Als französische Revolutionstruppen 1798 Mainz besetzten, erklärten sie den Bürgern: „Wir sind gekommen, um euch zu befreien!“. Da fragten die Mainzer irritiert: „Warum wollt ihr uns befreien? Wir sind doch frei!“ – Die kleine Episode verrät, daß Franzosen und Deutsche offenbar verschiedene Vorstellungen von Freiheit haben oder zumindest zum damaligen Zeitpunkt gehabt haben.
Die Franzosen damals dachten sicherlich an jene Art von Freiheit, wie sie durch die Revolution herbeigeführt und in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 kodifiziert worden war. Da heißt es in Artikel 1 feierlich: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Die gesellschaftlichen Unterschiede können nur auf dem allgemeinen Nutzen begründet werden.“ Da aber damit noch nicht gesagt ist, was frei sein heißt, definiert Artikel 4: „Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet; also hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen keine anderen Grenzen als jene, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuß dieser gleichen Rechte sichern. Diese Grenzen können allein durch das Gesetz bestimmt werden.“1) Das bedeutet also, daß die persönliche Freiheit nur durch Gesetze begrenzt wird, die dafür sorgen, daß auch die Freiheit jedes anderen gewahrt bleibt.
Diese Idee haben die Revolutionäre von 1789 offensichtlich von Montesquieu übernommen, der in „De l’Esprit des Lois“ 1748 klargestellt hatte: „Es stimmt, daß in den Demokratien das Volk zu tun scheint, was es will; aber die politische Freiheit besteht keineswegs darin, zu tun, was man will. In einem Staat, d. h. in einer Gesellschaft, in der es Gesetze gibt, kann die Freiheit nur darin bestehen, daß man tun kann, was man wollen darf, daß man aber nicht dazu gezwungen wird, zu tun, was man nicht wollen darf. Man muß sich vergegenwärtigen, was Unabhängigkeit und was Freiheit ist. Die Freiheit ist das Recht, alles zu tun, was die Gesetze gestatten; und wenn ein Bürger tun könnte, was sie verbieten, hätte er keine Freiheit mehr, weil die anderen ebenfalls diese Befugnis hätten.“2)
Freiheit ist also nicht, daß man einfach tun könnte, was man will, denn das wäre Willkür, sondern „daß man tun kann, was man wollen darf“. Und das bestimmen die Gesetze. Man erkennt, daß Montesquieu Gesellschaftstheoretiker ist, der sich darüber Gedanken macht, wie der persönliche Anspruch auf Freiheit und die Erfordernisse des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Einklang zu bringen seien. Dabei bemerkt er etwas, was die Revolutionäre später übersehen: „Demokratie und Aristokratie sind ihrer Natur nach keineswegs freie Staaten. Politische Freiheit findet sich nur bei den gemäßigten Regierungen. Aber auch in den gemäßigten Staaten ist sie nicht immer vorhanden; sie ist nur dann da, wenn man die Gewalt nicht mißbraucht. Aber es ist eine ewige Erfahrung, daß jeder Mensch, der Macht besitzt, dazu neigt, sie zu mißbrauchen; er geht soweit, bis er auf Grenzen stößt.“3)
Deswegen orientierte er sich am britischen System, das demokratische und aristokratische Elemente vereinigt und seit der Magna Charta Libertatum von 1215 eine Tradition der Gewaltenbeschränkung kennt. Wie sehr er damit recht hatte, bewiesen die Gewaltexzesse zur Zeit der Schreckensherrschaft Robespierres und das spätere Umkippen der radikalen Demokratie in die Autokratie Napoleons, der allerdings mit seinem Code civil wieder an die Einsicht Montesquieus anknüpfte, daß ein Staat eine Gesellschaft ist, in der es Gesetze gibt. Das typisch Französische an alledem ist, daß im Zentrum dieses Denkens gar nicht der Einzelne, sondern der Staat steht. Freiheit wird definiert als das, was man tun darf, und das bestimmen die staatlichen Gesetze. In Deutschland dagegen spielt das Gesellschaftliche bzw. das Staatliche bei der Definition der Freiheit kaum eine Rolle.
Da schreibt zum Beispiel der Dichter Matthias Claudius im Abschiedsbrief an seinen Sohn Johannes (1815): „Wenn Dich jemand will Weisheit lehren, da siehe in sein Angesicht. Dünket er sich noch – und sei er noch so gelehrt und noch so berühmt –, laß ihn und gehe seiner Kundschaft müßig. Was einer nicht hat, das kann er auch nicht geben. Und der ist nicht frei, der da will tun können, was er will, sondern der ist frei, der da wollen kann, was er tun soll.“ Hier geht es nicht um das Dürfen (wie bei Montesquieu), sondern um das Sollen. Wer oder was aber sagt einem, was man tun soll? Claudius schreibt dazu: „Scheue niemand soviel als Dich selbst. Inwendig in uns wohnet der Richter, der nicht trügt und an dessen Stimme uns mehr gelegen ist als an dem Beifall der ganzen Welt und der Weisheit der Griechen und Ägypter. Nimm es Dir vor, Sohn, nicht wider seine Stimme zu tun; und was Du sinnest und vorhast, schlage zuvor an Deine Stirne und frage ihn um Rat.“4)
Der Mensch hat sich also nach seiner inneren Stimme, d. h. nach seinem Gewissen zu richten. Diese ist schließlich die Richtschnur für das, was man zu tun hat, und nicht der Staat mit seinen Gesetzen, denn es kommt ja nicht selten vor – man denke nur an die Sowjetunion oder das Dritte Reich –, daß man in einem Unrechtsstaat lebt, wo man seine innere Freiheit nur bewahren kann, wenn man seinem Gewissen folgt.
Claudius hat zweifellos Kant gelesen und sich wohl an jenen Hymnus auf die Pflicht erinnert, in dem der Philosoph fragt, wo die Wurzel der „edlen Abkunft“ der Pflicht zu finden sei, und dann antwortet: „Es kann nichts Minderes sein, als was den Menschen über sich selbst (als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann und die zugleich die ganze Sinnenwelt, mit ihr das empirisch bestimmbare Dasein des Menschen in der Zeit und das Ganze aller Zwecke (welches allein solchen unbedingten praktischen Gesetzen als das moralische angemessen ist) unter sich hat. Es ist nichts anderes als die Persönlichkeit, d. i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur, doch zugleich als Vermögen eines Wesens betrachtet, welches eigentümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen, reinen praktischen Gesetzen, die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, sofern sie zugleich zur intelligiblen Welt gehört.“5)
Hier geht es ganz offensichtlich nicht um die Ordnung des Staates, sondern um „eine Ordnung der Dinge ..., die nur der Verstand denken kann“ und welche jenseits der „ganzen Sinnenwelt“ zu suchen ist. Diese höhere Ordnung manifestiert sich in der menschlichen Persönlichkeit, die als „Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur“ begriffen wird. Freiheit in diesem Sinn ist also die Unabhängigkeit der sittlichen Person von den Zwängen der Natur, vor allem von den Trieben. So entsteht ein Gegensatz von höheren Forderungen und niederen Trieben, von Pflicht und Neigung, und es wird die Forderung erhoben, konsequent der Pflicht zu folgen. (Die preußische Staatsdoktrin ist ganz deutlich von dieser Kantschen Ethik geprägt.)
Dieser schroffe Gegensatz hat Schiller nicht gefallen, weshalb er versucht hat, ihn zu überbrücken. In seiner Schrift „Über Anmut und Würde“ schreibt er dazu: „Es lassen sich in allem dreierlei Verhältnisse denken, in welchen der Mensch zu sich selbst, d. i. sein sinnlicher Teil zu seinem vernünftigen, stehen kann. Unter diesen haben wir dasjenige aufzusuchen, welches ihn in der Erscheinung am besten kleidet, und dessen Darstellung Schönheit ist.
Der Mensch unterdrückt entweder die Foderungen [sic!] seiner sinnlichen Natur, um sich den höhern Foderungen seiner vernüftigen gemäß zu verhalten; oder er kehrt es um, und ordnet den vernünftigen Teil seines Wesens dem sinnlichen unter, und folgt also bloß dem Stoße, womit ihn die Naturnotwendigkeit gleich den anderen Erscheinungen forttreibt; oder die Triebe des letztern setzen sich mit den Gesetzen des erstern in Harmonie, und der Mensch ist einig mit sich selbst.“6)
Ins Politische wie ins Ästhetische übertragen, ergibt sich daraus Folgendes: „Das erste dieser Verhältnisse zwischen beiden Naturen im Menschen erinnert an eine Monarchie, wo die strenge Aufsicht des Herrschers jede freie Regung im Zaum hält; das zweite an eine wilde Ochlokratie, wo der Bürger durch Aufkündigung des Gehorsams gegen den rechtmäßigen Oberherrn so wenig frei, als die menschliche Bildung, durch Unterdrückung der moralischen Selbsttätigkeit, schön wird; vielmehr nur dem brutaleren Despotismus der untersten Klassen, wie hier in der Form der Masse, anheimfällt. So wie die Freiheit zwischen dem gesetzlichen Druck und der Anarchie mitten inne liegt, so werden jetzt auch die Schönheit zwischen der Würde, als dem Ausdruck des herrschenden Geistes, und der Wollust, als dem Ausdruck des herrschenden Triebes, in der Mitte finden.“7)
Der Ort der Freiheit (wie der Schönheit) ist demnach in der Mitte „zwischen dem gesetzlichen Druck und der Anarchie“ zu finden. Staatlicher Druck allein, der die Einhaltung der Gesetze erzwingt, führt zum Untertanengeist, im Extremfall vielleicht sogar zur Sklavengesinnung, die bloße Willkür und Zügellosigkeit dagegen bedeutet Anarchie. Echte Freiheit findet sich nur dort, wo sich jeder willig und aus freien Stücken der gesetzlichen Ordnung unterwirft, die jedoch grundsätzlich auch als moralische Ordnung gedacht werden muß.
Von diesem Ideal der Freiheit aus betrachtet, führte die Französische Revolution fast zwangsläufig in die Anarchie, da sie nicht allein die feudale Ordnung hinwegfegte, sondern mit ihrer Zügellosigkeit zugleich die sittliche Weltordnung in Frage stellte. Es ist deshalb verständlich, daß sich Leute wie Schiller nach anfänglicher Faszination immer weiter vom revolutionären Treiben in Frankreich distanzierten. Und bis heute begreifen viele Deutsche nicht recht, was an jener Revolution so großartig gewesen sein sollte, daß die Franzosen immer noch mit großem Pomp den Sturm auf die Bastille feiern, bei dem doch fast nur ganz gewöhnliche Verbrecher befreit wurden. Jedenfalls erschien 1798 den meisten Deutschen links des Rheins die Besetzung durch die Revolutionstruppen nicht gerade als ein Akt der Befreiung.
Nun darf man annehmen, daß auch damals die wenigsten Franzosen Montesquieu, die wenigsten Deutschen Kant gelesen hatten, aber daß es da in beiden Nationen verschiedene Vorstellungen von Freiheit gab, zeigen die ganz entgegengesetzten Reaktionen auf die Revolution. Während diese in Frankreich auch unter Napoleon grundsätzlich positiv, d. h. als Befreiung, bewertet wurde, bezeichnen die Deutschen ihren Aufstand gegen die napoleonische Herrschaft als „Freiheitskriege“.
Zweifellos hatten die Franzosen mehr Grund, sich gegen die absolutistische Monarchie zu erheben als die Deutschen, bei denen der aufgeklärte Absolutismus von Friedrich II., Joseph II. und vielen kleineren Landesherrn nicht als ungerecht empfunden wurde. Durch die Tatsache, daß sich in Frankreich ein zentralistisches System durchgesetzt hatte und der Adel von den Königen zu einflußlosem Hofadel degradiert worden war, entfremdeten sich die oberen Stände dem Volk so weit, daß sie dessen Nöte kaum noch zur Kenntnis nahmen. Sie lebten als Schauspieler eines großen Hoftheaters fern von der realen Welt der Bürger und Bauern und wurden vom Volk schließlich als Schmarotzer betrachtet, die man loswerden müsse. Der gezielte Haß, der sich ab 1789 gegen König, Adel und Kirche entlud, war durch jahrhundertelange Mißachtung geschürt worden, welche die ersten beiden Stände die Mehrheit der Gesellschaft fühlen ließen.
Freiheit bedeutete daher für die Franzosen Abschaffung des ganzen feudalen Systems einschließlich des Königtums, Abschaffung sämtlicher Privilegien, Gleichheit aller Bürger, weshalb „liberté“ und „égalité“ in der Parole der Revolution in einem Atemzug genannt werden. („Fraternité“ war eine Freimaurerphrase, die in der Praxis in ihr Gegenteil verkehrt und in Deutschland mit dem Satz karikiert wurde: „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag’ ich dir den Schädel ein!“)
Ganz anders die Verhältnisse in Deutschland: Zwar gab es auch hier Fürsten, die Ludwig XIV. nachahmten und viel zu große Schlösser bauten, und andere, die während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges ihre Truppen an England „vermieteten“, das sie in Amerika für sich kämpfen ließ, aber im allgemeinen wurde die Fürstenherrschaft nicht als so ungerecht und drückend empfunden wie in Frankreich. Vor allem in Süddeutschland und Österreich war der Adel gewöhnlich volksnah und verstand die Mundarten, die seine Untertanen sprachen; diese galten als „Landeskinder“, worin sehr sprechend der patriarchalische Charakter dieser Herrschaft zum Ausdruck kommt.
Es gab auch Landstände oder Landtage, die zwar nur beratende Funktion hatten, aber ihren Landesherrn doch ein Bild von dem vermittelten, was im Lande vor sich ging und wo die Leute der Schuh drückte. In Württemberg zum Beispiel gab es seit dem Münsinger Vertrag von 1482 eine landständische Verfassung mit einem gräflichen Rat, einem Rat der Prälaten und der „Landschaft“, in der die Abgeordneten der 56 Ämter, d. h. Amtsbezirke, saßen. Anders als in Frankreich, wo die Generalstände von 1614 bis 1789 gar nicht mehr einberufen wurden, suchten die Herzöge von Württemberg zu allen Zeiten den Rat ihrer Stände und fuhren nicht schlecht dabei.
Ein Sonderfall war Preußen, wo das flache Land vom niederen Adel der Grundbesitzer, den „Junkern“, beherrscht wurde, die für ihre Gutsuntertänigen praktisch den Staat verkörperten, da sie gewöhnlich auch die niedere Gerichtsbarkeit ausübten. Hier bestand für die Mehrheit der Untertanen zweifellos eine Unfreiheit, die erst durch die Stein-Hardenbergschen Reformen (1807–12) aufgehoben wurde. Doch herrschte andererseits in Preußen eine strenge Rechtsauffassung, die auch den Adel unter das Gesetz stellte und keine rechtswidrigen Übergriffe duldete.
Selbst die Könige, die formal über dem Gesetz standen, zeichneten sich durch streng moralisches und rechtliches Denken aus und stellten an sich selbst hohe Ansprüche. Da heißt es zum Beispiel im politischen Testament des Großen Kurfürsten vom 19. Mai 1667: „Nun ist und bestehet zuvorderst die rechte Tugend eines rechtschaffenen Regenten darin, daß er Gott, der ihn erschaffen und zu einem Herrn und Regenten so vieler Land und Leute gesetzet, recht von Herzen fürchte, lieb und vor Augen habe, sein allein selig machendes Wort die wahre Richtschnur seiner ganzen Regierung und Lebens sein lasse, dieweil darein die rechte Gott wohlgefällige Regierungskunst und höchste Politica begriffen ist, hieneben Gott morgens, mittags und abends in einem inbrünstigen Gebet fleißig anrufe, zuvorders um Weisheit und Verstand, auch um gnädigen Beistand, solche schwere Regierungslast, zu seines hohen Namens Ehre, anvertrauten Landen und Leuten zum Besten, also zu dirigieren, damit ihr solches gegen Gott, hier zeitlich und dort ewig verantworten möget ...“8)
Das ist sehr religiös und gut protestantisch gedacht. Sehr viel rationaler liest sich das gleiche im politischen Testament Friedrichs II. von 1752: „Eine gut geleitete Staatsregierung muß ein ebenso festgefügtes System haben wie ein philosophisches Lehrgebäude. Alle Maßregeln müssen reiflich durchdacht sein, Finanzen, Politik und Heerwesen auf ein gemeinsames Ziel steuern; nämlich die Stärkung des Staates und das Wachstum seiner Macht. Ein System kann aber nur aus einem Kopfe entspringen, also muß es aus dem des Herrschers hervorgehen. Trägheit, Vergnügungssucht und Dummheit: diese drei Ursachen hindern die Fürsten in ihrem edlen Berufe, für das Glück ihrer Völker zu wirken. Solche Herrscher machen sich verächtlich, werden zum Spott und Gelächter ihrer Zeitgenossen, und ihre Namen geben in der Geschichte höchstens Anhaltspunkte für die Zeitfolge ab ...“9)
Der berühmte Satz „Der Herrscher ist der erste Diener des Staates“, den Friedrich im selben Dokument formuliert hat, ist daher ebenso wenig eine hohle Phrase wie das „L’état c’est moi!“ Ludwigs XIV. Beide Sentenzen treffen den Kern der Staatsauffassung des einen wie des andern. Im absolutistischen Frankreich war der Staat tatsächlich mit dem Herrscher identisch, in Preußen dagegen stellte er eine objektive und nahezu absolute Wirklichkeit dar, der auch der König zu dienen hatte. Vielleicht könnte man das eine als königlichen, das andere als Staatsabsolutismus bezeichnen. Dabei ginge es wohl zu weit, wenn man die französische Version als Tyrannei ansähe (wie es die Revolutionäre getan haben), aber sie stand dieser doch deutlich näher als der aufgeklärte und der patriarchalische Absolutismus in deutschen Landen.
Der französische Historiker Jacques Bainville scheut sich nicht zu behaupten: „Anarchie, die Perioden der Zersetzung und der Schwäche entsprach – Königliche Diktatur, die innerer Wiederherstellung und Expansion nach außen entsprach: man kann sagen, daß dieser Rhythmus unsere ganze Geschichte regelt.“10) Von diesem Standpunkt aus erscheint ihm die Herrschaft Ludwigs als Diktatur, die deutschen Zustände nach 1648 hingegen als beständige Anarchie.
Wenn man den Blick vom Zeitalter des Absolutismus löst und übers Mittelalter schweifen lässt, erkennt man, daß es in Deutschland eine viel ältere Tradition der Freiheit gibt als jene, die durch die Aufklärung propagiert worden ist. Diese Tradition reicht freilich nicht direkt bis in germanische Zeit zurück, wie man im 19. Jahrhundert gemeint hat, sondern lediglich ins hohe Mittelalter, aber immerhin. In Deutschland gab es nicht nur freie Städte, sondern auch freie Bauern, weil sich in der Rodungsperiode des 11. und 12. Jahrhunderts viele von ihren alten Herren unabhängig machen konnten. „Im Zusammenhang mit den ausgedehnten Rodungen hatten aber nicht wenige Bauern eine Besserstellung erreicht, so daß sie von den persönlichen Bindungen an den alten Leibherrn befreit wurden und überhaupt an die Stelle persönlicher Beziehungen dingliche traten. Das alte, soziale System verblaßte und verschwand, ein neues trat an seine Stelle, der Leibherr wurde durch den Herrn von Grund und Boden ersetzt, dem eine Abgabe zu zahlen war und der wohl auch Hoheitsrechte in Anspruch nahm. Wer aber im Reich sonst keinen Herrn über sich hatte, dessen Herr war der König. Der König übernahm den Schutz und die Herrschaft über diese Leute, er gewann aber dadurch auch staatliche Rechte und Macht wie bei Gewährung der jüngeren Immunität an ein Kloster oder auch der Freiheit für eine Stadt. Die Staufer haben diese Politik mit klarer Erkenntnis der daraus sich ergebenden Möglichkeiten verfolgt.“11)
Die Leute waren also insofern frei, als sie nur den König über sich hatten, nicht anders, als der moderne Bürger, der den Staat über sich hat und sich dennoch frei fühlt. Diese „Freiheit ist in Deutschland ein wichtiges Element in der Bildung des modernen Staates geworden, wie das in den romanischen Ländern nirgends, wenigstens nicht in diesem Ausmaß nachweisbar ist.“12)
Besonders auffällig hat sich der Geist der Freiheit als belebendes Element der staatlichen Entwicklung in der Schweiz gezeigt. Zur Sicherung des Alpenübergangs nach Italien hatten die Bauern von Uri 1231, die von Schwyz 1240 die Reichsunmittelbarkeit erhalten. Als ihnen die Habsburger diese Freiheit wieder nehmen wollten, schlossen sie sich 1291 mit Unterwalden zu einem „Ewigen Bund“ zusammen, der Keimzelle der Eidgenossenschaft. Dieser Bund wurde schon 1297 von König Adolf von Nassau und 1309 von König Heinrich VII. von Luxemburg als rechtmäßig anerkannt. Leopold I. von Habsburg, der 1315 dagegen zu Felde zog, wurde in der Schlacht bei Morgarten von den Eidgenossen geschlagen. Diese haben dann auch in der Folgezeit ihre Freiheit sowohl gegen die Habsburger als auch gegen die Burgunder verteidigt und schließlich 1648 ihre völlige Unabhängigkeit, d. h. auch die vom Reich, erlangt. Und doch hat sich ihre Freiheit zunächst im Rahmen dieses Reiches und gefördert von seinen Königen entfaltet.
„Als Kuriosum der Reichsverfassung sind schließlich auch die Reichsdörfer zu erwähnen. Dabei handelte es sich um einige wenige autonome bäuerliche Landgemeinden, die sich seit dem Mittelalter gegen jede Mediatisierung hatten behaupten können und reichsunmittelbar geblieben waren, weil sie über kaiserliche oder reichsgerichtliche Schutzbriefe verfügten. Die Reichsdörfer waren mehr noch als die Reichsritterschaft mittelalterliche Relikte, die sich als Anachronismen in die neuzeitliche, weitgehend territorialstaatlich strukturierte Umwelt hatten hinüberretten können.“13)
Viel wichtiger für die freiheitlichen Traditionen der deutschen Geschichte waren jedoch ohne Zweifel die Städte. Seit der Zeit der Salier und Staufer wurden sie von den Königen gefördert und mit Privilegien ausgestattet, einerseits weil sie ein Gegengewicht gegen die Macht der Fürsten bildeten, andererseits weil sie durch ihre Wirtschaftskraft eine wichtige Geldquelle darstellten. Die Könige traten Hoheitsrechte, wie Markt-, Befestigungs-, Münz- und Zollrecht, an sie ab und die Städte dankten es ihnen dadurch, daß sie Steuern zahlten und ihnen in schwierigen Zeiten die Treue hielten. Umgekehrt wurden die Städte für diese Treue belohnt, indem sie weitere Privilegien erhielten.
Ein frühes Beispiel für diese Politik des „do ut des“ ist der Freibrief Heinrichs IV. von 1074 für die Bürger von Worms. Beim Aufstand der Sachsen hatten die Fürsten den König verlassen und viele Städte ihm die Tore verschlossen. Aber die Wormser nahmen ihn auf und stellten ihm Truppen. Zum Dank dafür erklärte ihnen Heinrich: „Die Abgaben, die man in deutscher Sprache als Zoll bezeichnet, welche die Juden und die anderen Wormser in allen Zollstätten, die der königlichen Gewalt zugehören – also Frankfurt, Boppard, Hammerstein, Dortmund, Goslar, Eger –, bei der Durchreise zu zahlen verpflichtet waren, haben wir den Wormsern erlassen, sodaß sie künftig keinen Zoll mehr zahlen ...“14)
Das war ein bescheidener Anfang, denn im Laufe der Zeit kamen immer weitere Rechte wie das Polizei-, Wehr- und Finanzrecht dazu, sodaß sich ein „Stadtregiment“ mit eigenem Gericht und eigener Verwaltung entwickelte, welches das ganze Leben der Bürger umfaßte. Da aber nicht jede Neugründung oder jede kleine Stadt ihr eigenes Recht entwickeln konnte, übernahmen viele das Recht besonders bedeutender Städte: Das lübische Recht galt an der ganzen Ostseeküste bis ins Baltikum (Memel, Riga, Reval, Narwa, Dorpat), das Magdeburger Recht von Mitteldeutschland über Schlesien (Glogau, Breslau, Brieg) und Polen (Gnesen, Plozk, Warschau, Radom, Krakau) bis nach Litauen (Kowno, Wilna) und in die Ukraine (Lemberg, Kolomea, Sutschawa); in Böhmen galt teils Nürnberger, teils Iglauer Recht.
In Frankreich gab es eine ähnliche Entwicklung, wo seit Ludwig VI. das Stadtrecht von Paris vorbildlich wurde, doch erlangten französische Städte nie den Grad an Autonomie, der die deutschen auszeichnete. Hier ging es ja so weit, daß der Städtebund der Hanse (mit über 200 Städten) im 14. Jahrhundert beinahe als eigener Staat agierte und mit Dänemark Krieg führte. Im Frieden von Stralsund (1370) mußte dieses der Hanse sogar das Recht einräumen, daß ein dänischer König nur mit ihrer Zustimmung gewählt werden konnte.
So entwickelte sich im Schoße der feudalen Ordnung in den Städten ein freiheitliches und demokratisches System, das zwar mit jenem zusammenhing, aber doch auch in Konkurrenz zu ihm trat. Jeder, dem es gelang, sich in einer Stadt anzusiedeln, war binnen Jahr und Tag ein freier Mann. Der Satz „Stadtluft macht frei“ war die metaphorische Umschreibung dafür, hatte aber tatsächlich rechtliche Qualität.
Nun darf man sich diese bürgerliche Freiheit nicht in dem Sinn des Freiheitsideals denken, das die Französische Revolution propagiert hat. Es gab in den Städten Gilden (der Kaufleute) und Zünfte (der Handwerker), denen jeder angehören mußte, der Handel betrieb oder einen Handwerksbetrieb führte. Das bedeutete für den einzelnen sicherlich eine Einschränkung, aber zugleich auch soziale Sicherheit, denn die Zünfte waren verpflichtet, einem Mitglied oder seiner Familie Hilfe zu leisten, wenn sie in Not gerieten. So entwickelte sich bereits in den mittelalterlichen Städten jenes System von persönlicher Freiheit und sozialer Bindung, das für die moderne Gesellschaft zum Vorbild geworden ist.
Da auf diese Weise im Deutschen Reich die Idee der Freiheit immer, wenn auch nicht für alle, verwirklicht war, konnte sich hier auch kein so gefährliches revolutionäres Potential entwickeln wie in Frankreich, wo es 1789 zu einer politischen Explosion kam, wie sie Deutschland nie erlebt hat. Die Deutschen waren durchweg friedlicher, zumindest weniger rebellisch als die Franzosen, nicht weil sie politisch träger gewesen wären, sondern weil sie freier waren! Das wurde indirekt sogar von den französischen Königen anerkannt, indem sie sich in der Neuzeit bei jeder Gelegenheit als Beschützer der „deutschen Freiheiten“ aufspielten, wenn auch in eigenem Interesse.
Die Sage vom „deutschen Untertanengeist“ dürfte im Hinblick auf Preußen entstanden sein, wo er im 18. und 19. Jahrhundert tatsächlich umgegangen ist – aber Preußen ist nicht Deutschland! Und man tut den meisten Deutschen unrecht, wenn man sie für Preußen hält, auch wenn diese für eine vergleichsweise kurze Zeit (von 1871 bis 1918) die Vorherrschaft ausgeübt haben. Man übersehe also nicht: Deutschland ist mehr als Preußen!
1) P. Hartig: Die Französische Revolution, Stuttgart 1967, S. 26.
2) daselbst S. 2.
3) daselbst S. 2 f.
4) Bender: Deutsches Lesebuch für Gymnasien Band 7, Dortmund 1972, S. 184.
5) daselbst S. 178.
6) Friedrich Schiller, Gesammelte Werke in fünf Bänden, Gütersloh 1959, Band 5, S. 147 f.
7) daselbst S. 149 f.
8) Weltgeschichte im Aufriß, Band II, Frankfurt o. J., S. 194.
9) daselbst S. 197.
10) Jaques Bainville: Geschichte zweier Völker, Hamburg 1939, S. 56.
11) Theodor Mayer: Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates, in: Herrschaft und Staat im Mittelalter, Darmstadt 1960, S. 300.
12) Ebenda.
13) Barbara Stolberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, München 2006, S. 35 f.
14) Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen, Band 1, Stuttgart 1995, S. 274.