Der Dichter, Journalist, Regisseur und Filmproduzenten Pier Paolo Pasolini gehört zu den letzten Propheten Europas. In Italien gehört er zum intellektuellen Kanon nach 1945. Seiner Generation folgte wenig Vergleichbares – zumeist jene Klasse von Intellektuellen, die über den Diskurs hinaus wenig vorlegen konnten. Pasolinis Werk dagegen reichte ins Sakrale. Seine stärksten Filme montieren das kulturelle, prosaische Erbe Europas neu. Sie tragen einen eigenartigen Mythos in die westliche Gegenwart. Dazu gehören Filmepen wie „Il Vangelo secondo Matteo”, (Deutsch: „Das 1. Evangelium Matthäus”, 1964), „Edipo Re” („König Ödipus – Das Bett der Gewalt”, 1967) oder das anthropologisch zutiefst pessimistische, in der Bildsprache schockierende Werk „Salò o le 120 giornate di Sodoma” („Die 120 Tage von Sodom”, 1975). Pasolini hinterließ damit eine eigene Weltanschauung.
Die Rezeption blieb breit gestreut. Sie interpretierte ihn als Parteigänger des der modernen Entwicklung entgegengesetzten, sozialen Fortschritts auf marxistischer Grundlage, aber auch als revolutionär denkenden Bewahrer einer vormodernen Tradition des Prekariats. Seine damit verbundene, fundamentale Ablehnung der westlichen Moderne schien reaktionäre und archaische Züge zu tragen, wenngleich sie in ihrer Sozialkritik Tagespolitik und weltliche Aspekte zur Grundlage nahm. Zu dieser Verwirrung hat Pasolini viel beigetragen. Gegen Ende seines Lebens bekannte er: „Das Leben genießen (körperlich) bedeutet ja, ein Leben zu genießen, das es historisch nicht mehr gibt: und es zu leben ist demnach reaktionär. Ich äußere seit langem reaktionäre Behauptungen. Und ich denke an einen Essay mit dem Titel ‚Wie kann man einige reaktionäre Thesen für die Revolution zurückgewinnen?’“1 Freilich wäre es allzu einfach, in Pasolini lediglich einen ideologisch rechts gewendeten, ehemaligen Linken zu sehen. Seine Gedanken zur revolutionären Reaktion blieben fragmentarisch. 1975 wurde der Dichter ermordet.
Sein Tod wirkt bis heute mythenbildend nach. Denn der sich ganz und gar seit den 1950er Jahren einem „postmodernen Autorenkonzept”2 (Hans-Ulrich Reck) verschreibende, multimedial agierende Autor irritierte und ärgerte die Ideologen zeitlebens. Wenngleich er seine Wurzeln in einem alten, regionalen und vor allem bäuerlichen Italien entdeckte, wollte er sich zeitlebens keinem politischen oder kulturellen Lager verschreiben.
Viele nahmen ihm das übel, aber Pasolini stand zeitlebens zwischen den Fronten. Zu diesem Bild trug auch sein Tod bei: Als er in der Nacht vom 1. zum 2. November 1975 vor den Toren Roms, beim Hafen von Ostia ermordet wurde, steigerten sich die Spekulationen über die Täter schnell. Dort, wo des Regisseurs „heiterste und sinnlichsten Szenen des Films Erotische Geschichten aus 1001 Nacht” von 1974 gedreht worden waren, starb Pasolini in „einem staubigen Platz voller Gerümpel, der sich in eine mythische Pflanzennatur verwandelt hatte – von einem siebzehnjährigen Jungen ermordet”, erinnerte sich sein Cousin und Biograph Nico Naldini 1986.3 Ob es tatsächlich ein siebzehnjähriger Junge war, der Pasolini erschlug und mit dessen eigenen Wagen mehrfach überfuhr, gilt als fragwürdig. Der Beschuldigte, der Stricher Pino Pelosi, wurde 1979 verurteilt. Nach seiner Entlassung widerrief er 2005 und erklärte, er sei von Unbekannten zum Geständnis gezwungen worden. Ebenso vage blieb es bei den neuen vermutlichen Tätern. Ob sie, wie häufig vermutet, Aktivisten aus dem Umfeld der neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano waren oder für den italienischen Geheimdienst arbeiteten, verließ nie den Raum der Spekulation. Eine Unterschriftensammlung zur Aufklärung des Mords von Seiten prominenter Schriftsteller 2006 führte zu keinem Ergebnis. Die römische Staatsanwaltschaft stellte die neu aufgenommenen Ermittlungen ein Jahr später wieder ein.
2013 versuchte sich der deutsch-französische Fernsehsender Arte unter dem Titel „Die Akte Pasolini” an einer erneuten Aufklärung des Falls. Pasolini, so die These der Filmemacher, habe über brisantes Wissen zu wahlweise Kommunisten bzw. Faschisten vorgeworfenen Bombenanschlägen, wie etwa das 1969 17 Tote fordernde, sogenannte „Staatsmassaker” vom Mailänder Piazza Fontana verfügt. Inzwischen gilt es als offensichtlich, dass dieser Anschlag unter anderem vom italienischen Geheimdienst entweder initiiert, mindestens aber vom Staat in Kauf genommen wurde. Diese Ereignisse leiteten eine von offizieller Seite beabsichtigte „Politik der Spannung” zwischen links- und rechtsradikalen Kräften ein. Pasolini stand unbestimmbar zwischen diesen Lagern, auch die enge Bindung Italiens an die USA kritisierte er scharf. Er gilt bis heute als Sprachrohr einer am breiten Diskurs interessierten, scharfsinnigen Intellektualität. Kurz vor seiner Ermordung publizierte er in den großen Medien des Landes, vor allem auch der konservativen Mailänder Tageszeitung „Corriere della Sera”. Pasolinis existenzialistische, schwer zu konsumierende Filme erreichten dagegen die mediale Öffentlichkeit vor allem mittels einer Vielzahl an Prozessen und den Regisseur skandalisierenden Medienkampagnen.
Die Irritationen unter vielen Italienern dürften nicht geringer geworden sein, als 2013 die Zeitung „Qelsi” auf ein bisher unbekanntes, letztes und als Testament formuliertes Gedicht Pasolinis hinwies, daß er kurz vor seinem Tod 1975 einem jungen Faschisten widmete. „Er ist groß, mit Brille, grauer/ Kleidung, kurzen Haaren:/ wenn er beginnt zu mir zu sprechen/ denke ich, er weiß nichts von Politik./ Er will nur das Lateinische/ und das Griechische gegen mich verteidigen, nicht ahnend/ daß ich das Lateinische und Griechische liebe – und die kurzen Haare”, schrieb Pasolini über diesen jungen Mann, der ihm als Personifikation einer jungen, nachfolgenden Generation Italiens galt. Der Dichter fordert vom Faschisten, er müsse „verteidigen, bewahren/ beten”, zugleich die „Armen lieben” und appelliert „an die göttliche Rechte, die in uns ist”, nämlich „im Schlaf”. Der Schriftsteller Marcello Veneziani vermutete in diesem Gedicht einen weiteren Versuch Pasolinis, einen Skandal anzuzetteln. Indem er ein testamentarisches, von homosexuellen Motiven unterlegtes Gedicht einem Faschisten widmete, hätte er zugleich seine heimliche geistige Wesensverwandtschaft aussprechen wollen.4 Doch freilich wußte auch Veneziani, daß es so einfach bei Pasolini nicht sein konnte und daß es ebenso vermessen wäre, dem zeitlebens bekennenden Marxisten eine späte politische Kehrtwende unterstellen zu wollen. Der Kern dieser irritierenden Zeilen ist viel fundamentaler. Er zielt auf das, was der Literaturwissenschaftler bei Pasolini als den „Flaubertschen Kanon des ‚Erhabenen von Unten’” erkannte. Indem Pasolini seine Verse einem typisierten Vertreter einer prekarisierten und politisch radikalisierten Generation widmete, verlieh er der Essenz seines Gesamtwerkes Ausdruck: Der Bürde und verborgenen Würde der Armut zum einen, zum anderen „der Verteidigung der Tradition, der Herkunft, der Umwelt und der Religion”, so Veneziani.5
In seinem fragmentarisch gebliebenen, monumentalen Roman, den er mit dem im Italienischen mehrdeutigen Wortspiel „Petrolio” (wörtlich zu Deutsch „Erdöl”) titulierte, skizziert Pasolini einen Rundumschlag gegen die kulturelle und politische Öffentlichkeit seines Landes. Zugleich mythisiert er aber seine Herkunft aus einer kleinstädtisch und agrarisch geprägten Landschaft, insbesondere sein in der Jugend ambivalentes, später versöhnliches Verhältnis zum militärisch und faschistisch geprägten Vater Carlo Alberto Pasolini. Denn im Aufkommen der 68er Bewegung sah der damals bereits bekannte Journalist und Dichter nicht die erhoffte marxistische Revolution, sondern eine zutiefst bürgerliche Revolte gegen die kulturelle Tradition der italienischen Unterschicht und die Welt der Väter. Pasolini verdichtete diese Anschauung in einer Dichotomie zwischen einem archaischen, bäuerlichen Kosmos und einer von Konsum und Vereinheitlichung geprägten Moderne. Sein Marxismus wich deutlich vom hegelianischen Leitmotiv des sozialen und technischen Fortschritts ab.
Wenngleich Pasolini ein ausgeprägtes Klassenbewußtsein des internationalen „sottoproletariato”, also eines im Wortsinn positiv konnotierten „Lumpenproletariats”, einforderte, verschloss er sich doch der Sehnsucht nach ökonomischem Aufstieg. Pasolini verfolgte eine eigenwillige, vor allem ästhetisch bis religiös motivierte Interpretation der kommunistischen Idee. Die zentrale Gefahr erkannte er in der Auflösung der mediterranen, proletarischen und bäuerlichen Lebenswelt in den konsumorientierten Werten des italienischen Nachkriegs-Bürgertums. Dieser Gegensatz, der sich durch Pasolinis gesamtes Werk zieht, tritt am deutlichsten in der Mythisierung regionaler Kultur zutage.
In „Petrolio” beschreibt Pasolini die Kindheit seines Vaters in Ravenna, einer alten römischen Kaiserstadt in der Emilia-Romagna. Sie zeigt sich als Ort archaischer Gemeinschaft. In Ravenna, aus dem auch die adelige Familie des Vaters stammt, herrscht eine ins Mythische gewandelte und der Geschichte enthobene Gleichförmigkeit: „Das Verhalten der Kinder gegenüber den Eltern war das gleiche; die Häuser und Wohnungen waren dieselben (kein Fernsehen, keine Kühlschränke, keine Konsumgüterverschwendung; Heizwärme in den bevorzugten Räumen wurde durch den Ofen gewährleistet (...) gleich war die Wiederkehr der Jahreszeiten, mit dem Geruch der Erde oder von irgendetwas Verbranntem, vermischt mit dem Duft der Glyzinien im Frühling (...)” Doch Pasolini romantisiert nicht nur eine kleinstädtische Landschaft. Er stellt deren Bewohner als Bestandteil eines organischen, sozial harmonischen Kosmos dar: „Sogar die Autoritätspersonen waren gleich – zumindest bis 1944 -, nämlich die Faschisten: das Kleinbürgertum, das rücksichtslos und ohne die Rechtfertigung eines schlechten Gewissens alle seine übelsten Seiten hervorgekehrt hatte, die sich jedoch mit den guten vermischten. Während zur gleichen Zeit all die Seiten, die wir über Jahrhunderte, vielleicht sogar über Jahrtausende als gute Eigenschaften anzusehen gewohnt waren, vom Volk gelebt wurden: unverfälscht sowohl von der Bauernrevolution als von der ersten Industrialisierung: und mithin (sich selbst gegenüber) völlig treu.”6
Um diese Prosa des mythisierten „Erhabenen von Unten” nicht nur im Licht schlichter Bauernromantik zu sehen, muß man den Wegen folgen, die Pasolini auch während seiner römischen Zeit regelmäßig in die friaulische Heimat führten. Sein filmisches und literarisches Werk spiegelt die soziale Welt der Kleinstadt Casarsa im äußersten Nordosten Italiens wider. Hierhin zog sich die Familie aus dem großstädtischen Bologna zurück. Dort wurde er als ältester Sohn der Grundschullehrerin Susanna Colussi und des bereits erwähnten Offiziers Carlo Alberto Pasolini geboren, wenngleich der junge Pasolini seine prägendste Jugendzeit zumeist im Friaul verbrachte. In Casarsa lernt er die Welt der Bauern kennen, von denen er den friaulischen Dialekt erlernt. Die eigentliche Welt der Familie bleibt aber das Venetische, das im örtlichen Kleinbürgertum gesprochen wurde. Pasolini sollte zeitlebens mit dieser sozialen Schicht den schärfsten Gegensatz seiner Ethik verbinden.
Regionale Sprache, insbesondere der Dialekt, wird zum Zentrum seiner ästhetischen Symbolik. Im Friaulischen verdichten sich sowohl die Welt der Bauern, der sich Pasolini nahe fühlt, das vormodern geprägte Idyll der Kindheit als auch ein Italien vor dem Faschismus und dem Einheitsstaat von 1861. Dem Skandal, der dieser Diagnose folgte, ging der Umzug in Italiens Hauptstadt voran: Pasolini veröffentlichte zuerst eine Reihe im Dialekt verfaßter Lyrik, bevor er sein journalistisches und filmisches Schaffen begann. Dieses Engagement reichte bis hin zur Gründung einer „Friaulischen Volksbewegung für Regionale Autonomie”. Die Sehnsucht nach der bäuerlichen Welt seiner Heimat dauerte bis zum Tod an. Sein letztes Gedicht, eben jenes Testament an einen jungen Faschisten, verfaßte er ebenfalls in Friaulisch.
Pasolinis Interpretation der italienischen Geschichte blieb der väterlichen Euphorie für den Nationalstaat diametral entgegengesetzt. Die Zerstörung der Dialekte und Regionen gipfele in einer US-amerikanischen Globalisierung, die ihre Herrschaft vor allem durch den Export von Konsumgütern sichert. Dies, so Pasolini, geschehe auf eine unverbindlichere und zugleich beschleunigtere Art und Weise, als es der italienische Faschismus je vermocht habe. Ja, so Pasolini, dieser Konsumismus erweise sich als wesentlich zerstörerischer als der historische Faschismus. Erst angesichts der Verheißung eines neuen, bürgerlichen Wohlstands, etwa in Gestalt des Fiat Cinquecento, dem Produkt des italienischen Wirtschaftswunders, begreifen Bauer und Arbeiter ihre Armut und beginnen, sich ihrer zu schämen. Die Folge, so Pasolini, ist neben der sozialen die anschließende kulturelle Entwurzelung. Jene linken Bewegungen, die diese Tendenz durch die Forderung nach vollständiger sozialer Integration befördern, folgten nur der kapitalistischen Ideologie. Es gehört zum Paradoxon in Pasolinis Denken, daß auf seine Kritik an regionaler Gleichförmigkeit keine Kritik an der kommunistischen, klassenlosen Gesellschaft als letzter Konsequenz des globalen Egalitarismus folgte.
Seine Schriften richteten sich, am italienischen Beispiel orientiert, gegen die Diktatur der globalen, westlichen Norm: „Es gibt zum Beispiel das Verhaltensmuster eines klassenübergreifenden Hedonismus, das die Jugendlichen, die es unbewußt nachahmen, zwingt, sich in ihrem ganzen Verhalten, ihrer Kleidung, ihren Schuhen, ihren Frisuren, ihrem Lächeln, ihren Bewegungen und ihrem Handeln dem anzupassen, was sie in der Werbung sehen, einer Werbung, die sich geradezu rassistisch ausschließlich auf den kleinbürgerlichen Lebensstil bezieht. Die Ergebnisse sind offensichtlich trostlos, denn ein mittelloser Junge aus Rom ist noch nicht in der Lage, diese Leitbilder zu verwirklichen”, erklärt Pasolini 1974 im Essay „Der Völkermord”.7 Italien erlebe „ohne Blutbäder und Massenerschießungen”, wie viele Schichten der Gesellschaft durch einen schleichenden Werteaustausch eliminiert werden. Verantwortlich dafür sei auch die Absorption der sozial unteren Schichten durch das Bürgertum in den Peripherien der Großstädte. Als die regionale Presse des Friauls dem jungen Volksschullehrer Pasolini homosexuelle Sittenlosigkeit vorwirft und er daraufhin auch aus der „Kommunistischen Partei Italiens” (KPI) ausgeschlossen wird, entschließt sich der junge Dichter zum Umzug in das Herz der Metropole, die er später als eines der Zentren des Völkermords begreifen wird. Am 28. Januar 1950, fünf Uhr morgens steigt er mit seiner Mutter in den ersten Zug nach Rom, nur mit dem Allernötigsten im Gepäck. Es erschien deutlich, daß beide vor der kleinstädtischen Welt fliehen wollten, zu der sich Pasolini zeitlebens doch hingezogen fühlte.
Pasolini zieht es in die römischen Vorstädte, die „borgate”: Hier trifft er auf eine neue, proletarische Welt, die sich ihm äußerst vital und zugleich archaisch zeigt. „Ein Leben, bei dem nur die Muskeln zählen, umgestülpt wie ein Handschuh, absolut bar jeder Gefühlsduselei, und dabei sind diese menschlichen Organismen so sinnlich, daß sie fast mechanisch wirken”, erinnerte sich Pasolini später.8 Bei diesen borgate handelte es sich um einförmige Wohnsiedlungen, errichtet während der faschistischen Ära, nach 1945 architektonisch fortgesetzt von den in Italien herrschenden Christdemokraten. Die Bevölkerung aus dem ländlichen Italien wurde unter dem Faschismus zum Teil zwangsweise umgesiedelt. Hier trifft Pasolini auf die Rudimente eines bäuerlichen, noch archaisch, zugleich schon proletarisch geprägten Typus, dessen Traditionen sich auflösen.
„[D]er geregelte Lebensstandard, die starke Vermischung mit den Einwanderern aus dem Norden und Süden, sein gesellschaftlich marginales, aber dem ‚ideologischen Bombardement’ des Bürgertums besonders stark ausgesetzten Dasein führen dazu, daß sich die charakteristische Mischung aus Anarchie und gesundem Menschenverstand bei diesen Menschen tendenziell in eine amerikanische, standardisierte Form der Indifferenz verwandelt und einen Wiederholungszwang erzeugt, der sich fortpflanzt und viele hunderttausend Mal denselben Menschentypus hervorbringt. Dann reduziert sich das Leben in diesen grenzenlosen, heute noch so vielgestaltigen und wandelbaren Vierteln auf elementare, monotone Formen.”, beschreibt Pasolini in dem Artikel „Die Front der Stadt”, Bestandteil der Prosasammlung „Geschichte der Stadt Gottes. Erzählungen und römische Chroniken”, 1958 jene Kultur der Vorstädte.9
In den ersten Romanen und Erzählungen „Ragazzi di vita” (zu Deutsch: „Jugend des Lebens”, 1955) und „Una vita violenta” („Ein gewaltiges Leben”, 1959) verdichtet er diesen archaischen Kosmos. Pasolinis bedeutendstes Werk jedoch, daß die Atmosphäre der borgate eindrücklich heraufbeschwört, bleibt sein erster Film „Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß” von 1961. Hier schildert er in der Figur des Vittorio Cataldi, von seinen Freunden accattone, also „Schmarotzer”, genannt, den Niedergang in der heruntergekommenen, östlichen Peripherie von Rom. Der Film weist über ein reines Sozialdrama hinaus, im Schicksal des Protagonisten erscheinen messianische Züge.
Dessen Leben jedoch ist anders als das eines Heiligen: Accattone verließ Frau und Kinder, um sich sein Einkommen als Zuhälter zu verdienen. Die meiste Zeit verbringt er mit Freunden mit Wetten und Kartenspiel. Das einfache Glück endet schnell: Maddalena, Accattones einzige Hure, wendet sich von ihm, nachdem sie bei einem Motorradunfall verletzt und wenig später von einer konkurrierenden Zuhälterbande zusammengeschlagen wird. Seine Familie verweigert Accattone die Rückkehr und mütterliche Aufnahme. Er lernt schließlich ein unschuldiges Mädchen mit dem sprechenden Namen „Stella”, „Stern”, kennen. Für sie stiehlt Accattone seinem Sohn eine Halskette. Ein Versuch, Stella für sich als Hure zu beschäftigen, scheitert jedoch. Accattone wird erneut zum Ausgestoßenen, bürgerliche Arbeit gelingt ihm nicht. Es scheint, als verkehre sich das biblische „Gleichnis vom Verlorenen Sohn”, Accattone verunglückt nach einem mißlungenen Diebstahl mit dem Motorrad. Seine letzten Worte sind: „Nun geht’s mir besser.” Mit gefesselten Händen schlägt der Anführer ein Kreuz für den Toten.
Accattone wird zum negativen Helden, sein Untergang steht stellvertretend und messianisch für die Jugend der Vorstädte. Auch die Erlösung kehrt Pasolini um, Accattones Komplizen werden von der Polizei verhaftet.
Durch die Verbindung des Sakralen mit dem moralisch Anstößigen löst Pasolini einen Proteststurm aus. Analog zu den späteren Filmen wird die Veröffentlichung von Skandalen begleitet: Kinos verweigern die Aufnahme ins Programm, faschistische Gruppen stürmen die Vorführungen, „Accattone” steht konträr zum Lebensmodell des zeitgenössischen, bürgerlich geprägten Katholizismus. In einem Artikel von 1974 zur Ansprache von Castelgandolfo des damaligen Papstes Paul VI. erklärt Pasolini seine Abneigung gegen die zeitgenössische Amtskirche: Damit die Kirche in eine wahrhafte, aufrichtige Opposition gegen die bürgerliche Moderne des Konsumismus gehen könne, müsste sie sich zuerst selbst verleugnen. „Sie müsste in Opposition gehen gegen jene weltliche Macht, die sie so zynischen fallenließ und dabei ist, sie kurzerhand auf reine Folklore zu reduzieren. (...) Sie könnte – und das sage ich gerade als Marxist – all diejenigen Kräfte zusammenfassen, die sich der neuen Herrschaft des Konsums nicht beugen wollen, die vollkommen irreligiös, totalitär, gewalttätig, scheintolerant – oder besser: repressiver ist, als es je eine Herrschaft war. (...) Für diese Verweigerung könnte die Kirche zum Symbol werden, indem sie zu ihren Ursprüngen, zur Opposition und zur Revolte zurückkehrt.”10 Hier verdichtet sich erneut Pasolinis Bild einer revolutionären Reaktion, das stark utopische Züge trägt.
Jener kleine Artikel erschien unter anderem in den 1975 erschienenen „Scritti corsari”, zu Deutsch den „Freibeuterschriften. Aufsätze und Polemiken über die Zerstörung des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft.” Diese Sammlung von oft appellartigen Beiträgen für den „Corriere della sera” enthält das politische Programm Pasolinis. Am bekanntesten wurde unter anderem sein Aufsatz über „Die ‚Sprache’ der Haare”. Pasolini, der anfangs die Studentenrevolten von 1968 in Italien begrüßte, geißelt darin die neue Frisur einer Generation von Bürgersöhnen als Symbol ihres Opportunismus: „So schimmern sie dann wieder durch, die alten Gesichter der Pfaffen, des Richters, des Offiziers, des falschen Anarchisten, des beamteten Narren, des Winkeladvokaten, des Scharlatans, des käuflichen Knechts, des Schlitzohrs, des rechtschaffenen Halunken.” Pasolini nahm darin gewissermaßen die linke Herrschaft des Mainstreams vorweg, die er hier freilich, seinen Wurzeln im kommunistischen Klassendenken treu‚ als „bürgerlich” und „rechts” anprangerte. Trotz dieser Ablehnung der politischen und sozialen Autorität verteidigt er jene jungen Polizisten, die sich bemühen, die Studentenrevolte in Italien niederzuschlagen. Bei den Ordnungshütern handele es sich um Arbeitersöhne, die gegen eine verwöhnte Studentengeneration antreten würden. Pasolinis Bewunderung galt nur wenigen, darunter auch Rudi Dutschke, dem er einen verehrenden Artikel widmete.
Vor seinem spektakulären Tod in der römischen Vorstadt 1975 setzte Pasolini im gleichen Jahr einen letzten Paukenschlag: Mit „Salò oder Die 120 Tage von Sodom” konfrontierte er sein Publikum mit einer ausweglosen Gewaltorgie. Der Film spielt, nach der historischen Vorlage des Marquis de Sade, in der faschistischen Republik von Salò. Eine geflüchtete, kleine Gruppe aus der Oberschicht des Regimes entführt scheinbar willkürlich Jugendliche, um sie in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs als Sklaven zu halten. Es beginnt ein schleichendes Massaker, das Pasolini in zahlreichen Folter- und Vergewaltigungsszenen scheinbar unberührt dokumentiert. In Deutschland landete der Film auf dem Index, in Italien löste er heftige Kontroversen aus. Mit „Salò” produzierte Pasolini eines der erschütterndsten Werke der Filmgeschichte. Rezipiert wurde es als Zeugnis des Antifaschismus. Doch diese Deutung wird dem Film nur vage gerecht. Pasolini wies hier, wie in seinem gesamten Werk, über reine zeitgeschichtliche Belehrung hinaus. Gemäß dem Motto der Sklavenhalter, „Alles was maßlos ist, ist gut”, kann „Salò” auch als Kritik an der Hemmungslosigkeit einer auf Hedonismus gegründeten Gesellschaft gesehen werden. Zweifelsohne gehört dieser Film zu den großen Rätseln, die uns Pasolini auch nach seinem Tod aufgibt.
1 Aus der Biographie seines Cousins: Vgl. Nico Naldini: Pier Paolo Pasolini. Aus dem Italienischen von Maja Flug. Berlin: Wagenbach 1991(= Naldini, S. 293).
2 Vgl. Hans-Ulrich Reck: Pier Paolo Pasolini Poetisch-Philosophisches Porträt. Hörbuch/ Hörspiel. Königs Wusterhausen: Edition Apollon 2012.
3 Naldini, S. 336
4 Zitiert aus: Riccardo Ghezzi: Il testamento di Pasolini rivolto a un giovane fascista: „Difendi, conserva, prega”
Onlinemagazin Qelsi, 2.11.2013 (http://www.qelsi.it/2013/il-testamento-di-pasolini-rivolto-a-un-giovane-fascista-difendi-conserva-prega/).
5 Zitiert aus: Ebd.
6 Der Roman „Petrolio” umfaßt rund 700 Seiten, ist im Montagestil verfaßt und versammelt u. a. Skizzen, Notizen und Erzählungsfragmente Pasolinis. Vgl hier: Pier Paolo Pasolini: Petrolio. Berlin: Wagenbach 1997, S. 43f.
7 Vgl. die wichtigste programmatische Artikelsammlung Pasolinis. Hier: Pier Paolo Pasolini. Freibeuterschriften. Die Zerstörung des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Berlin: Wagenbach 2011 (= Freibeuterschriften), S. 161–167.
8 Naldini, S. 122.
9 Vgl. den stilvollen Bildband mit Zusammenstellungen von Texten Pasolinis über Rom: Pier Paolo Pasolini: Rom, andere Stadt. Hamburg: Corso, S. 36f.
10 Freibeuterschriften, S. 73.