieg zerstörte und von den Bausünden der Nachkriegszeit entstellte documenta-Stadt Kassel sollte mit der Pflanzung von 7.000 Eichen „geheilt“ werden. „Der Mensch muß die Verbindung mit dem Außerrationalen wieder herstellen, nach unten mit den Tieren, Pflanzen, der Natur und nach oben mit den Engeln und Geistern.“ Der Künstler sah sich in der Tradition der Schamanen, der archaischen Priester. Daher auch das Verständnis für ähnliche Gestalten. In Hitler entdeckte er wie bei Baader und Meinhof „ein Beispiel fehlgeleiteter kreativer Energien“.
Über den Fall Beuys hinaus bietet die Biographie von Hans-Peter Riegel eine Gelegenheit, sich mit zeitgenössischer Kunst und ihrer Vermarktung genauer zu beschäftigen. Trotz der 500 Seiten bleibt das Buch immer spannend. Die ewige Frage nach dem Sinn zeitgenössischer Kunstwerke wird zumindest an einigen Beispielen beantwortet. Mit Hilfe bestimmter Informationen wird manches, was vorher nur Kopfschütteln hervorrief, doch noch nachvollziehbar. Ohne jedes Vorwissen sind auch die traditionellen Werke nicht zu würdigen. Der Unterschied besteht allerdings darin, daß der traditionelle Künstler sich auf die Bibel und auf das Altertum bezieht, während die Modernen eine Privatmythologie entwickeln, die immer nur für einen Künstler gilt. Das paßt genau zum herrschenden Individualismus. Keiner ordnet sich ein, jeder stellt den Anspruch auf ungeteilte Aufmerksamkeit. Und doch gibt es bei Beuys etwas Überindividuelles. Mit Fett, Filz, Honig, einem toten Hasen und dem unverwechselbaren Hut haben sich die Nachkriegsdeutschen immerhin wieder in die Kunstgeschichte eingeschrieben. Als Deutsche zu erkennen, sind sie noch, wenn auch nur von ferne.