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Décroissance

Von Philip Stein

In verschiedenen europäischen Staaten formieren sich seit Anfang des neuen Jahrtausends zunehmend globalisierungskritische Bewegungen, die sich dem Konzept der Décroissance verschrieben haben. Angestoßen in Frankreich, verbreitete sich die Idee der Décroissance besonders in der Schweiz und einigen zumeist linken Gruppierungen innerhalb Deutschlands. Das französische Wort Décroissance steht für eine nachhaltige Wachstumsrücknahme, die auf einer grundlegenden globalisierungs- und kapitalismuskritischen Weltanschauung fußt. Eine exakte deutsche Übersetzung gibt es nicht. Besonders im Internet kursieren zahlreiche Blogs und Netzseiten, die sich dem Thema widmen und versuchen, alternative Lebens- und Gesellschaftsmodelle fernab von Kapitalismus, Globalisierung und Wirtschaftswachstum aufzuzeigen. Die Décroissance-Bewegung steht nicht nur für eine umfassende Kritik des ungebremsten Wirtschaftswachstums, sondern ebenso für die Rückbesinnung auf Nachhaltigkeit, Natur und einen bescheidenen Lebenswandel. In einer durchweg globalisierten und vernetzten Welt erscheinen solche Gedanken zunächst weltfremd und reaktionär. Die freiwillige Zurücknahme des wirtschaftlichen Wachstums zugunsten der Umwelt, Lebensqualität und Entschleunigung wird von Unternehmen und sogenannten Wirtschaftsexperten regelmäßig als Synonym für Rückschritt und Verarmung dargestellt. Doch bedeutet eine geregelte Besinnung auf Nachhaltigkeit, die Wiederentdeckung der Natur und das Prinzip der wirtschaftlichen Bescheidenheit wirklich zwangsläufig den Verlust der eigenen Lebensqualität, gar des persönlichen Glücks, das in der Moderne darin besteht, möglichst alles konsumieren zu können? Oder würden die Europäer nicht eher davon profitieren, eine gesunde Balance zwischen technischer Moderne, wirtschaftlicher Tüchtigkeit und maßvoller Nachhaltigkeit zu finden?
Die Décroissance-Bewegung kritisiert jedoch nicht nur die Auswirkungen und auftauchenden Symptome der modernen Konsumgesellschaft, sondern strebt danach, die Probleme direkt bei der Wurzel zu packen. Auf eine einfache Forderung heruntergebrochen, kämpft sie für eine grundlegende und umfassende Änderung der herrschenden Systeme. Hauptkritikpunkt der Bewegung ist die Ausrichtung der modernen westlichen Gesellschaften auf ein ständiges und uneingeschränktes Wirtschaftswachstum. In einer endlichen Welt, die auf natürliche Ressourcen und Rohstoffe angewiesen ist, scheint ein solches Wirtschaftsmodell langfristig zum Scheitern verurteilt. Die Alternative, die von der Décroissance-Bewegung propagiert wird, ist die endgültige Abkehr von der Wachstumsgesellschaft. Diese Entscheidung bedeute »eine Reduzierung des Konsums, der Produktion und des Ressourcenverbrauchs, sie setzt ein grundlegendes Umdenken und eine Umstrukturierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens voraus, hin zum Aufbau von autonomen, sparsamen und solidarischen Gesellschaften«, betont Karin de Miguel Wessendorf in einem Beitrag der Heinrich-Böll-Stiftung. In Spanien, wo die Jugendarbeitslosigkeit im Jahr 2012 rund 50 Prozent betrug, gewinnt die konsumkritische Décroissance-Bewegung ebenfalls zunehmend an Boden. In vielen Teilen Spaniens ist eine regelrechte Flucht aus der Stadt aufs Land im Gange, von der sich die Menschen ein einfacheres Leben erwarten. Die ländliche Idylle verspricht niedrige Lebenshaltungskosten, landwirtschaftliche Arbeit und die Abkehr von der Hektik und Konkurrenz der Großstädte. Diejenigen, die sich jedoch für einen Verbleib in den spanischen Städten entschieden haben, setzen immer häufiger auf alternative Formen der gesellschaftlichen Organisation. So entstehen in vielen Städten die asambleas de barrio (Stadtviertelversammlungen), die eine Art Nachbarschaftshilfe organisieren. Besonders im katalonischen Barcelona blühen und gedeihen alternative Lebens- und Wirtschaftsmodelle.
Ob Car-Sharing oder der unentgeltliche Tausch von Waren sowie Dienstleistungen im Privaten oder auf organisierten Tauschmärkten, alternative, von der Décroissance-Bewegung angeregte Modelle scheinen sich langsam in Europa zu etablieren. Doch sind diese Modelle auch in großen Maßstäben realisierbar?
Während in Spanien bereits im Kleinen alternative Modelle praktisch erprobt werden, versucht in Frankreich ein kritisches Magazin das Bewußtsein der Menschen anzusprechen. Vincent Cheynet, Chefredakteur und Gründer des Magazins La Décroissance, arbeitete früher in einer großen Werbeagentur in Lyon. Jetzt betreibt er das konsum- und globalisierungskritische Magazin und versucht, den Franzosen Genügsamkeit und Verzicht zu predigen. Cheynet steht für eine Relokalisierung Europas, eine werbefreie Presse sowie eine Deglobalisierung der Weltwirtschaft. Ein überzeugter Anhänger der Décroissance-Bewegung eben. Vincent Cheynet und sein Magazin unterstützen u.a. den französischen Politiker José Bové, der 1999 zusammen mit einer Gruppe aufgebrachter Bauern ein McDonald’s-Restaurant in Millau verwüstete. Bové attackierte 2005 und 2006 außerdem mehrere Genmais-Plantagen und schlüpfte somit in die militante Rolle der Décroissance-Bewegung. In Frankreich ist die Bewegung bereits besonders weit. Das zeigt sich auch daran, daß zur Europawahl 2009 eine Liste mit dem Namen Europe Décroissance antrat. Nennenswerte politische Erfolge blieben jedoch aus. Im Allgemeinen scheint die europäische Décroissance-Bewegung weniger ein politisches, als ein gesellschaftliches Phänomen zu sein. Erfolge feierte sie immer dort, wo sich Menschen aus Gründen der Lebensreform zusammenfanden.

Transiton-Towns

Auch in Großbritannien sind Konzepte zu beobachten, die der Décroissance-Bewegung zuzurechnen sind. Der irische Permakulturalist Rob Hopkins verfolgt seit 2006 ein Projekt, das unter dem Namen Transition-Town-Bewegung bekannt geworden ist. Diese Bewegung verfolgt das Ziel, die Menschheit durch Stärkung der regionalen und lokalen Wirtschaft sowie Reduzierung des Verbrauchs auf eine postfossile Zukunft vorzubereiten. Weltwirtschaft und Politik seien nicht ausreichend auf die Herausforderungen des Klimawandels vorbereitet und so müsse der Bürger selbst die Initiative zur Vorbereitung ergreifen. Die Transition-Town Bewegung ist eine Umwelt- und Nachhaltigkeitsinitiative, der mittlerweile rund 300 Städte weltweit angehören. Kernthema ist die Frage, wie sich die Städte nach dem endgültigen Verbrauch der fossilen Brennstoffe halten und entwickeln können. Auch in Dresden, wo die Blaue Narzisse mit dem »Zentrum für Jugend, Identität und Kultur« ihren Hauptsitz hat, gibt es einen Arm der Transition-Town-Bewegung. Unweit des BN-Zentrums, in der Nähe der Radeberger Vorstadt, unterhält die Initiative Dresden im Wandel einen von sechs lokalen Stadt- und Gemeinschaftsgärten. Auch eine bargeldlose Tauschbörse wird angeboten. Die Weltanschauung der Transition-Town-Bewegung fußt jedoch maßgeblich auf der Annahme, daß der Welt ein unausweichlicher Klimawandel bevorstünde, der mit dem endgültigen Aufbrauchen der fossilen Brennstoffe einhergehe.

Lebensreform

Die Themen der Décroissance-Bewegung sind heute weitestgehend links besetzt. Dabei sind Natur, Nachhaltigkeit, Geistesreform und natürliche Ästhetik eigentlich Themen, die seit jeher eher von der politischen Rechten thematisiert und verteidigt wurden. In der wilhelminischen Zeit waren etwa die Wandervögel Teil einer Jugendbewegung, die es im Sinne der Lebensreform von den industrialisierten Städten zurück in die Natur zog. Diese Jugendbewegung, der sich binnen weniger Jahre Tausende junger Menschen im ganzen deutschsprachigen Gebiet anschlossen, strebte nach einer Gemeinschaft abseits von gesellschaftlicher Konformität. Dabei war es frei nach der Parole des Franzosen Henri Bergson, »Simplifier sa vie«, die positive Schlichtheit des Lebens, die junge Menschen in der Natur fanden. Die gelebte Einfachheit wurde zum Sinnbild einer jungen Bewegung, die sich den Konventionen der biederen Gesellschaft nicht unterwerfen wollte. Gesang, Tanz, Tradition und das Erleben der Natur wurden zum Mittelpunkt einer jungen, nonkonformen Gemeinschaft.
Seit dem späten 19. Jahrhundert besteht eine konservative Traditionslinie, die sich heute in entstellter Form in vielen linksalternativen Konzepten und Denkströmungen wiederfinden läßt. Ein wichtiger Teil der rechten Programmatik wird von den linken Strömungen jedoch weitestgehend ausgeklammert: Die eigene Wehrhaftigkeit, gepaart mit einer bewußten Ästhetik des Körpers. Die heutigen Schönheitsideale erinnern nur schemenhaft an jene der Lebensreformer des frühen 20. Jahrhunderts, denn Männlichkeit und Weiblichkeit sind dieser Tage stark aufgeweichte Begriffe. Es fehlt an Identität und sinnstiftenden Idealen. Die umfassende Wehrhaftigkeit des Mannes ist als männliches Ideal in Deutschland spätestens seit der Aussetzung der Wehrpflicht nur noch ein Relikt der Vergangenheit. Stattdessen ist Europa verfettet. Nicht nur die Schere zwischen armen und reichen Europäern wächst, sondern auch die zwischen fettleibigen, gleichgültigen Konsumenten und denen, die den angepriesenen Trends der Solarium- und Fitneßindustrie folgen. Der Reformpädagoge und Mitbegründer der Wandervogelbewegung Ludwig Gurlitt schrieb bereits zur wilhelminischen Zeit: »Die deutsche Bildung mit all ihren Verirrungen wird verständlich, wenn man sie als Produkt eines körperlich vernachlässigten Volkes ansieht. (...) Es fehlt uns an Muskel- und Nervenkraft. Unser Blut ist verdickt, unser Kopf benommen, unsere Augen sind trübe.«
Ob die Ideen und Konzepte der europäischen Décroissance-Bewegung jemals massentauglich Anwendung finden werden, bleibt fraglich. Zu tiefgehend scheint dem europäischen Bürger das westliche Konsumverhalten bereits in Mark und Bein übergegangen zu sein. Eine freiwillige Bescheidenheit und Rückbesinnung auf die Natürlichkeit und Einfachheit des Lebens bleibt wohl eine Utopie, die im Europa dieser Tage nur in kleinen, homogenen Gemeinschaften funktionieren kann. Doch wenn die Wohlstandsgesellschaft irgendwann am Scheidepunkt steht und der vielzitierte Gürtel enger geschnallt werden muß, könnte die Décroissance ein Konzept sein, das Zukunft hat.

Entnommen aus: Felix Menzel/Philip Stein: Junges Europa. Szenarien des Umbruchs, 100 Seiten, Verein Journalismus und Jugendkultur e.V., Chemnitz 2013, S. 57–64.

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