Archiv > Jahrgang 2014 > NO I/2014 > Leben im Mythos 

Leben im Mythos

Von Benedikt Kaiser, M. A.

Literatur und Nationswerdung in Montenegro

Es mag auf den ersten Blick verwundern, daß ein Text über Montenegro und die bedeutendsten Persönlichkeiten dieses Landes mit dem Franzosen Georges Sorel (1847–1922) eingeleitet wird, dem das Land an der Adria zwischen Kroatien und Albanien wohl nicht bekannt gewesen ist und der sich nie im südslawischen Raum aufhielt. Indes: Die zentralen Begriffe des revolutionären Syndikalisten aus Frankreich lauteten „Mythos“ und „Gewalt“1 – und beide Begriffe sind auch essentiell für die Geschichte des Landes der schwarzen Berge und seine Bewußtwerdung als Entität im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts. Eben jener Sorel beurteilte die Relevanz von zirkulierenden Mythen danach, ob sie tatsächlich auf die Gegenwart einzuwirken vermögen. In dieser Hinsicht eignet sich Montenegro hervorragend als Schablone, denn das Leben der Montenegriner war zu allen Zeiten wirksam mythenbeladen.

Die ersten Siedlungen auf dem heutigen Staatsgebiet Crna Goras lassen sich in der Bucht von Kotor zwar bereits ab 500 v. Chr. nachweisen, dennoch steigen wir literarisch wie politisch mit dem 19. Jahrhundert ein, also jenem Zeitalter, in dem die Rede vom „Pulverfaß Balkan“ geboren wurde. Zuvor muß es an dieser Stelle ausreichen, darauf hinzuweisen, daß die montenegrinische Geschichte ab 1389 wesentlich auch vom Osmanischen Reich mit beeinflußt wurde, das auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) die serbische Streitmacht vernichtend schlug. Deren überlebende Anführer flüchteten auch nach Montenegro, das – anders als Serbien – nicht vollständig durch die mehrmals anrennenden Türken besetzt werden konnte, da ein Teil zunächst selbständig blieb, bevor es sich unter den Schutz Venedigs flüchten mußte. Bis 1830 war das schwer zugängliche und arme Land durch eine wechselvolle Geschichte von Kriegen, Fehden und Klan-Strukturen geprägt, wobei der Fürstbischof ab 1700 die wichtigste Person Montenegros wurde. Petar I. Petrović Njegoš (1784–1830) ist namentlich hervorzuheben, weil er das karge Land mit einem rudimentären Rechtssystem versah und in mehreren Kriegen diplomatisches wie militärstrategisches Geschick bewies. Den eigentlichen Eintritt Montenegros in die moderne Geschichte Europas verkörperte jedoch sein Nachfolger, Petar II. Petrović Njegoš (1813–1851), im Volksmund Bischof Rade, von seinem Taufnahmen Radevoje, der nicht nur staatliche Strukturen samt Verwaltung und Steuersystem in das bisher weiterhin über Familienzusammenhänge gesteuerte Land brachte, sondern auch als Nationaldichter bis heute die unumstritten symbolträchtigste Persönlichkeit Montenegros darstellt.
Familie Njegoš entstammte einer serbischen Linie der Herzegowina, die im 16. Jahrhundert um den montenegrinischen Berg Lovćen als Hirten und Bauern siedelten. Der Njegoš-Stamm kooperierte mit anderen Klans gegen die Tributpflicht gegenüber dem Sultan und entwickelte eine kriegerische Tradition, die vom Mythos der Unvereinbarkeit zwischen Kreuz und Halbmond genährt wurde. Der einsetzende ständige Kampf mit den Türken schuf im Verbund mit den harten Lebensbedingungen karger, steiniger Landschaft einen Menschenschlag, der als kriegerisch und ruppig beschrieben wurde, dem Blutrache und Familienehre als sakrosankt galten. Daraus resultierte desgleichen ein „Kult des Heroismus“ (Günter Bartsch), in dem das Leben als einziger fortwährender Kampf angenommen wurde. Es überrascht kaum, daß das örtliche Christentum eine wehrhafte und schroffe Ausprägung erfuhr, wohingegen religiöse Dogmen angesichts fortgesetzter kriegerisch ausgetragener Konflikte kaum Verbreitung fanden.2 Gott erschien eher als Rächer denn als Verzeihender; und die Rolle der Kirche lag in diesen Tagen vor allem darin, Bewußtsein für eigene und fremde Nationalität zu schaffen, die über bloße Stammeszugehörigkeit hinausging.3

Njegoš – Vater des Landes

Auch Petar II. Petrović Njegoš – im folgenden nur noch Njegoš genannt – wurde in diese ärmliche Welt hineingeboren und zum Krieger erzogen. Als er 17 Jahre alt war, starb jedoch mit seinem Onkel der rechtmäßige Fürstbischof des Landes kinderlos, wodurch Njegoš über Nacht zu seinem Nachfolger wurde. In einer Zeit von Feldzügen gegen die zum Islam konvertierten Landsleute inner- wie außerhalb seines Territoriums und Grenzkonflikten mit den Türken schuf Njegoš mit eiserner (kritischer: brutaler) Hand und gegen alle Widerstände auch aus den eigenen Reihen (die es nicht gewohnt waren, der Obrigkeit folgen zu müssen) erstmals überhaupt staatliche Strukturen in Montenegro: Senat und Polizei setzte er ein, Steuern wurden erhoben. Doch neben den Tätigkeiten als Feldherr und geistiges Oberhaupt förderte er auch bis dato nicht vorhandene kulturelle Aktivitäten, indem er eine erste Bibliothek stiftete, eine Druckerei gründete und Schulen errichten ließ. Vor allem aber wurde er zum identitätsstiftenden Dichter Montenegros. Er verfaßte neben kleineren Texten drei große Werke: Strahl des Mikrokosmos, Stefan der Kleine und den Bergkranz. Der Strahl thematisierte Sündenfall und serbisches Unglück infolge der Niederlage auf dem Amselfeld, Stefan der Kleine schilderte den Fall eines Staatsgründers, der ohne die Schutzmacht Rußland reüssieren mußte, und der auch auf deutsch vorliegende Bergkranz ist ein Lobgesang auf die historisch nicht belegte, in der montenegrinischen Mythenwelt aber fest verankerte Vernichtung der zum Islam übergelaufenen Montenegriner im 18. Jahrhundert.4
Mit 38 starb Njegoš. Seine Dichtung strahlte jedoch aus (bzw. strahlt bis heute aus: Njegoš gilt ja weiterhin als der unumstrittene Nationaldichter) und schuf den Mythos eines heroischen christlichen Bergvolkes am Rande des osmanischen Imperiums. Es war ein wirkungsvoller Mythos, um so mehr, als daß vorher kaum schriftlich überlieferte Landesgeschichte bekannt war; bis Njegoš wurde Geschichte über Stammes- und Sippenmythen mündlich überliefert. Nun hatten die Montenegriner die Niederschrift Njegoš’, der den Ursprung Montenegros im Kampf gegen Türken und Renegaten sah und die serbisch-montenegrinische Freiheitsidee als Quelle einer künftigen Wiedergeburt pries.5
Es war einem anderen großen Montenegriner vorbehalten, die nach wie vor gültige Njegoš-Biographie zu verfassen: Milovan Djilas (1911–1995).

Chronist des Landes: Djilas

Djilas wurde fast 100 Jahre nach Njegoš in einem kleinen Dorf nördlich von Kolašin geboren. Die Tradition der Blutrache und die Organisation in Sippen und Stämmen waren nach wie vor lebendig. Er bemerkte früh, daß ebendiese archaischen Verhaltensweisen ein großes Hindernis für die Einheit des Landes darstellten. Innerhalb seiner Familie fühlte er sich mehr der serbischen Mutter verbunden, die ihm kultivierter und vernunftgeleiteter erschien als der gefühlsbetonte montenegrinische Vater. Als vernünftig erschien ihm auch sein Taufpate Mihaijlo, der bereits 1918 kommunistischer Agitator in Djilas’ Nachbardorf war. Aufgrund Mihaijlos Nachsinnen über soziale Gerechtigkeit, die er christlich-sozialistisch vermengte, fand Djilas – eigenen Bekundungen zufolge6 – mit sieben Jahren zum Kommunismus. In den folgenden Schuljahren engagierte er sich verschiedentlich. Hervorzuheben ist, daß die persönlichen Kindheitserfahrungen des dörflichen Montenegros und die ideologischen Impulse (außerordentliches Gerechtigkeitsstreben, Erfolg des Bolschewismus in Rußland, sozialutopisches Empfinden) einander ergänzten und ihn bereits vor 1929 – dem Jahr, in dem er nach Belgrad zum Literatur-Studium ging und erstmals die marxistischen Klassiker las – zum autodidaktischen Kommunisten machten.7 Djilas wurde in der jugoslawischen Hauptstadt zum Multifunktionär, baute die kommunistische Studentenjugend wesentlich auf und lernte Russisch. Interessanterweise gab es zu dieser Zeit, die er teils als politischer Gefangener verbringen mußte, Berührungspunkte mit der kroatischen, katholisch-nationalistischen Ustascha-Bewegung, die sich ab 1941 in erbittertem Bürgerkrieg mit ihrem serbischen Ebenbild, den Tschetniks, und den gesamtjugoslawischen kommunistischen Partisanen wiederfand. Bei letzteren wirkte Djilas als rechte Hand von Josip Broz, besser bekannt als Tito. Im von allen Parteien erbarmungslos geführten Bürgerkrieg war das montenegrinische Volk geteilt, was die erneute Nationswerdung ausschloß: Eine Seite, die das montenegrinische Volk eben für genau das hielt: ein Volk, half Italienern und Deutschen, und zwar in der Hoffnung, ein eigenständiges, von Belgrad separiertes Montenegro als Entlohnung erreichen zu können. Sie setzte sich zusammen aus montenegrinischen Monarchisten, Faschisten (um Sekula Drljević, 1884–1945) und apolitischen Kollaborateuren. Die andere Seite, Djilas’ Seite, hielt die Montenegriner lediglich für einen speziellen serbischen Stamm und bestand vorwiegend aus projugoslawischen Monarchisten, Sozialisten und Kommunisten. Der Riß ging durch die montenegrinische Erde, durch die Familien. Keiner hat die Barbarei derartiger Bürgerkriege nachdrücklicher und wirklichkeitsnäher geschildert als Bato Tomašević (geb. 1929) in seiner montenegrinischen Familiensaga.8 Dieses Buch macht zusätzlich zu Djilas’ spannenden Autobiographien9 verständlich, in welch aufgehetzter Stimmung des Bürgerkriegs Milovan Djilas zu wirken hatte und mithin fanatisch wirkte. Dorothea Razumovsky ist zuzustimmen, wenn sie schreibt, daß Djilas die Brutalität aller Beteiligten – auch seine eigene – niemals geleugnet hat, obwohl auch seine Familie durch kollaborierende Milizionäre umgebracht wurde. Vielmehr stellte er die Dinge dar wie sie vor Ort waren und verschwieg auch auf seiner eigenen Seite nicht die „Unmenschlichkeit, der nur Menschen fähig sind, die überzeugt sind, im Recht zu sein.“10

Stalinismus, Titoismus – Djilasismus?

Nach 1945 wurde Djilas zum jugoslawischen Minister für Montenegro, traf mehrmals mit Stalin zusammen, zu dessen unkritischen Bewunderern er zunächst zählte, bevor er dessen Persönlichkeit in seinen Gesprächen11 schonungslos offenlegte. Zum Zwist kam es nicht nur aufgrund ideologischer Reibungspunkte – Personenkult, Sowjetimperialismus, jugoslawische Föderationspläne auf dem Balkan –, sondern auch, weil Djilas es folgenreich wagte, der Roten Armee nicht uneingeschränkt für ihren Einmarsch in Serbien und Montenegro zu danken, sondern deren Vergewaltigungswelle anprangerte.12 Als Montenegriner – und das heißt, als Angehöriger eines äußerst kleinen Volkes – argumentierte Djilas gegen die arroganten Umgangsformen des stalinistischen Rußlands gegenüber kleineren kommunistischen Staaten.
Der nachfolgende Bruch zwischen Tito und der Sowjetunion (1949) und die internen Konflikte zwischen Djilas und anderen kommunistischen Führern Jugoslawiens entzündeten sich u. a. an Djilas’ Streben nach Entbürokratisierung des Landes. Aber auch seine Forderung, die Kommunistische Partei in einen den Staat nur beratenden „Bildungsverein“ umzuwandeln – man denkt hier vielleicht an Kurt Hillers „Logokratie“ – sowie die fortwährende Kritik am Titoismus als ungenügende Häresie des Stalinismus, führten ihn ins Abseits, worüber er sich durchaus bewußt war. Getreu der montenegrinischen Überlieferung, die unzählige mythische, allein kämpfende Sagengestalten kannte, wollte er als ein solcher Heiduck auf verlorenem Posten kämpfen. Er wäre ob seiner Noch-Position in der kommunistischen Führungsriege des Zentralkomitees (ZK) und als Parteiintellektueller schon genug gefährlich; die Tatsache, daß das jugoslawische Heer auf einem im wesentlich montenegrinischen Offizierskorps aufbaute, wo Tito Affinitäten zu ihrem Djilas vermutete, verschärfte seine Lage. Über die Etappen Rückschritt durch „Selbstkritik“ – Offensive mittels Interview in der New York Times –, Ausschluß aus dem ZK und Verlust der bisherigen Privilegien samt Austritt aus der Staatspartei, gelang dem vereinsamten Djilas durch die Abfassung seines Werks Land ohne Recht, der erste große Schritt aus dem Kommunismus heraus hin zur montenegrinischen Herkunft als neuem Lebenselixier: „Er ließ seine Existenz in der Vergangenheit, in der Geschichte seiner Sippe und Familie Wurzeln fassen.“13 Djilas vertiefte sich in seine von Unfreiheit und Widerstand geprägte Landesgeschichte, sog sie auf und fühlte sich als „Glied einer Kette“, „die eine ruhmreiche Vergangenheit über die Gegenwart hinaus mit der Zukunft unseres [d. h. seines] Volkes verband“.14
Djilas verstand aber Montenegro weiterhin als Teil der größeren südslawischen Nation; auch seinen idealtypischen Kommunismus legte er zunächst nicht gänzlich ab, weil er überzeugt war, daß für Jugoslawien diese Regierungsweise den Fortschritt verheiße. Die Veröffentlichung seiner Fundamentalabrechnung mit dem real existierenden Kommunismus Die neue Klasse15 erlebte er bereits in Haft. In der Einsamkeit der Kerkermauern, die er noch aus dem monarchistischen Jugoslawien kannte, vertiefte er sich weiter in den Mythos des Heiducken-Volkes aus den Schwarzen Bergen. Dort faßte er nach langen Jahren auch die im titoistischen Jugoslawien verbotene Njegoš-Biographie ab, mangels Papierzuweisung zum Teil auf Toilettenpapier. Njegoš’ Wirken erschien ihm als Leitbild für alle Zeiten. Die fixe „Idee“ – bei Njegoš Staatswerdung, bei Djilas Staatsreformation – als Zentrum des Handelns, und zwar gegen alle Widerstände, war für ihn genuin montenegrinische Denkweise, der zeitlose Mythos der Ideentreue. Ohne einen solchen Mythos gäbe es, so Djilas, keine Kunst, kein wahres Werk. Sein eigener montenegrinischer Heiducken-Mythos, den er pflegte, hielt ihn bei seinen wiederholt von Tito veranlaßten Inhaftierungen – es blieb nicht nur bei der von 1956 – am Leben. Über Kritik am einstigen Partisanenkampf, dem Kampf gegen die (heute wieder aktuell zu lesende) Ideologisierung des Lebens16 und der Fortsetzung bzw. Kommentierung seiner eigenen Neuen Klasse gelangte Djilas zur Weiterentwicklung seines für Außenstehende nutzlosem Dienen. Ihm erschien es als menschliche Universalie, sich zu äußern, denn er war überzeugt, daß der Drang zur Selbstaussage so stark wie der Lebenswille als solcher sei, denn „der schöpferische Kampf hat kein Ende.“17
Ansonsten verabschiedete sich Djilas weiter von (marxistischen) Universalien. Nicht mehr das Weltproletariat, sondern der glaubensfeste montenegrinische Bauer nötigte ihm nun Respekt und Achtung ab. Gegen Ideologie und Utopie setzte er nun seine konservative Konzeption von konkreten Freiheiten und Möglichkeiten.18 Djilas Weg vom Allgemeinen zum Besonderen und vom Mythos der Weltrevolution zum Mythos vom montenegrinischen Bergleben führte ihn am Lebensende in den Schoß der Orthodoxen Kirche, sein ihm sehr verbundener Sohn wurde zudem ein dezidiert konservativer Publizist und Herausgeber. Nur einen weiteren Mythos wollte die montenegrinische Jahrhundertgestalt Djilas, die im April 1995 verstarb, nicht aufgeben: jenen eines einheitlichen südslawischen Staates auf föderaler Grundlage.

Ost-West-Scheidelinie und Ivo Andric’

Hierin traf er sich mit Ivo Andrić (1892–1975)19, der zwar kein Geburtsmontenegriner, sondern bosnischer Kroate war, allerdings im montenegrinischen Herceg Novi, 50 Kilometer südlich von Dubrovnik, seinen Lebensabend im heute „Villa Andrić“ genannten Haus verbrachte. Andrić ist auch deshalb heranzuziehen, weil er die Welt des Balkans mit ihrer „Grenzscheide zweier Welten“ (Andrić dixit) am klarsten schilderte und ebendiese ethnisch-kulturelle Grenze auch innerhalb Montenegros verlief – schließlich war ein Teil Montenegros von jeher Okzident, während das Osmanische Reich den Orient bis in die montenegrinischen Berge vorrücken und wirken ließ.
Andrić war wie Djilas polyglott und früh projugoslawisch. Zunächst aktiv in der Bewegung „Junges Bosnien“, absolvierte er seine Matura, promovierte in Graz und durchlief ab 1918 die Karriereleiter der jugoslawischen Diplomatie, bis er 1939 gar außerordentlicher Gesandter in Berlin wurde. 1941 wurde er nach Belgrad ausgewiesen und zog sich aus dem Dienst zurück. Statt dessen wurde er Schriftsteller. Andrić, der in Višegrad an der Drina aufwuchs, verarbeitete ebenjenen Fluß als Grenze zwischen Ost und West. In Die Brücke über die Drina (1945)20 schilderte Andrić das Leben an diesem schicksalsschweren Ort, dessen Bewohner damals rund zur Hälfte muslimisch, zu einem Drittel serbisch-orthodox und zu einem Fünftel kroatisch-katholisch zusammengesetzt waren. Die Drina ist dabei der Fixpunkt der Geschichte. Not und Elend, Freude und Leid, Liebe und Haß – darum kreist die „Višegrader Chronik“, die den konkreten Alltag einzelner Individuen genauso plastisch (und ex aequo empathisch) darstellt wie die größeren Entwicklungslinien der vor Ort aktiven Großmächte. Genauso wie in Višegrad gleichermaßen einheimische slawische Muslime und slawische Serbisch-Orthodoxe die Konfrontation zwischen Morgen- und Abendland auslebten, bekämpften sich in Montenegro über Jahrhunderte slawische Muslime und serbisch-orthodoxe Montenegriner21. Bei Andrić wird nochmals klarer, was Djilas meinte, als er die Geschichte Montenegros – sicherlich mythisierend – als Kette von Brüderkriegen, geprägt durch „heroisches, sittliches Handeln“, definierte.

Montenegrinische Literatur

Andrić erhielt 1961 den Literatur-Nobelpreis und ist bis heute der berühmteste jugoslawische Schriftsteller. In Montenegro gab und gibt es aber noch mehr bedeutende Autoren. Zu nennen ist sicherlich stellvertretend der (später serbisch-nationalistisch agierende) Autor Miodrag Bulatović (1930–1991), dessen literarische Handlungen noch mehr um Kampf und Tod kreisen, als es in Djilas autobiographischem Werk naturgemäß bereits der Fall ist. Sein Der rote Hahn fliegt himmelwärts22 liegt ebenso im Deutschen vor wie Der Held auf dem Rücken des Esels23. Etwas unbekannter – gleichwohl begnadet – ist der Erzähler und Romancier Branimir Šćepanović (geb. 1937), dessen Der Mund voll Erde24 eine schauerlich-groteske Hetzjagd beschreibt, die nirgends anders als in den Bergen Montenegros spielt.

Njegoš und Djilas als montenegrinische Legenden

Aber keiner der weiterhin Genannten kann es mit Njegoš und Djilas aufnehmen. In ihren Werken ist die montenegrinische Geschichte lebendig, dort ist sie faßbar gemacht, und niemand anders als sie konnte die Montenegro eigentümlichen Brüche und Kontinuitäten, den Krieg und die Gewalt, die Stammesfehden und die Blutrache, die Schönheit und die Härte des Landes vom 18. bis ins 20. Jahrhundert besser darstellen. Bei den beiden Denkern des Mythos ist Literatur nicht nur Weltanschauungsträger, sondern auch Vermittler von Traditionen. Während Njegoš der Vater des Landes war, steht Djilas für das schlußendlich gescheiterte Experiment des 20. Jahrhunderts, das montenegrinische Volk in einen größeren südslawischen oder zumindest serbisch-montenegrinischen Verbund zu integrieren. Jugoslawien hat die aufbrechenden Nationalitätskonflikte nicht überlebt. Der Mythos um den Cetinjer Fürstbischof und den bedeutendsten kommunistischen Renegaten Europas besteht jedoch weiter. Beide Persönlichkeiten wirkten mit den von ihnen postulierten und gelebten Ideen und schufen Mythen, und beide trugen dazu bei, daß Montenegro als Beispiel für die große Rolle nationaler Mythen bei der Selbstfindung und Staatswerdung dienen kann.

Anmerkungen

1 Einführend die Studie Armin Mohlers: Georges Sorel. Erzvater der Konservativen Revolution (= Reihe Perspektiven, Bd. 1), 2. Aufl., Schnellroda 2004.
2 Günter Bartsch: Milovan Djilas oder Die Selbstbehauptung des Menschen. Versuch einer Biographie, München 1971, S. 260.
3 Vgl. Milovan Djilas: Njegoš oder Dichter zwischen Kirche und Staat, Wien–München–Zürich 1968, S. 25 u. 33 f.
4 Zum Strahl vgl. ebd. S. 276–321, zum Bergkranz S. 321–387, zu Stefan der Kleine S. 387–410. Der Bergkranz liegt außerdem in zwei dt. Übersetzungen vor: Leipzig 1939 u. 1963, München 1963.
5 Die tatsächliche Wiedergeburt erlebte Njegoš, den die Montenegriner als Ideengeber und lebendig gewordenen Mythos verehrten, freilich nicht mehr. Montenegro wurde erst nach dem Berliner Kongreß 1878 zum gänzlich unabhängigen Königreich erklärt. Nikola I. (1841–1921) schuf ein montenegrinisch–serbisch–russisches Bündnissystem und erreichte so auf Gebietszugewinn bis an die Küste hin, wo zuvor Venezien bzw. Österreich–Ungarn und das Osmanische Reich dominierten. 1918 flüchtete Nikola I. ins Pariser Exil, wo seine montenegrinische Dynastie bis heute lebt. Nach dem Ersten Weltkrieg ging Montenegro eher unfreiwillig im SHS-Staat (später: Königreich Jugoslawien) auf und verschwand bis 2006 als eigenständiger Staat.
6 Milovan Djilas: Land ohne Recht, Köln 1958, S. 132.
7 Vgl. Bartsch: Djilas, a. a. O., S. 49.
8 In seiner Autobiographie Montenegro. Eine Familiensaga im Jahrhundert der Konflikte, Frankfurt/Main 2000, S. 126–334.
9 Milovan Djilas: Der junge Revolutionär. Memoiren 1929–1941. Wien–München–Zürich 1976; Der Krieg der Partisanen. Memoiren 1941–1945, München 1978; Jahre der Macht. Im jugoslawischen Kräftespiel. Memoiren 1945–1966, München 1992; Ideen sprengen Mauern. Meine Jahre zwischen Folter und Freiheit, München 1984. Djilas, der wegen seiner unnachgiebigen Ideentreue ein halbes dutzendmal im Gefängnis saß, schrieb im letztgenannten Buch ein politisch zeitloses Diktum nieder: „Das Verbieten von Ideen und die Verfolgung und Einsperrung von ideenbezogenen Gegnern ist aber nicht nur das getreueste Abbild der staatlichen Ordnung […], sondern zugleich auch deren Verhängnis […]. Eine Gesellschaft, die Verbote von Ideen und Verfolgungen von Ideenkämpfern duldet und sich damit abfindet – eine solche Gesellschaft ist versklavt, und sie ist zum Untergang durch Fäulnis verurteilt.“ (S. 194)
10 Dorothea Razumovsky: Der erste Dissident. Milovan Djilas und das Schicksal Jugoslawiens, in: FAZ v. 15. 06. 1991, Nr. 136.
11 Milovan Djilas: Gespräche mit Stalin, Frankfurt/Main–Wien–Zürich 1963. Nach der Abkehr vom einstigen Leitstern Stalin resümierte Djilas: „Bei Stalin war jedes Verbrechen möglich, denn es gibt kein einziges, das er nicht begangen hätte.“ (S. 227)
12 Vgl. ebd., S. 105–112.
13 Bartsch: Djilas, a. a. O., S. 209.
14 Djilas: Land ohne Recht, a. a. O., S. 135.
15 Milovan Djilas: Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, Wien–München 1976. Djilas kritisiert hier zwar das kommunistische Regime aus idealistisch-sozialistischer Überzeugung heraus, läßt es an Schärfe in der Abrechnung mit seinen vormals revolutionären Weggefährten jedoch nicht fehlen: „Für frühere Revolutionäre bedeutete der Terror nur ein notwendiges Übel und ein Mittel zum Zweck. Die Kommunisten haben den Terror zu einem Kult und zu einem höchsten Ziel erhoben.“ (S. 30)
16 Vgl. u. a. Milovan Djilas: Über die heutige Ideologisierung, in: ders.: Idee und System. Politische Essays, Wien–München–Zürich–NY 1982, S. 53–56.
17 Milovan Djilas: Die unvollkommene Gesellschaft. Jenseits der „Neuen Klasse“, Wien–München–Zürich 1969, S. 24.
18 Dieser Auffassung zeigte sich auch der Djilas persönlich bekannte Exil-Kroate Mladen Schwartz in einer frühen subjektiven Skizze des Renegaten: Milovan Djilas. Autorenportrait, in: Criticón, Nr. 27, Jan.-Feb. 1975, S. 4–7, hier: 6.
19 Zur Biographie und Entwicklung Andrićs: Markus Josef Klein: Ivo Andrić, in: Criticón, Nr. 131, Mai–Juni 1992, S. 109–113. Dort auch eine umfassende internationale Bibliographie.
20 Unbedingte Leseempfehlung: Ivo Andrić: Die Brücke über die Drina. Eine Vischegrader Chronik, München 1987.
21 Erst in unseren Tagen lebt seit 2006 die montenegrinisch-orthodoxe Kirche als von der serbisch-orthodoxen Kirche unabhängige Kirche durch staatliche Förderung wieder auf. Sie wird jedoch von keiner anderen orthodoxen Landeskirche anerkannt und nur eine Minderheit der heute mehr als 600.000 Einwohner Montenegros zählen zu ihr. (Der Rest der Bevölkerung ist mehrheitlich serbisch-orthodox, aber auch der sunnitische Islam – an den Grenzen zum Kosovo und Albanien – und die katholische Kirche – in der Bucht von Kotor – sind vertreten.)
22 Reinbek 1960.
23 München 1965.
24 Wien 1983.

 
Neue Ordnung, ARES Verlag, A-8010 Graz, EMail: neue-ordnung@ares-verlag.com