Die Ökonomie ist ein komplexes System im Sinne der Synergetik, erst recht die Weltwirtschaft. Komplexe Systeme funktionieren dynamisch und nichtlinear, halten sich selber in einem flexiblen Gleichgewicht und sind selbststeuernd organisiert. Sie werden nicht nur durch Materie und Energie, sondern vor allem durch Organisation bestimmt. Zwei Arten von Bestimmungsgrößen oder Parametern wirken auf dynamische Systeme ein: die von außen einwirkenden Kontrollparameter und die im System selbst wirkenden Ordnungsparameter. Zu scharfe Eingriffe von außen in das System selbst stören die Ordnungsparameter und führen genauso wie zu heftige Änderungen der Kontrollparameter zu chaotischen Zuständen (Haken 1991, S. 65–91). Dies gilt selbstverständlich auch für wirtschaftliche Verhältnisse.
Wie schon Kurt Gödel (1931) mathematisch nachgewiesen hat, ist kein System in sich geschlossen, sondern muß wenigstens einen Parameter besitzen, der außerhalb des Systems liegt, damit das System überhaupt erst funktionieren kann. Auch die Nationalökonomien wie insgesamt die Weltwirtschaft sind offene Systeme, deren Eigenschaften sich nicht vollständig aus den Funktionen der Komponenten des jeweiligen Systems erklären lassen. Komplexe Systeme bestehen aus einer Vielzahl von miteinander verbundenen, vernetzten und interagierenden Teilen oder Entitäten. Die Systembestandteile halten sich unter optimalen Rahmenbedingungen mit ihren Rückkopplungen selbst in einem flexiblen, aber nicht linearen Gleichgewicht und ermöglichen selbsttätig Wachstumsprozesse.
Offene Systeme mit ihrer Innenregulierung durch die Ordnungsparameter stürzen über die Kontrollparameter vorgetragenen negativen Interventionen ins Chaos (Gleick 1988). Mühsam und nach vielen Schmerzen erwächst durch die Ordnungsparameter über Selbstorganisation oder Autopoiese allmählich wieder eine „selbstähnliche“ Ordnung, also eine Ordnung, die der vorangehenden in einer gewissen Weise ähnlich, aber mit ihr nicht identisch ist (Maturana und Varela 1990). Die Kunst einer richtigen Politik und damit auch Wirtschaftspolitik besteht demnach darin, die Kontrollparameter oder Rahmenbedingungen zu optimieren und die selbsttätigen Ordnungsparameter sich selber entwickeln zulassen (Malik 1992). Ob freilich unsere auf Popularität angewiesenen real existierenden Demokratien überhaupt fähig sind, auf wählerbeglückende Dauerinterventionen zu verzichten, bleibt eine Systemfrage.
Große Krisen wie die Weltwirtschaftskrisen nach 1929 und jetzt nach 2008 beruhen auf rabiaten Außeninterventionen über Kontrollparameter auf die durch die Ordnungsparameter eigentlich selbst garantierten, nun aber gestörten Binnensysteme. 1929 wurde die Weltwirtschaft durch die Reparationsforderungen nach dem Ersten Weltkrieg, die Verschuldung der damaligen Sieger und Verlierer, großzügig gewährte US-Kredite, eine weltweite Überproduktion und schließlich durch eine Baisse-Spekulation an der New Yorker Börse hervorgerufen und ausgelöst. Die Staaten als Kontrollparameter begünstigten diese Störungen der dynamischen Gleichgewichte auf der Ebene der ökonomischen Ordnungsparameter. 2008 wurden die weltwirtschaftlichen Ordnungsparameter durch ungebremste Geldmengenvermehrung zu einer riesigen Finanzblase, begünstigte Kartell- und Trustbildungen bzw. Unterlaufen des Wettbewerbsrechts zu Gunsten übernationaler Megakonzerne, Anheizung populistischer Wohlstandsansprüche, gigantische Börsenwetten rund um die Uhr ohne realwirtschaftlichen Hintergrund, riesige Derivatespekulationen, teilweise glatten Betrug in großem Ausmaß und „sub prime“-Kreditvergaben hervorgerufen. Wiederum haben die Staaten und internationalen Organisationen diese Störungen der weltwirtschaftlichen Ordnungsparameter begünstigt, teilweise sogar selbst hervorgerufen und zum anderen Teil wenigstens zugelassen (Caspart 2008). Auch wenn es die heilige Kuh des Finanzkapitalismus ist, gehört das Bankenwesen bereinigt und von unsoliden Instituten befreit.
Die gegenwärtige Krise ist also keine eigentliche der Marktwirtschaft, sondern eine der destabilisierten marktwirtschaftlichen Ordnungsparameter durch negative Kontrollparameter. 1929 und 2008 verstand es der interessierte Hochkapitalismus über seine Einflussnahme auf die Staaten und die heutigen Institutionen, nun Lobbyismus genannt, die realdemokratische Politik zu den genannten Interventionen zu bewegen, um einseitige Macht- und Finanzvorteile zu lukrieren. Ob 2008 teilweise auch Baisse-Spekulationen wie 1929 mit im Spiel waren, kann keineswegs ausgeschlossen werden. Einstweilen hat es nach dem Prinzip cui bono (wem nützt es) den massiven Anschein, daß am inszenierten Chaos viel Wille und Interesse gestanden haben: Denn schon dienen sich ausgerechnet diese Kreise, denen wir das ganze Schlamassel verdanken, ganz „selbstlos“ an, die Rezepte und Handhabungen zu seiner Beseitigung zur Verfügung zu stellen.
Unserer ratlosen Politiker-„Elite“ und einer teils verstörten, teils aber interessierten bzw. abhängigen Öffentlichkeit fällt auch nichts besseres ein, als schon wieder nach internationalen Rettungsaktionen, globalen Überwachungsinstitutionen, weltweiten Kontrollmechanismen und am liebsten nach der Weltregierung zu rufen.
Wer wird wohl in diesen internationalen Einrichtungen sitzen, wenn nicht die, welche schon vorher darin saßen, die Selbstorganisation des Marktes massiv gestört und den Crash ausgelöst haben? Eine ferne Globalisierungs- Oligarchie will die Krise benutzen, um die Welt noch fester in den Griff zu bekommen. Nicht ein gemäßigter Ordoliberalismus ist falsch, sondern die Aufgabe und Zerstörung der „Ordo“, welche bereits in der Bezeichnung „Ordnungsparameter“ enthalten ist. Jetzt wäre es der größte Fehler, aus Dank oder sogar aus schierer Verzweiflung nochmals den Bock zum Gärtner zu machen, statt in kleineren Einheiten die eigenen Hausaufgaben zu erledigen (Caspart 2009).
Machtgierige Interventionisten würden nur neuerlich die Kontrollparameter missbrauchen und die marktwirtschaftlichen Ordnungsparameter vollends zerrütten. Das leidvolle Warten auf die Ausbildung einer selbstähnlichen Ordnung würde dann wohl nahezu endlos dauern. Wohin die Reise gehen könnte, zeigen die Barack Hussein Obama-Administration und die Ben Shalom Bernenke-FED: Auf eine erste Geldmengenvermehrung von 1.800 Milliarden $ wurde gleich noch eine solche um 1.000 Milliarden $ nachgeschossen. Um die somit zwangsläufig im Hintergrund stehende Inflation machen sich die Wunderknaben keine Gedanken. Die eingeweihten Wall-Street-Haie haben ja schon längst um ihre ungedeckten Dollar in der ganzen Welt Rohstofflager, Immobilien und Industrien aufgekauft, sind also wertgesichert, während die übrige Welt inflationsbedingt enteignet wird. Der Rest ist Schweigen.
Wolfgang Caspart: Das Gift des globalen Neoliberalismus. Mit dem Turbokapitalismus in die Krise. Amalthea Signum Verlag, Wien 2008.
Wolfgang Caspart: Der Bock als Gärtner der Krise. In: Zur Zeit, 43/08, Wien 2008, S. 11.
James Gleick: Chaos – die Ordnung des Universums. Vorstoß in Grenzbereiche der modernen Physik. Aus dem Amerikanischen von Peter Prange. Verlag Droemer Knaur, München 1988.
Kurt Gödel: Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I. In: Monatshefte für Mathematik und Physik. Akademische Verlagsgesellschaft, Leipzig 38.1931, S. 173–198.
Hermann Haken: Synergetik im Management. In: Hennig Balkes und Rolf Kreibich (Herausgeber): Evolutionäre Wege in die Zukunft. Beltz-Verlag, Weinheim 1991, S 65–91.